Anmerkungen zum Kino als Homemovie und Brian de Palmas Redacted

In seinem letzten Aufsatz „Warum ist nicht alles schon verschwunden?“ hat sich der französische Philosoph Jean Baudrillard des digitalen Bildes angenommen. Er konstatiert aufbauend auf Günther Anders These von der „Antiquiertheit des Menschen“ (1956) die Abwesenheit alles Realen aus dem digital reproduzierten oder gar digital erstellten Bild. „Hinter jedem Bild ist irgend etwas verschwunden – doch ebendies macht seine Faszination aus. Hinter der virtuellen Realität in all ihren (telematischen, informatischen, digitalen und so weiter) Formen ist das Reale verschwunden – doch ebendies fasziniert alle Welt. Der offiziellen Version folgend machen wir einen Kult um das Reale und das Realitätsprinzip – aber ist es wirklich das Reale, dem wir diesen Kult widmen, oder nicht vielmehr sein Verschwinden?“ (S. 21-22) Bereits Walter Benjamin stellte in seinem Aufsatz „Der Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ das Verschwinden der schauspielerischen „Aura“ in der Serialität der Bilder fest und Baudrillard selbst korrigierte seine Idee des Simulakrums im Bezug auf die Medien immer wieder auf eine nächste Stufe, bis er das Verschwinden der Realität in „Die fatalen Strategien“ (1985) bereits vermutete. Tatsächlich kann man sich fragen: Wo sind die Bezüge des Realen in einer am Reißbrett kreierbaren Welt, wie sie die virtual reality heute darstellt? Kann man filmisch reproduzierte vorfilmische Wirklichkeit noch erkennen, wenn sie nicht nur durch Perspektive, Kadrierung und durch Montage dieses Dokument manipulierbar ist, sondern ganz auf die vorfilmische Realität verzichten kann? Was ereignete sich in dem Schritt vom analogen zum digitalen Bild?

Beginnt die virtuelle Realität bereits mit den frühen Versuchen eines Internets in den 1970er Jahren, kann man den Einzug des digitalen Technik in den kommerziellen Spielfilm deutlich benennen: Francis Ford Coppola verkündete bereits 1979 die digitale Wende im Filmemachen und simulierte mit größtem technischem Aufwand den Schauplatz Las Vegas für sein Melodram One From the Heart (1982), um seine Thesen zu belegen. In einem ungewöhnlichen Prozess nahm er all jene Arbeitsschritte vorweg, die heute üblich sind. Walt Disneys Science-Fiction-Produktion Tron (1982) bezog sich im selben Jahr als erster auf die Abenteuer in einer virtuellen Welt und kombinierte Computergrafiken mit realen Filmaufnahmen. Es folgte der B-Film The Last Starfighter (1984) von Nick Castle, in dem die Raumfahrzeuge digital produziert wurden. Ansonsten wurde vor allem das Format des Musikvideoclips genutzt, um mit computergenerierten und -manipulierten Bildern zu experimentieren, etwa in Form des Morphings, das bruchlose Transformationen verschiedener Körper ineinander bezeichnet.

Die grundlegende Digitalisierung des Kinos setzt jedoch erst in den 1990er Jahren mit der Digitalisierung des Filmsschnitts endgültig ein, nachdem computergenerierte Bilder bereits etabliert waren. Es folgte der digitale Ton und seit der Jahrtausendwende vollzieht sich die Digitalisierung als ein langsamer,  unmerklicher Prozess auch in jenen Bereichen der Filmherstellung, die man bis dahin fest in den traditioneller Verfahren verankert glaubte: der Aufnahme und Projektion von Kinofilmen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich speziell in Japan bereits seit Jahren ein explizites V-Cinema (Video-Kino) etabliert, dem die differenzierte Digitalisierung zu steigender Qualität und Popularität verhalf. Im westlichen Medienmarkt galt das allenfalls für günstig produzierte Pornofilme auf dem Heimmedienmarkt.

Auf diese Weise entstanden im DV-Format auch kostengünstig produzierte Spielfilme, die sich aufgrund des einfachen Handlings und der technischen Schwächen des gewählten Aufnahmeformats konventionellen Sehgewohnheiten versperrten. Bei Filmen wie etwa Das Fest (1998) von Tomas Vinterberg oder Der Felsen (2002) von Dominik Graf) mit ihren schnellen, rauen, naturalistischen Bildern zeigte sich schon früh, dass der digitale Film eine ernstzunehmende Alternative zur klassischen 35mm-Produktion darstellen konnte, und zwar vor allem, weil er sehr nah an der alltäglichen Seherfahrung großer Teile des Publikums blieb. Auch der Dokumentarfilm veränderte sich durch die Digitalisierung, da hier das dynamische Equipment, die Lichtempfindlichkeit der Aufzeichnungstechnik und die Alltagsnähe der Bilder eine eigene Qualität behaupten konnten.


