Über reale und imaginäre Räume

 

Man kann nicht über Szenografie zu sprechen, ohne auch immer anderes  im Blick zu haben: die Kamera und den Schnitt. Wer über Raum im Film spricht, spricht über Kameraeinstellungen und  Montage. Szenografie schafft die Räume, in denen die Figuren eines Films sich bewegen, aber welche Ausschnitte die Kamera von diesen Räumen zeigt und wie sehr der Schnitt wieder den Anschein ihrer Dreidimensionalität rekonstruiert, hängt vom Willen des Regisseurs ab. Er hat die letzte Entscheidung darüber, wie konkret oder abstrakt, naturalistisch oder synthetisch die Räume seines Films sind. Das eine Extrem ist es, den Filmraum durch eine Fülle von Bildausschnitten so zu zerstückeln, dass er als Raum der Inszenierung gar nicht mehr erfahrbar wird. Dann gibt es nur noch den diegetischen Raum, den die Montage herstellt. Das andere Extrem ist der fast theaterhafte Raum, vor dem  die Kamera wie vor der Rampe stehen bleibt  und dem sie sich nur mit äußerster Behutsamkeit und einem lediglich registrierenden Blick nähert. Sequenzen haben dann etwas Szenenhaftes. Die beherrschende Einstellung ist das Travelling parallel zum Inszenierungsraum.  Die Zeit vergeht in den Bildern selbst nicht durch den Rhythmus des Schnitts. Im Film tendiert dieser theaterhafte Raum immer zum Pathetischen, auch wenn das Pathos kalt bleibt.

Szenenfoto "Offret" (Schweden, Frankreich 1985)

Es kann kein Zweifel daran bestehen, zu welcher Schule Tarkowskij sich zählt. Seine Reflexionen über Film in seinem Buch „Die versiegelte Zeit“ sind eine Philippika gegen das Montagekonzept von Eisenstein, das in der sowjetischen Filmgeschichte kanonisiert war. In allen Filmen Tarkowskijs ist die Kamera der Beobachter eines Raums. Menschen, oft zu stilisierten Gruppen zusammengefasst, werden in die Raumtiefe inszeniert und bewegen sich so, dass es die Anmutung einer Zeitlupe hat. Einstellungen gerinnen immer wieder zum Tableau. In Offret wird sogar die Landschaft als Tableau gezeigt. In der ersten Einstellung sehen wir eine Schienenfahrt vor dem Haus, mit der die Kamera das Zusammentreffen Alexanders mit dem Briefträger Otto begleitet. Der Ausschnitt bleibt über das ganze extrem lange Travelling fast gleich, die Kamera ist bewegt, aber das Bild der Einstellung ist still gestellt.

Tarkowskij hat viel über Zeit gesprochen, kaum über Raum. Er spricht immer wieder über die spirituellen Kräfte, die er in seinen Filmen sichtbar machen will und die für ihn mit Zeit in Verbindung stehen. Zeit ist ebenso unsichtbar wie Spritualität. Raum ist immer unangenehm konkret. Es ist deshalb um so erstaunlicher, dass für Tarkowskij aber gerade der Raum, und oft besonders der leere, zum Träger der spirituellen Kräfte wird. Man könnte ihn mit Recht den Meister des Raums nennen. Kein anderer Filmemacher hat es so sehr verstanden, reale Räume durch wechselndes Licht, Wasser und Spiegelungen zu imaginären werden zu lassen wie er. Das Besondere ist, dass der Raum in seiner immer begrenzten Konkretheit erhalten bleibt, sich aber gleichzeitig durch die Inszenierung auflöst ins Imaginäre, als ob sich über den ersten registrierenden Blick auf die Materie ein zweiter legen würde, der die Materie transzendiert. Das ist ein ähnliches Paradoxon wie das von der bewegten Kamera, die einen immer gleichen Bildausschnitt zeigt. Einen ähnlichen Übertritt vom Realen ins Imaginäre praktiziert er auch, wenn er Vorstellungen und Träume durch Spiegel und Wasser und die Staffelung verschiedener Ebenen visualisiert. Oft geht er dabei vom dreidimensionalen Raum zur zweidimensionalen Nahaufsicht oder umgekehrt. So entstehen aus abstrakten Bildern, in denen die angeordneten Gegenstände die Qualität von Zeichen bekommen, dreidimensionale Räume und diese Räume verengen sich wieder zu zweidimensionalen Tableaus. Oft ist das einzig Bewegte das Wasser, das wie ein Spiegel die Durchlässigkeit in eine andere Vorstellungswelt trägt. Dies sind die Räume des Spirituellen, die er schafft, ohne über sie zu reflektieren.

