Vier Kino-Märchen vom Mensch-Werden in der Nachmoderne
(Edward mit den Scherenhänden, Das Schweigen der Lämmer, Schrei in der Stille, Ein Engel an meiner Tafel)

Nichts ist mehr außer uns, kein Feind, keine Fremde. Die Welt ist der Kleinbürger ist die freie Marktwirtschaft ist das Fernsehen. Schrecksekunde: Was kann ICH dann noch sein? Und wie soll es werden?

Für den Augenblick reicht uns wieder einmal die grundsätzliche Feindschaft zwischen Gesellschaft und Mensch. Im Einzelnen ganz allein müßte also die Kraft liegen, das System zu bezwingen, Mensch zu werden. Das heißt unter anderem, die Einsamkeit zu akzeptieren, zu verstehen, wie die eigene Wahrnehmung nur eine Wirklichkeit von vielen ist. Der Mensch ist der Außenseiter; er wird sich immer wandeln und seine Metamorphosen (fast) ohne fremde Hilfe bewerkstelligen müssen. Für das Kino heißt das: Fort mit dem »psychologischen Realismus«, der zu wissen behauptet hat, wie alles hat kommen müssen, fort mit den verläßlichen Mythen des Genre-Films. Auch das Kino muß auf die Illusion der fremden Hilfe verzichten und will autonom werden. Es zeigt: Wahrnehmung ist der Kampf in der Welt der beschleunigten Bilder.

Vier einfache Geschichten: Ein verrückter Erfinder, der in einem Schloß über einer bonbonfarbenen amerikanischen Mustersiedlung voller bonbonfarbener Tageswitwen und Allerweltsteenagern residiert (und vom altehrwürdigen Horror-Darsteller Vincent Price gespielt wird), hat neben einer Keksausstechmaschine auch einen künstlichen Menschen geschaffen, den er Schritt für Schritt aus einer Arbeitsmaschine entwickelte. Noch hat dieses Geschöpf Scheren anstelle von Fingern, und just an dem Tag, als ihn der Zauberer mit echten Händen ausstatten will, stirbt er. Edward Scissorhands lebt nun allein im Schloß, bis ihn eines Tages die lokale Avon-Beraterin (genialer Einfall!) findet und in ihre Familie aufnimmt, nicht zuletzt, um ihre kosmetische Kunst an seinen Narben und Wunden zu zelebrieren, die er sich mit seinen Scherenhänden beigebracht hat. Edward mit den Scherenhänden wird zur Sensation des Ortes, vor allem, nachdem er aus den Bäumen und Hecken der Siedlung grüne Kunstwerke, schöner und vor allem imposanter als alle Gartenzwerge und Vogeltränken, schneidet, Hunde und schließlich die Haare der Frauen aufs feinsinnigste bearbeitet. Das Verhängnis naht, als er die sexuellen Avancen einer Frau zurückweist und umgekehrt vom Freund des Mädchens in der Familie für einen Einbruch im Haus des eigenen Vaters mißbraucht wird. Die Integration des »Monsters«, die fast schon erreicht schien, wird nun vehement verweigert: Edward mit den Scherenhänden wird gejagt, und er flieht vor der üblichen lynchwütigen Menge zurück auf sein Schloß. Wenn es schneit auf diese Siedlung, in der es natürlichen Schnee nicht geben kann (es gibt überhaupt nichts Natürliches in dieser Siedlung), dann kommt das von Edward, der mit seinen Scherenhänden Skulpturen aus Eis schneidet, und die Späne fliegen über die Häuser, auch über das, in dem eine alte Frau einem Kind, das nicht einschlafen kann, diese Geschichte erzählt.