Neue Sehgewohnheiten

Die Einführung von High-Definition-Videoformaten in den letzten Jahren gilt als ein weiterer wesentlicher Schritt in Richtung eines vollständig digitalisierten Produktionsprozesses. Zugleich kann man von einer digitalen Wende auch in den Sehgewohnheiten des Publikums sprechen. Die vermehrte Nutzung digitaler Medien wie Computerspiele und Internet schuf nicht nur neue Marketingmöglichkeiten für die Filmvermarktung, sondern auch eine Gewöhnung an die reduzierte Bild- und Tonqualität der audiovisuellen Angebote im Netz. Auf Nutzorientierten Plattformen wie Youtube.com oder Myspace-TV lassen sich in allen Sprachen Fernsehsendungen, Videoclips, Ausschnitte aus Filmen Trailer und natürlich unzählige Privataufnahmen abrufen – das allerdings in meist minimaler Auflösung und mit blechernem Ton. Diese reduzierte Qualität erscheint jedoch nicht nur akzeptable, sondern garantiert zudem Restbestände des Realen, denn zahlreiche Angebote kann man als primitive Form der filmischen Dokumentation begreifen, deren Qualität als Zeugnis vorfilmischer Realität kaum diskutiert wird. Gerade im Internet scheinen also jene Restbestände des Realen zu stecken, in jenen digitalen Bildern, die Jean Baudrillard davon gänzlich entleert glaubte. Und somit ist es auch nicht mehr der ästhetische Kunstgriff des Entsättigung der Farbigkeit oder der wild bewegten Kamera, der zum Signum des Realen innerhalb einer Inszenierung wurde, sondern diese reduzierte Bildqualität, die Grobkörnigkeit überstrahlter und von Treppebildung durchzogener Digitalvideobilder selbst, derer man sich bedient, um als Filmemacher zum ‚embedded filmmaker’ zu werden.


Embedded Filmmaking

Für ein großes Publikum ist der Amerikaner Brian de Palma ein kommerziell orientierter Stilist, der Schöpfer von Scarface (1983), The Untouchables (1987) und Mission: Impossible (1996), vor allem aber: ein Hitchcock-Epigone mit Dressed to Kill (1980) und Body Double (1984). Wenige erinnern sich an seine Anfänge im New Yorker Undergroundfilm, als er inspiriert von Jean-Luc Godard mit dem Medium experimentierte und zahlreiche avantgardistische Kurzfilme sowie zwei Spielfilme schuf (Greetings, 1968, und Hi Mom, 1969). Auch ist de Palma ein politisch motivierter Filmemacher, der in den USA bereits mit seinem kritischen Vietnamdrama Casualties of War (1989) in Ungnade fiel. So betrachtet ist es wenig erstaunlich, dass im Jahr 2007 ein Film angekündigt wurde, in dem sich Brian de Palma mit dem noch aktuellen Irak-Feldzug des Busch-Regierung auseinandersetzen wollte. Interessant wurde dieses Unterfang zudem, da es sich dabei um eine europäisch Produktion handeln sollte, die mit jenen Mitteln arbeitete, über die sich das vielschichtige Bild diese Krieges verbreitete: mit Videomaterial, Internetvideos, PC-Kameras usw. Sein Film über die Zensur der Medien sollte mit gleichen Miteln zurückschlagen. Dafür wurde de Palma mit dem Silberner Löwe in Venedig 2007 geehrt.

Der Titel des Films Redacted bezieht sich auf den in den USA selbstverständlichen Vorgang der redaktionellen Zensur von Nachrichten. Gezeigt wird nur das Gewünschte, alles andere wird ‚geschwärzt’ wie in einer geheimen Akte – bezeichnenderweise simuliert der Film dies in der ersten Sequenz mit den Mitteln der Computergrafik. Aus den wenigen verbleibenden Buchstaben entsteht der Titel. Was hier bereits suggeriert wird, ist letztlich das Programm der Inszenierung selbst. Die Selbstzensur der Medien lässt etwas Neues entstehen, dass sich nur noch rudimentär auf Realität bezieht. Folglich – so de Palmas Methode – kann man auch umgekehrt vorgehen, und Realität mit reiner Inszenierung erzeugen.

