Lulu – Die Nuttenrepublik (Felix Römer, Laura Tratnik, Foto: Heiko Schäfer)

Die Welt als Kissenschlacht
Regisseur Volker Lösch konfrontiert Wedekinds Drama „Lulu“ mit den Erfahrungen von Sexarbeiterinnen, die er in die Berliner Schaubühne holt. Hier sind höchstens die Freier nackt.

Daunenkissen, über tausend an der Zahl, an langen Schnüren aufgehängt wie eine Jalousie, bilden eine meterhohe lichtdurchlässige Mauer, die sich über die gesamte Bühnenbreite zieht. Sie erinnern an einen Wall aus Sandsäcken: Der Krieg im Bett. Folgerichtig staken aus den Zwischenräumen auch keine Gewehre, sondern nackte Frauenbeine richten sich auf die ZuschauerInnen.

Volker Lösch überträgt Frank Wedekinds „Lulu“ in die Jetztzeit und gibt seiner Inszenierung den Titel „Lulu – Die Nuttenrepublik“. Der berüchtigten Femme fatale des modernen Theaters gesellt er einen Chor hinzu, den er mit Berliner Sexarbeiterinnen bestückt hat.

„In Lulu“, so erklärt uns das Programmheft die Annäherung an den Klassiker, „macht Frank Wedekind die Probe aufs Exempel: Wer prostituiert sich nicht? Und: Wie viel Leben erträgt unsere bürgerliche Welt?“ Immerhin steht Lulu für eine junge, lebensfreudige Frau am Ende des 19. Jahrhunderts. Die mittellose Waise hat begriffen, dass ihr einziges Kapital die schmutzige Lust der bürgerlichen Männer ist.

Anstatt sich über die Bigotterie zu grämen, macht sie sie sich zunutze. Lulu genießt ihre Macht. Ohne groß nachzudenken, geht sie über die Leichen ihrer Ehemänner, sie hatte Spaß mit ihnen, aber Liebe kam nicht ins Spiel. Lulu will sich in der Bourgeoisie einen Platz erobern, ohne deren Regeln anzuerkennen. Voller Naivität beharrt sie darauf, sich selbst erfinden zu können – und zahlt den höchsten Preis dafür. Jack the Ripper wird ihr in London ihre Geschlechtsorgane herausschneiden.

Noch heute, so die Botschaft des Stücks von Volker Lösch, vertragen sich bürgerliche Sexpraxis und lebendige Leidenschaft schlecht. Weshalb viele Männer vor allem zwischen 40 und Mitte 50 Sexarbeiterinnen für ihre Libido in Dienst nehmen. Wer verkörpert die Verdrängung der Liebe durch den Narzissmus besser als die Hure? Im Bordell wird die SexpartnerIn als reales Gegenüber abgeschafft, es bleibt die Projektionsfläche. Die Sexarbeiterinnen empfinden es als schwach, dass ihre Freier es nicht verkraften, sie als Hure und als Frau sehen zu können. Um auf ihre Kosten zu kommen, müssen sie die Sexarbeiterinnen entmenschlichen – zumindest tun dies 80 Prozent der Freier.

Nach „Berlin Alexanderplatz“ verschränkt Volker Lösch erneut einen klassischen Theatertext mit Prosastücken aus dem, was man so Leben nennt. Schauspieler stehen gemeinsam mit Laien auf der Bühne, eine wohltemperierte Theatersprache prallt auf nüchterne Geschichten aus dem Rotlichtmilieu. „meine lieblingssachen sind / oder worauf ich so spezialisiert bin / so ne art vergewaltigungsfantasien / das hatte ich schon als kind / also ich hab das was ich jetzt mache halt ganz lang ohne geld gemacht.“

Es macht Spaß, den Sexarbeiterinnen zuzuhören und zuzusehen. Jede Geschichte ist anders, ihre Gesichter zeugen von Eigenwilligkeit, ihr nüchternes Vokabular ist erfahrungsgesättigt, man glaubt ihnen. Nur, warum interessiert sich der Regisseur so wenig für sie? Beständig setzt er auf den groben Witz, aufs Krachledernde. So entzieht er sich etwa der ernsthaften Beschäftigung mit den Motiven der Freier, indem er sie lächerlich macht: Die Frauen sind überlegen, die Männer blöd. Zur Strafe müssen sie ständig ihre blanken Hoden und Hintern dem Publikum zeigen.

Natürlich ist es politisch korrekt, den Kunden dem voyeuristischen Blick des bürgerlichen Publikums auszusetzen, während die Frauen angezogen bleiben. Aber das Tabu, dass der Grund für Prostitution nicht die gefallene Frau, sondern eine gesellschaftlich anerkannte Idee von männlicher Sexualität ist, bleibt unangekratzt.

Und auch den Sexarbeiterinnen räumt Lösch nicht wirklich Raum ein. Sie bleiben Hintergrund für den Klassiker von Wedekind. Keine der Sexarbeiterinnen darf je allein auf die Bühne; als Einzelperson die Stimme zu erheben, bleibt den professionellen SchauspielerInnen vorbehalten. Vielleicht ist diese Entscheidung zuförderst pragmatisch motiviert, vielleicht schaffen die ungeschulten Stimmbänder es nicht, eine große Theaterbühne zu füllen. Aber dann hätte man nach anderen Lösungen suchen müssen. Die Frauen immer nur gruppenweise auftreten und sprechen zu lassen, untergräbt einen zentralen Anspruch des Stückes: nämlich Huren eine Individualität zuzugestehen, das Recht auf Brüche in der Biografie, das Recht, auch als Sexarbeiterin an der bürgerlichen Welt teilhaben zu können. „und wenn in der biographie von frau merkel / und frau käßmann stehen könnte / dass sie mal 5 jahre angeschafft haben / und trotzdem hätten sie ihren job – das wäre der Anfang vom Ende der Nuttenrepublik“, heißt es im Abschlussmanifest programmatisch.

Und da, beim Epilog des Stücks, kommt Fremdschämen auf. Während die Kissenwand spektakulär in sich zusammenfällt, rufen die Sexarbeiterinnen ein Manifest ins Publikum. „Im Namen der Muschi-Partei: Steht auf für ein befriedigtes Europa, für eine befriedigte Welt!“ Ungelenk reckt sich die eine oder andere Faust in die Höhe. Das Publikum lässt sich mitreißen, es klatscht und trampelt. Wer will schon fehlen, wenn am Samstagabend in Berlin-Charlottenburg die sexuelle Befreiung und der Weltfrieden gefordert werden?


Text: Ines Kappert