Ein Frauenmörder geht um, der seinen Opfern in großen Streifen die Haut vom Körper zu schneiden pflegt. Die junge FBI-Schülerin Clarice Starling wird auf den in einem Gefängnis für Geisteskranke gehaltenen ehemaligen Psychiater Hannibal Lecter angesetzt, um ihm Informationen über den Serienmörder zu entlocken. Aber er, der selber als »Hannibal the Cannibal« in die Geschichte der Serienmorde einging, weil er die Innereien seiner Opfer fraß, holt erst einmal aus Clarice das Verborgene: Nach dem Tod ihrer Eltern kam sie auf die Farm von Verwandten. In der Nacht ist sie von furchtbaren Schreien geweckt worden, wie denen von Kindern, und sie hat die Lämmer gefunden, die zum Schlachten geführt wurden; sie hat sie befreien wollen, ist mit einem von ihnen geflohen, das ist trotzdem gestorben. Nun hört sie in ihren Träumen das Schreien der Lämmer und versucht es als Polizistin zum Schweigen zu bringen. Clarice wird selbst zum Opferlamm, das, von Lecter angeleitet, am Ende den Mörder aufspürt und die Frau befreit, die er sich als nächstes Opfer gefangen hat. Da tappt sie für einige Zeit ganz buchstäblich im Dunkeln, wird verfolgt von dem Mörder, der sie durch eine Infrarotlichtbrille beobachtet. Sie erschießt ihn; zur gleichen Zeit entkommt Lecter, nachdem er einen seiner Wärter an den Gitterstäben gekreuzigt und ausgeweidet hat.

Am Ende der Welt, in Idaho in den fünfziger Jahren, wächst Seth Dove in einer Welt auf, die aus endlosen gelben Weizenfeldern und drin verfallenden Holzhäusern besteht. Sein Vater betreibt eine Tankstelle und verbringt den Tag damit, Vampir-Geschichten zu lesen, seiner verbitterten Frau aus dem Weg zu gehen und älter zu werden. Seth beobachtet und experimentiert. Er bläst einen Frosch auf, legt ihn auf den Weg, den die Nachbarin, die englische Witwe Dolphin Blue, nimmt. Dann zerschießt er die Kreatur mit seiner Schleuder; das Blut spritzt der Frau über Kleid und Gesicht. Zur Strafe muß Seth zu ihr gehen, sich entschuldigen. Sie schenkt ihm eine Walfang-Harpune; Seth flieht damit, als sie vor der Erinnerung an ihren Mann, der kurz nach der Hochzeit Selbstmord beging, die Fassung verliert. Aus den Geschichten seines Vaters erklärt sich Seth das Verhalten von Dolphin Blue eindeutig: Sie kann nur eine Vampirin sein. Eines Tages verschwindet Eben, und Seth findet seinen Leichnam im Wassertrog des väterlichen Hauses. Weil Luke Dove vor Jahren vom Sheriff bei einer homosexuellen Handlung überrascht worden war, hält man ihn für den Mörder. Er geht hinaus, übergießt sich mit Benzin und zündet sich an: welch ein Schauspiel.

Nach dem Tod seines Vaters kommt Seths Bruder Cameron zurück, und obwohl ihn Seth vor seinem Unheil bewahren will, verliebt er sich in Dolphin Blue, die Vampirin. Auch Kim wird ermordet auf dem Gelände der Doves aufgefunden. Seth hat die wirklichen Mörder gesehen, aber er schweigt. Als Cameron ankündigt, mit Dolphin fortzugehen, überläßt er sie wissentlich den Mördern. Verzweifelt wirft sich Cameron über die tote Frau, und Seth erwacht. Er läuft über die abgeernteten Weizenfelder, hebt seine Fäuste gegen den Himmel und schreit. Dieser Schrei will kein Ende nehmen.

Neuseeland in den dreißiger Jahren. In der engen Welt der Familie eines Bahnarbeiters wächst die pummelige, rotschöpfige Janet Frame als das »häßliche Entlein« auf, neben einem Bruder, dessen nächtliche epileptische Anfälle von den Eltern mit verzweifelt gewalttätigen Versuchen, ihn »zur Vernunft zu bringen«, beantwortet werden, und drei Schwestern. Myrtle ist der »Star« und wird von Janet bewundert; sie wird die Welt verzaubern und erobern. Myrtle ertrinkt, und niemand kann Janet helfen, mit diesem Tod fertig zu werden. Sie beginnt zu schreiben, und vielleicht ist diese tote Schwester ihr »Schreibengel«, der sie begleiten wird. In ihrer Studienzeit zieht sie sich immer mehr auf sich selbst zurück, flüchtet vor der Prüfung zur Lehrerin und wird schließlich, auf Betreiben eines jungen Dozenten, zu dem sie Zutrauen gefaßt hat, in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Acht furchtbare Jahre wird sie dort verbringen, nachdem man »Schizophrenie« diagnostiziert hat, und 200 Elektroschocks erdulden, von denen jeder wie eine Hinrichtung ist. Vor der endgültig persönlichkeitszerstörenden Gehirnoperation retten sie die Veröffentlichung ihres ersten Buches und ein Literaturpreis. Nach der Entlassung bietet ihr der Schriftsteller Frank Sargeson Unterkunft und Förderung. Ein weiteres Buch erscheint, und mit einem Stipendium reist Janet Frame nach Europa. Auf Ibiza erlebt sie ihre erste Liebesgeschichte mit einem amerikanischen Dozenten. Er verläßt sie, Janet ist schwanger, und nach einer schmerzhaften Fehlgeburt begibt sie sich freiwillig noch einmal in psychiatrische Behandlung. Sie erfährt, daß sie niemals unter Schizophrenie gelitten hat, und nachdem sie von der Furcht befreit ist, seelisch krank zu sein, kehrt sie nach Neuseeland zurück, ins jetzt leere elterliche Haus.