Szenenfoto "Serkalo" (UdSSR 1973)

Seit dem 1973 gedrehten, autobiografischen Film Serkalo wird ein großer Teil des Spirituellen ausgefüllt von Erinnerungen an die Kindheit. Und in deren Zentrum stand das Haus. In Serkalo gibt es eine bis in kleinste Detail hinein authentische Rekonstruktion von Tarkowskijs eigenem Kindheitshaus, das abgebrannt war, und des davor blühenden Buchweizenfeldes am ursprünglichen Ort. Tarkowskij beobachtete voller Begeisterung die Reaktion seiner Mutter: „Als wir dann meine Mutter dorthin brachten, die ihre Jugend an jenem Ort und in jenem Haus verbracht hatte, da übertraf ihre Reaktion in dem Moment, als sie es erblickte, meine kühnsten Erwartungen. Sie kehrte in ihre Vergangenheit zurück. Und da erkannte ich, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Das Haus weckte in ihr dieselben  Gefühle, die wir in unserem Film zum Ausdruck bringen wollten …“ (siehe Schlegel:…….). Der Rekonstruktionswille dieses Filmemachers richtet sich nicht nur auf das eigene Kindheitshaus, sondern auch auf das Begehren der Mutter. Frauen und Räume haben in der Geschichte in einer besonderen Beziehung gestanden. Im Satz: „Der Raum ist das weibliche Begehren“ ist davon noch etwas enthalten. Tarkowskij macht sich dieses Begehren vollkommen zu eigen. Von hier aus kann man noch einmal einen anderen Blick auf seine Filme werfen.

Tarkowskijs Erinnerung ist fetischistisch, was den Raum angeht und magisch in Bezug auf die Gegenstände. In der Kindheit sind die Gegenstände magisch, weil man ihre physischen Bewegungsgesetze nicht kennt: der Schrank, der sich von allein öffnet, die Gläser, die sich ohne Grund auf einem Tablett bewegen, die Kanne, die plötzlich fällt und die Milch dabei verschüttet. Man kann das, wie Tarkowskij es tut, eine Kunst der Materialität der Dinge nennen, von denen aus der Weg ins Geistige führt. Rekonstruktion gehört aber auch zu dem Prozess, in dem Traumata bewältigt werden. Das Haus wird zum Artefakt, der die Erinnerung in Gang setzt. Die Kamera betrachtet dies alles  mit dem Blick der Versenkung. Und so ist Raum für Tarkowskij immer schon da gewesen, deshalb muss er nicht darüber nachdenken. Es ist der Raum der erinnerten Kindheit, hier werden Zeit und Raum eines. Es ist ein eschatologischer Raum, beherrscht von Bilderinnerungen.

Auch in Offret steht ein Haus im Mittelpunkt und es sieht dem Kindheitshaus von Serkalo sehr ähnlich. Allein dadurch wird deutlich, auf welch verborgene Weise Offret an Serkalo anknüpft. Auch hier hat Tarkowskij absolut genaue Vorstellungen, wie alles bis ins letzte Detail  auszusehen habe. Anna Asp, die Szenografin von Offret, hat berichtet, man habe bei der Planung des Hauses um Zentimeter zwischen der Stuhllehne und dem Fensterbrett diskutiert. Und als alles dann fertig war, stellte man fest, dass die im Studio gebauten Räume viel zu groß waren für die Außenmaße des Hauses, die an den Maßen der Bäume, die man davor pflanzen wollte, orientiert waren. Anna Asp war erschrocken, sie hatte die realistischen Bedenken einer Szenografin, die es gewohnt ist, dass Film Wirklichkeit rekonstruieren muss. „Aber niemand hat uns auf dieses Missverhältnis  angesprochen.“ Es gibt neben dem zu kleinen Haus, in dem die Familie wohnt, auch eine Miniatur des Hauses. Alexander erhält sie als Geburtstagsgeschenk von seinem Sohn. Das große Haus und das kleine Haus sind ein Thema des Films, denn die Blicke von Erwachsenen und von Kindern haben unterschiedliche Beziehungen zu Größen. In den zu großen Räumen im zu kleinen Haus überlagern sich die  Blicke des Vaters mit den Blicken des Sohnes und denen des Kindes, das der Vater gewesen ist. Der szenische Realismus, ohne den kein Film auskommen kann und die Erzählhaltung des Autors, die von Erinnerung durchtränkt ist, gehen hier eine Verbindung ein. Der Fanatiker des unbedingten Künstlerischen, als der Tarkowskij sich selbst sah, muss nicht gegen diese Disproportion protestieren, weil sich in ihr unaufdringlich die Verschmelzung des Vaters mit dem Sohn zeigt.