Der Film zeigt einige Soldaten der im Irakkrieg eingesetzten Alpha Company. Angel Salazar filmt seine Kameraden mit einer Digitalkamera, unter ihnen Lawyer McCoy, Reno Flake, B.B. Rush und den Befehlshaber James Sweet. Sie sollen eine Checkpoint in Samarrah bewachen, dort Passanten und Fahrzeuge zu durchsuchen. Bei einer eher willkürlichen Hausdurchsuchung nach einem Sprengstoffanschlag nehmen die Soldaten einen Familienvater in Gewahrsam. Später kehren sie zu dem Haus zurück, um die 15-jährige Tochter des Mannes zu vergewaltigen. Salazar schließt sich an, um die Tat, die er nicht verhindern kann, wenigsten zu filmen. Während Rush das Mädchen drangsaliert, erschießt Flake die Mutter, die Schwester und den Großvater. Nach der Vergewaltigung töten sie das Mädchen und setzen das Haus in Brand. Wenig später wird Salazar von der Hamas verschleppt und vor laufender Kamera als Rache für die Tat enthauptet. McCoy verzweifelt an der Unfähigkeit, die Tat verhindert zu haben, und zeigt seine Kameraden an, woraufhin Flake und Rush verhört werden. Der Film endet damit, dass McCoy nach der Rückkehr in die Heimat in einer Bar als Held gefeiert wird.

De Palma vermittelt dieses Geschehen in einer effektiv kalkulierten Collage auf verschiedenen medialen Ebenen, u.a.:

  1. Salazars Digitalkamera
  2. der Dokumentarfilm eines französischen Fernsehteams
  3. die Überwachungskameras im Camp
  4. die Helmkamera mit Restlichtverstärker
  5. die Videoaufzeichnung der Verhöre
  6. die Bekennervideos der Hamas im Internet
  7. die Internetseite von Kriegsgegnern
  8. das Skype-Videogespräch zwischen McCoy und seinem Vater
  9. McCoys Homemovies bei seiner Rückkehr

Redacted reflektiert die Sehgewohnheiten des zeitgenössischen Medienrezipienten und die möglichen Darstellungsformate vorfilmischer Realität zugleich. Salazar betont zweimal, er zeichne die Realität auf und wolle mit seinem Videomaterial an einer Filmhochschule aufgenommen werden. Zugleich wird ihm bald klar, dass er genau das Material herstellt, welches danach ‚redacted’ wird – also der Zensur zum Opfer fallen wird. Zudem verzweifelt er selbst an der Mitschuld, die ihn als passiven Zeugen des Verbrechens an der irakischen Familie trifft. Als Gegenmodell etabliert de Palma das französische Filmteam, das zwar ebenfalls dem Geschehen beiwohnt, ohne es zu verhindern, aber die Journalistin stellt die wesentlichen Fragen: Wie will der Soldat erkennen, ob es sich bei Dokumenten, die er nicht lesen kann, um wertvolle Beweise handelt? Kann der festgenommene Mann unter der Fesselkaputze eigentlich atmen? Salazar dagegen hinterfragt wenig, er bezeugt nur – am Ende gar seine eigene Entführung.

Andererseits etabliert der Film mit der Dokumentarfilmebene auch die radikale filmische Überhöhung der Wirklichkeit, etwa mittels klassischer Musik und monochrom stilisierter Bilder, die von Langeweile und Überdruss der Soldaten künden. Eine erstaunliche Entdeckung bieten die letzten Standbilder des Films, die als authentische Fotos aus dem Irak bezeichnet werden: Hier sehen wir, dass die erschossene schwangere Frau an dem Checkpoint vom Beginn des Films dem realen Opfer zum Verwechseln gleicht. Inszenierung und Dokument verschwimmen abermals.

Was Brian de Palma mit seinem Film mehr noch als andere als digitale Heimvideos produzierte Filme wie The Blairwitch Project (2001), [rec] (2007), Cloverfield (2007) oder Diary of the Dead (2007) leistet, ist die theoretische Befragung jener Restbestände des Realen, die sich in diesem Material finden lassen – und die letztlich seine Wirkungskraft ausmachen.

Redacted kann als der momentan avancierteste Versuch eines narrativen Spielfilms gelten, der fortschreitenden Digitalisierung des Kinos Rechnung zu tragen. Und er nutzt diesen Versuch zugleich, um die verwendeten Medien und deren Qualität zu theoretisieren. Der Filmemacher wird dabei selbst zum ‚embedded filmmaker’ – im vollen Bewusstsein seiner Mitschuld an den gefilmten Vorgängen, versteht sich.

Autor: Marcus Stiglegger