Vier Geschichten von Menschen, denen keine Hilfe zuteil wird, um mit sich und in der Gesellschaft zu leben. Ihr Blick auf die Welt entstammt dem, was Dolphin Blue, kurz bevor sie ermordet wird, böse »die Hölle der Unschuld« genannt hat. Die Welt hat ihre »ödipale« dramatische Struktur verloren; Vater und Mutter sind verschwindende Wesen, und trügerisch ist alles, was sich als Ersatz anbietet. Edward mit den Scherenhänden, der ganz buchstäblich nicht zu Ende geschaffen/geboren worden ist; Clarice Starling (in deren Namen es mehrfach leuchtet), die erst durch den bösen Vater, der sich so »kunstreich« entzieht, auf den Weg gebracht wird, die Stimmen der Schlachtlämmer in sich zum Schweigen zu bringen; Seth, der nur mit rudimentären, neurotischen Erklärungsmodellen der Welt versorgt wird; Janet Frame, die sich schreibend über das Blick-Verbot und die Isolation hinwegsetzt: Es sind Kino-Wesen, die sich zu Ende gebären und die sich, was sie sehen, selbst erklären müssen.

Das ist die dünne psychologische Haut (fort damit!) für sehr verschiedene Versuche über das Sehen und das Gesehen-Werden, was unsere mythische Vorstellung vom Verstehen und Verstanden-Werden ersetzen wird. Weil das Kino nicht mehr auf die hierarchische Wahrnehmung von »Wirklichkeit« (innen und außen), Mythos und Traum angewiesen ist, werden elementare Formen von Aktion und Wahrnehmung wichtiger als die zusammengesetzten; der Tod, die Sexualität, der Verfall, die Zeit sind bedeutender als die daraus zusammengesetzten Mythen wie Liebe, Schicksal, Glaube oder Geschichte. Die Gesellschaft, die kein Außer-sich mehr kennt, hat auch kein In-sich mehr; so muß das Ich, das seine eigene Utopie wird, die ganze Welt, die Gesellschaft nämlich, die alle Natur gefressen hat, zum Feind erklären.

Die romantische Version, bei »Edward mit den Scherenhänden« zum Beispiel, sagt: Die Gesellschaft »erklärt« diesen Krieg, und ihre Mitglieder leiden selbst daran, daß der Außenseiter kein Erlöser mehr sein kann (höchstens poetisch schneien lassen kann er es noch); die harte Version, zum Beispiel bei »Schrei in der Stille«, sagt: Wenn das Ich sich erkennt, hat es schon alle Sünden begangen. Die weibliche Version träumt: Ich-Werden ist ein Sieg über die Gesellschaft; die männliche Version träumt: Ich-Werden ist die einzig akzeptable Form der Niederlage. Wir verlassen Janet Frame und Clarice Starling, als sie ein Bild von sich der Öffentlichkeit überlassen, Edward Scissorhands und Seth Dove verlassen wir, als sie ganz und gar allein sind.

DIE ENGEL. Je weniger wir von den Göttern zu erwarten haben (und diese von uns), desto bedeutender werden die Engel, die aus den Gestorbenen geschaffen werden. Seth Dove findet einen wächsernen Embryo in einem riesigen Ei; es ist der Engel des ermordeten Eben, mit dem Seth Zwiesprache hält. Edward mit den Scherenhänden schneidet die unerreichbar in den Niederungen der Vorstädte versunkene Geliebte als Engel in das Eis. Janet Frame hat einen Schreibengel, die ertrunkene Schwester, bei sich. Hannibal the Cannibal hinterläßt an seinen Gefängnisgittern einen schrecklichen, ausgeweideten Engel.

