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Am Eröffnungsabend Foto: © Kunsthalle Mannheim / Cem Yücetas

 

Buch aus farbigem Glas 

„Stell dir vor, du bist ein Asteroid und näherst dich einem Kunstwerk als einem anderen Asteroiden.“ Olafur Eliasson gibt Tipps für den Umgang mit Kunst, und zwar auf der kostenlosen App „Your Exhibition Guide“, die der Künstler eigentlich 2014 für eine Ausstellung in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen produziert hat. Sie passt aber genauso zu seinem Projekt „Your Trust“ in der Kunsthalle Mannheim, einer beeindruckenden kompakten Schau aus fünf Glas-Installationen, einer Skulptur und einigen Zeichnungen. In Kombination mit der App ergibt sie eine – heute mehr denn je – gefragte Gebrauchsanweisung für eine voraussetzungslose, persönliche Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst.

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Olafur Eliasson, Foto: Ari Magg, © 2013 Olafur Eliasson

In den Räumen der Sonderausstellung drängen sich die Besucher vor den Info-Tafeln, während sehr viel weniger vor den Gemälden von Mondrian, Cézanne und Picasso stehen. Man möchte nichts versäumen, etwas lernen. In der historischen Bibliothek hingegen ist man allein mit einem fremden Planeten, der auszustrahlen scheint auf die ledergebundenen Bände, die geordnet in den Regalen stehen und das versammelte Kunstwissen repräsentieren. Im Kern der von der Decke hängenden Skulptur Eliassons mit dem Namen „Navigation Star“ sind einige transparente, farbige Scheiben eingebaut. Sie vervielfachen die Blickwinkel und die Lichtreflektionen. Auf einem Ständer liegt ein riesiges Buch, dessen Seiten aus farbigem Glas sind, in das geometrische Formen geschnitten sind. Das Buchwissen und die Erfahrung mögen wieder zusammenwachsen, diese Botschaft drängt sich auf. Doch so einfach sie erscheint, so wenig greifbar scheint diese Kernkompetenz der Kunst heute zu sein.

Aufgeblättert wird der Foliant im Nebenraum. Fünf Kästen in Augenhöhe präsentieren Durchblicke durch pastellfarbene Glasscheiben, in die elipsenförmige Löcher eingeschnitten sind. Da die Kästen von zwei Seiten einsehbar sind, ist der Betrachter aufgefordert, umherzugehen, unterschiedliche Perspektiven zu erkunden. Die zarten Farben der einzelnen Elemente überlagern sich und erzeugen noch feiner abgestufte Töne. Auch die Zeichnungen an der Wand variieren das Thema, sie wirken in ihrer ähnlich matten Farbigkeit wie Filmstills der sich ständig durch das Licht und die Bewegung des Betrachters verändernden Installationen.

Wahrnehmung ist Prozess. „Zeit“ heißt denn auch die erste Übung, die Eliasson auf seiner universalen App anbietet. Er empfiehlt, sich zunächst zwei Minuten, dann vier und dann sechs Minuten auf ein Kunstwerk einzulassen. Später übt er mit seinen Zuhörern den Panorama-Blick und die Empathie, die Einfühlung in andere Besucher. Er geht bei seinen Anweisungen nicht auf konkrete Werke ein, es sind vielmehr allgemeine Aussagen, die für alle Kunst – und auch für das Leben – gelten können. Im Grunde handelt es sich Aufmerksamkeitsübungen im Gewand eines Multimedia-Guides. Mit der beruhigenden wie ermutigenden Stimme eines Gurus erklärt der Däne mit isländischen Wurzeln seinen auf schnelle Ergebnisse konditionierten Zeitgenossen die Funktion ihres Wahrnehmungsapparats und wie sie ihn wieder für sich nutzen können. „Take your time!“ Ab und zu kommt der Künstler, der aktuell einen ganzen Flügel des dänischen Louisana Museums in eine steinige Flusslandschaft verwandelt hat, auch wieder konkreter auf die Kunst zu sprechen.

So beschäftigt er sich mit dem Begriff der Abstraktion. Die sei eine Möglichkeit, wie wir die Welt berühren könnten. „Du gelangst in das Feld der Abstraktion, in dem Du die Menschen und Dinge nicht nur real, sondern auch aus einer anderen Perspektive wahrnimmst. Der Schritt von dem, was ist, zu dem was sein könnte, ist eng mit unseren Gefühlen und Träumen verbunden.“ Es gehe darum, das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung wieder zugewinnen, in die eigenen Empfindungen, die noch nicht ausgesprochen sind. Daraus könne eine für Fragen offene Multiperspektivität erwachsen, die grundlegend sei für die Kunst wie für das Leben.

Blick in die Ausstellung Foto-Kunsthalle Mannheim : Cem Yuecetas-680

Blick in die Ausstellung, Foto: © Kunsthalle Mannheim / Cem Yücetas

Eliasson hat mit seinem inzwischen 80-köpfigen Team bereits eine Fülle spektakulärer Kunstprojekte realisiert, in deren Fokus physikalische Phänomene standen. 2008 baute er im New Yorker East River vier künstliche Wasserfälle auf, 2004 ließ er in der Turbinenhalle der Londoner Tate Modern eine künstliche Sonne aufgehen. Und bereits 2001 hatte das ZKM einen gigantischen Parcours Eliassons zu optischen Phänomenen gezeigt, den der Künstler mit seinem bereits damals existierenden „Institut für Raumexperimente“ geplant hatte.

Das Kunstverständnis des in Berlin und Kopenhagen lebenden Künstlers ist so speziell wie grundlegend. In seiner letzten App-Lektion wirbt Eliasson für Vertrauen in das Ungewisse. Museen böten meist eine Fülle von Deutungen an, doch würden diese zwar eine schnelle Erklärung bringen, aber unsere Sinne abstumpfen lassen. Eine unvoreingenommene Betrachtung der Kunst nähre hingegen den produktiven Zweifel. Insofern könnte auch der „Navigation Star“ in der Mannheimer Ausstellung ein Bild für den idealen Betrachter sein, ein ausstrahlendes und empfangendes Gravitationszentrum.

Carmela Thiele

Text erschienen in den Badischen Neuesten Nachrichten (BNN), 14-01-2015

 

AUSSTELLUNG

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Screenshot website kunsthalle-mannheim.de