Tarkowskijs Räume entstammen so sehr seinen Entscheidungen als Autor und Regisseur, seine Bilderfindungen sind so sehr mit der Wahrheit dessen verbunden, was er in seinen Filmen ausdrücken will, dass sie für keine Überlegungen eines Szenografen zur Disposition stehen. Das bringt die Szenografin in eine ungemütliche Situation, denn sie ist nur sehr beschränkt in der Lage, eine eigene Vision zu entwerfen. Sie kann lediglich die zum Teil äußerst konkreten Angaben des Regisseurs mit den Tricks of Trade möglichst gut umzusetzen: die Wände dunkler, weil sich die Gesichter dann besser abheben, die Möbel in die Mitte, damit die Kamera sich bewegen kann. Das sind wichtige Entscheidungen, die Anna Asp bei Bergman, mit dem sie vorher zusammengearbeitet hat, gelernt hat. Aber schon beim Farbkonzept, das sie immer für alle Figuren, die Möbel und Dekorationen entwirft, wird es schwierig.  Es gibt ein Video über die Arbeit an Offret. Man kann da sehen, dass Tarkowskij die Farben allein bestimmt, denn Rot ist keine Farbe, die er für seine Erinnerung in sepia, weiß und schwarz-weiß gebrauchen kann. Je genauer der Autor als Autorenfilmer seine Vision durchsetzen möchte, desto abhängiger ist die Szenografin, denn es gibt kein vom Autor unabhängiges Maß, was richtig und was falsch ist.

Serkalo erzählt Tarkowskijs Kindheit mit der Mutter, der Film beginnt mit dem ewigen Warten auf den Vater, der nicht kommt. Offret erzählt  eine Beziehung eines Vaters zu seinem Sohn. Serkalo erzählte die Rekonstruktion der Kindheit,  Offret erzählt vom Schrecken der Apokalypse. Trotzdem gibt es mehr als nur einen Motivstrang, der beide Filme in besonderer Weise miteinander verbindet. Im Zentrum ist immer das Haus. Es birgt die Erinnerung an den Anfang der Geburt und es ist der Schutz vor dem Ende im befürchteten atomaren Crash. Alexander, der alle retten will, gelobt, ein Opfer zu bringen. Er will auf alles verzichten, seine Familie, sein Haus, seinen Sohn, und immer stumm bleiben. Das Motiv der Sprachlosigkeit spielt eine große Rolle bei Tarkowskij. Die erste Szene von Serkalo zeigt einen Jugendlichen, der durch eine hypnotische Behandlung von seiner Sprachstörung geheilt wird und voller Glück sagt: „Ich kann sprechen.“ Und dann „spricht“ der Film die Erinnerung, in der die Geschichte des autobiographischen Ich rekonstruiert wird. Der Sohn in Offret ist namenlos, von ihm wird immer nur als „Jungchen“ gesprochen. Er ist noch nicht von einer Operation genesen und darf nicht sprechen und nicht lachen und die Drohung des atomaren Endes darf er verschlafen. Aber dann ist das Opfer gebracht worden, Alexander hat das Haus angezündet und ist in der Ambulanz abtransportiert worden, um nie mehr zurückzukommen. Sein Sohn liegt unter dem toten und kahlen Baum, den er wässern wird, bis er Blüten treibt und fragt mit dem Blick in den Himmel: „Am Anfang war das Wort. Warum ist das so, Papa?“ Der Vater ist stumm geworden, der Sohn kann jetzt sprechen. Wer der angesprochene Vater ist, der die Antwort geben soll, deutet Tarkowskij durch den Blick in den Himmel an. „Jungchen“, der Namenlose, der keine konkrete Individualität hat, muss keine Kindheit rekonstruieren, kein Trauma noch einmal durchleben, denn in der Ferne ist sehr klein das Vaterhaus, intakt, als ob es den Brand nie gegeben hätte. Es geht nicht mehr um die Rekonstruktion der eigenen Welt wie in Serkalo, sondern um den Ursprung der Welt, die uns allen gehört.

Offret ist ein Film über die männliche Genealogie aus weiblichen Verschmelzungswünschen. Der Film kann, wenn man will, als privater Todestraum gelesen werden, als persönlicher Abschied des Regisseurs, der damals schon krank war, als sein Vermächtnis gegenüber seinem Sohn, dem er diesen Film gewidmet hat. Aber es macht Tarkowskijs Kunst aus, dass seine Aussage nicht privatistisch bleibt. In dem schon erwähnten Video spricht Tarkowskij davon, dass Filmemachen und Leben für ihn immer ein und dasselbe war. Und Tarkowskijs Frau erzählt, dass er, kurz vor seinem Tod, noch mit der Fertigstellung von Offret beschäftigt, gesagt habe, er müsse anfangen, Film und Leben nicht mehr miteinander zu vermischen. „Es blieb ihm keine Zeit mehr.“

Copyright: Jutta Brückner 2004

Bild oben: Szenenfoto „Offret“ (Schweden, Frankreich 1985)