DER BLICK. Seth Dove schlägt seine Hände vors Gesicht, als sein Vater vor ihm in Flammen aufgeht. Aber dann öffnet er die Finger doch, sieht durch die Sperre, findet Gefallen an dem Schauspiel, öffnet ganz und weit die Augen, bläst dann noch in die Funken, damit das Schauspiel fortdauert. Janet Frame sieht vom Zugabteil aus auf die Station Seacliff. Das ist, weiß sie, der Ort, wo man die Irren hält. Die Mutter hält ihr die Hände vor die Augen: Auch diese Begrenzung des Blickes reicht nicht aus: Janet sieht, was es heißt, »irre« zu sein: keine Kontrolle über den Körper zu haben. Daß sie die Welt nun sieht, wie um Beweise zu finden dafür, daß sie ihren Körper nicht kontrollieren kann, läßt die Neugier immer mehr in die Verletzung, den Blick, der forscht, in den Blick, der Schutz sucht, verwandeln. Clarice Starlings/Jodie Fosters Blick ist das »Thema« von »Das Schweigen der Lämmer«: Wir, die sadistischen, nachmodernen Zuschauer, forschen in ihrem Blick, was zu sehen ist (und wir sehen: eine Anthologie des Gefangenseins): Wie bei Janet Frame sind wir auch bei ihr sehr lange nahe an diesem Blick dran, bis wir uns entfernen (in dem Augenblick, wo sie im Dunkeln vom Mörder bedroht wird und ihn/uns erschießen muß: Clarice Starling hat wirklich den Zuschauer erschossen, der wie der Mörder in eine fremde Haut schlüpfen will). Edward mit den Scherenhänden sieht die Welt (und wir mit ihm) wie einen Medientraum: Natur kommt nicht vor, und mit der besondersten Perfidie wird gerade diese Bestie der Menschwerdung dazu mißbraucht, die Reste der »wilden« Natur zu zerstören. Edward kann beim besten Willen seine Vergangenheit als Arbeitsmaschine nicht gänzlich überwinden. Er versucht es mit der Produktion von Schönheit und wird dabei vollends absurd. Johnny Depps Blick ist ein morbide naiver Punk-Blick, voller Begeisterung für das Einzelne, das Synthetische; sein Irrtum: Es ist vieles möglich, aber nur weniges erlaubt.

Janet Frame kommt am Anfang, als dickes, trotziges Mädchen in zu fester Kleidung und zu klobigem Schuhwerk, einen langen Weg aus den grünen Hügeln zu uns. Dann bleibt sie stehen, blickt in die Kamera, sieht, daß sie gesehen wird, und läuft diesen langen Weg davon. Der Film, der dann doch entsteht, ist die durchaus nicht gewaltfreie Mißachtung dieser Entscheidung. In Ridleys »Reflecting Skin« haben Seths aufgerissene Augen, ein tiefes Braun gegen das Gelb der Weizenfelder und das Blau des Himmels, Wahrnehmung und Spiegel, die Funktion einer absurden Grenze zwischen dem Innen und dem Außen: Wie Edward mit den Scherenhänden, die junge Janet Frame und die Clarice Starling am Beginn ihres Daseins als Opferlamm guckt und guckt er, ohne daß es etwas nutzt. Früher hat man schief und schräg geschaut, um der Kamera (der Öffentlichkeit) zu trotzen, wie Richard Widmark oder Katharine Hepburn; später haben die Augen sich zu Schlitzen geschlossen wie bei Clint Eastwood und geflattert wie bei Madonna. Jetzt ist es dieser große und direkte Blick, direkt aus der Hölle der Unschuld; verschämt dürfen wir nicht sein für diese Filme, die nicht so sehr die Gewalt als das Sehen der Gewalt zum Motiv machen.

SCHÖNHEIT. »Mein Gott, ist das häßlich hier«, sagt Cameron, als er nach Hause zurückgekommen ist; wir sehen nur die archaische Schönheit der Weizenfelder und Inselhäuser. Und seine Mutter hat von der Schönheit der Inseln geschwärmt, auf denen Cameron war. Aber da war Krieg, und diese Inseln können schön gewesen sein, aber vor allem müssen sie mit Leichen übersät sein. Edward mit den Scherenhänden ist nach Schönheit süchtig, die ganz seinen eigenen Defiziten entspricht; er hält die Avon-Welt für die Wirklichkeit. Die Männer, denen Clarice Starling gegenübersteht, sind reine Ästheten; sie haben nichts als Kunstwerke im Sinn; Vampir oder Chamäleon (alle diese Filme über Gewalt und Blicke sind auch Filme über das Filme- und Bildermachen).

Die neue Schönheit kann nicht ohne Schrecken sein; die bis zum Ende todernste Jodie Foster in »Silence of the Lambs« macht all das, was vordem die Männer machten, das Eindringen mit der phallischen Waffe in die dunklen, blutigen Räume, das Sortieren der Wahrnehmung, die Konsequenz der Investigation, und sie tut es doch, wie Jamie Lee Curtis vordem in Kathryn Bigelows »Blue Steel«, ganz und gar als Frau. Das will sagen, daß sie deswegen nicht aufhören muß, eigene Identität zu erkämpfen, während die Männer, die gefährlichen Künstler wie die dummen Karrieristen, sie beständig verlieren. Wir wissen auch von Janet Frame von Anbeginn, wie schön sie ist, und wie schön durch sie die Welt. Aber Schönheit existiert nicht, sie geschieht; Gott existiert und ist deswegen uninteressant, die Engel geschehen; das Bild existiert und ist deshalb uninteressant, der Blick aber geschieht. Edward mit den Scherenhänden schaut aus der Hölle der Unschuld heraus, wie jemand, der alles zum erstenmal sieht, und muß es gleich bearbeiten. Ja, das ist ein Wesen aus dem Märchen.

Der eigene Körper ist so unvollkommen; er blutet, stärker als die Lumpen, die man sich um die Scheide binden soll; ein sanfter Augenblick nur trennt ihn vom Tod; er fügt sich selber und anderen Schmerzen zu, unbeabsichtigt; er ist das Ziel der Attacke. Ganz elementare Angriffe finden auf ihn statt; Seth wird mit Wasser abgefüllt, wo er nicht gleich schlafen kann »Werd‘ endlich erwachsen und schlaf!« sagt die Mutter), so wie der Vater sich gleich darauf mit Benzin abfüllt; Janet attackiert sich mit Süßigkeiten, die ihre Zähne zerstören; Edward greift sich immer wieder mit den Scherenhänden ins Gesicht, Clarice Starling hat einen blutigen Fleck im Auge. Aber noch stärker ist die Erfahrung des Verfalls draußen. Seth sieht nur Menschen, die in sich zusammenfallen, historisch, oder dramatisch wie Sheriff Ticker, dem Hunde, Bienen und Schweine Teile seines Körpers genommen haben. Dolphin Blue sagt, jeden Morgen, wenn sie aufsteht, bleibe ein Teil ihres Körpers im Bett zurück. Hannibal Lecter wird mit immer neuen Masken versehen. Janet Frame, am Ende, hat gelernt, wie man sich fotografieren läßt (so, als wäre man mit den Hügeln und Wiesen wirklich zu neuer Harmonie gelangt: als habe man die Natur dann doch besiegt); sie schreibt Schönheit; Edward schneidet Schönheit, Clarice wird auf nicht weniger synthetische Weise schön, indem sie das Erdfarbene aller ihrer Erfahrungen akzeptiert, so wie Edward die bonbonfarbene Welt akzeptiert hat. Die Schönheit ist ein Zerfallsprodukt, das den Zerfall nicht aufhält.

Höhepunkt und Umkehr der Kinogeschichte: Wir sehen nicht mehr Menschen zu, wir sehen Menschen beim Sehen zu. Und wir beobachten, wie ambivalent das Verhältnis von Intimität und Öffentlichkeit ist. Janet Frame erlebt ihre Passion an der Gemeinschaft, an der Kommunikation und ihre Erlösung in der Öffentlichkeit, die über die sinnliche Erfahrung hinausgeht. Clarice Starling wird aus der Konfrontation in die Organisation entlassen; Edward mit den Scherenhänden (der verkleidetste und depressivste aller dieser Helden der Nachmoderne) ist überhaupt nur für die Zeit gesellschaftlich lebensfähig, in der er öffentliche Reputation genießt.

»Barbarische Schönheit«, das verlangt Ridley von seinem Film, und barbarische Schönheit ist auch Ziel, Metamorphose immerhin, der anderen. Wir sehen erst Janet Frame blicken, neugierig, höllisch unschuldig, dann sehen wir die Blicke auf sie: die kalten Blicke der Ärzte, die sie als Objekt der Ausgrenzung sehen, die Blicke des spießig-wahnsinnigen Mannes, der sie sich als Objekt für eine spießig-wahnsinnige Ehefrau erkürt, den Blick der spanischen Frauen, die sie dem amerikanischen Teufel verfallen sehen, dessen Blick, liebhaberisch, auf die nackte Janet, die im Meer badet. Und am Ende hat Janet gelernt, beides zu praktizieren und zu verbergen, zu blicken und angeblickt zu werden.

MYTHOS. Es ist ganz einfach, auch nachmodern (nach-aufklärerisch auch: aus einer selbstverschuldeten/selbst inszenierten Unmündigkeit ist kein Mensch zu führen) funktioniert das dreiaktige Drama: die Isolation/Entfremdung/Sünde, auf die die Passion, das Opfer, die symbolische Tat folgt, führt zu Erlösung, Befreiung, Tod und Metamorphose. Etwas anderes könnten wir gar nicht verstehen. Aber die Hierarchie beginnt zu schwinden, während die Bilder an Autonomie gewinnen. Das Kino, lernen wir, ist die Kunst des Verschwindens, des Nicht-Bildgewordenen. Hitchcock zeigt einen Mord, ganz ohne einen Mord zu zeigen; Kubrik macht mit einem Schnitt die semiotische Komplizenschaft von Vergangenheit und Gegenwart deutlich. Das Jetzt ist die Zeit, die im Kino nicht vorkommt. Wir gehen auch deshalb ins Kino, weil es jetzt nichts anderes gibt (beim Fernsehen ist das anders: beim Fernsehen können wir uns lieben, langweilen, umbringen). Aber diese Absenz bezeichnet ein klassisches Kino, das nicht mehr existiert. Das nachmoderne Kino entdeckt, neben Barbarei und Mythos, den Augenblick, entfernt vom Roman und Theater, näher an der Malerei. Nichts anderes als Märchen kann dieses Kino der Metamorphosen erzählen, gewiß, und es überfällt uns doch, ganz neu, mit einer Behauptung, die sagt: »Jetzt.« Die wahnwitzige Frauenwelt von »Edward mit den Scherenhänden«, die Glasblicke zwischen Clarice Starling und Hannibal the Cannibal, Dolphin Blues vergeblicher Aufbruch, Janets Wachsen in den eigenen Körper – das kann der Film zeigen mit einem neuen Gestus. Er sagt: Jetzt (es ist das Bild, das entstanden ist und im Augenblick sich nicht kümmert um die Moral und das Abgebildete), und er enthebt sich damit der Vergleiche und Hierarchien. Auf Greenaway, Lynch und Almodóvar folgt ein postmodernes Gebrauchskino, besser noch, neues Sehen.

Janet Frame, eine wundervolle Schriftstellerin, ist sehr viel präziser, unnachsichtiger als die literarische Erfindung, um die es im Film geht. Sie beschreibt, zufällig vielleicht, nicht so sehr ihren Film, als eine mögliche neue Art von Kino: »In my childhood I had displayed number riddles, memorizing long passages of verse and prose, mathematical answers; now, to suit the occasion, I wore my schizophrenic fancy dress.« Wie gefährlich das ist, zeigt der Film, zeigt das Kino der Gegenwärtigkeit. Distanz und Nähe, Raum und Zeit, das sind Lebensmittel unter gesellschaftlicher Kontrolle.

Womit wir wieder dort wären, wo alles aufzuhören begann, beim Kino, das gegen das Verschwinden arbeitet, statt es zu zelebrieren. Es kann, ganz unterschiedlich, neue Fragen stellen, das Augenblickliche und Elementare betreffend, aus der Hölle der Unschuld heraus (weil auch alles verschwunden ist, was sinnvoll dem Kino hätte vorschreiben können, wohin es sich zu entwickeln hat). Aber das ist nur so eine Idee. Als gäbe es keine Filmindustrie.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in Konkret 06/1991