Aby Warburg ist inzwischen so populär geworden, dass man ganz vergisst, dass er Kunsthistoriker war, einfach jemand, der die Kunst der italienischen Renaissance erforschte. Er tat dies jedoch interdisziplinär, er zog die Sternenkunde wie Eheschließungsregister heran, betrieb als erster um 1900 Kulturwissenschaft. Heute sei er „zur mythischen Überfigur einer zur Bildwissenschaft entgrenzten Kunstgeschichte und einer globalen kulturellen Anthropologie“ geworden, grantelte Willibald Sauerländer anlässlich des 150. Geburtstags Warburgs in der Süddeutschen Zeitung. Erst Ende der 1970er Jahre war in Deutschland das Interesse an der vergessenen Gelehrtenfigur neu erwacht, und zwar nicht nur an den Universitäten.

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Aby Warburg mit Pueblo-Indianer, Arizona, 1896, ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, © Warburg Institute, London

Schon allein der Lebenslauf des Gelehrten machte neugierig. So setzte sich der junge Wissenschaftler Ende des 19. Jahrhunderts von einer New Yorker Hochzeitsgesellschaft ab, um in Mexiko die rituellen Tänze der Indianer zu studieren; den für seine Forschung zentralen Schlangentanz kannte jedoch nur von Fotografien. Zudem überstand er eine mehrjährige Psychose, die ihn nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges für mehrere Jahre fest im Griff hielt. Warburg verfügte nicht nur über immenses Wissen und einen wachen Geist, sondern auch über einen sechsten Sinn. Bei der Einweihung seiner Kulturwissenschaftlichen Bibliothek in Hamburg 1926 führte der Hausherr den Bürgermeister auf die Terrasse des Gebäudes hinaus und teilte ihm selbstironisch mit, hier würde er den Besuchern der Bibliothek zur Erfrischung Yoghurt ausschenken. Alte Frauen würden sich dann in nicht all zu langer Zeit an ihn erinnern, wenn die Stadt in Schutt und Asche liegen würde. Warburg, das sei doch der gewesen, der den Yoghurt ausgeschenkt habe. Diese Anekdote wie viele andere wurden während der kürzlich gesendeten, noch nachhörbaren Aby Warburg-Nacht im Deutschlandradio Kultur erzählt.

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Künstlertafel, Linda Fregni-Nagler. Foto: 8. Salon

Sein bedeutendstes Vermächtnis ist jedoch der 1924 bis 1929 entwickelte Mnemosyne-Bilderatlas, der die Wanderung symbolischer Formen – von ihm Pathosformeln genannt – durch die Jahrhunderte sichtbar machen sollte. Der Atlas blieb Fragment, die Reproduktionen von Kunstwerken, die er auf dunkel bespannten Tafeln immer wieder neu miteinander kombinierte, wurden vor der Evakuierung der Bibliothek nach London 1933 abgenommen und archiviert. Im Karlsruher Zentrum für Medien und Kunst (ZKM) ist nun bis zum 13. November die bislang umfassendste Rekonstruktion des Bilderatlas zu sehen, die sich an der dritten und letzten von Warburg in Auftrag gegebenen fotografischen Dokumentation des Atlas orientiert.

Den Atlas aktualisieren

Während des im Rahmen der ZKM-Ausstellung stattfindenden zweitägigen Kolloquiums wurde sein Werk in viele Richtungen weitergedacht, mitunter überaus originell. Das war ganz im Sinne der Kuratoren Axel Heil und Roberto Ohrt, die sich mehr als sechs Jahre mit der Hamburger Arbeitsgruppe Mnemosyne 8. Salon, mit den nahezu 1000 Abbildungen der 63 Atlas-Tafeln befasst haben. Ihr erklärtes Ziel war es, „den Atlas zu aktualisieren, ihn funktional zu machen“ und zu kommentieren, für Künstler und Denker aller Disziplinen. Es handelt sich also um ein Statement künstlerischer Forschung, wie die 13 »Künstlertafeln« belege, (u.a. Olaf Metzel, Jochen Lempert und Peter Weibel).

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Künstlertafel, Andy Hope 1930. Foto: 8. Salon

Kunsthistoriker hätten lange Zeit mit Warburg nicht wirklich etwas anfangen können, bemerkte Heil. Er ist Professor für Experimentelle Transferverfahren an der Staatlichen Akademie der bildenden Künste Karlsruhe, Roberto Ohrt Kunsthistoriker, Autor und Kurator. In ihrer Begleitbroschüre zur Ausstellung stellen sie die komplexe Publikationsgeschichte des Mnemosyne-Atlas dar. Stets sei er nur in Teilen, mit Briefmarkengroßen Abbildungen und ohne umfassenden Kommentar als Buch zugänglich geworden. Selbst die im Jahr 2000 erschienene autorisierte Fassung von Martin Warnke und Claudia Brink habe sich eines aktuellen deutenden Kommentars enthalten und sich mit den Texten begnügt, die Warburg selbst zum Atlas verfasst habe. Dabei habe bereits die Kunsthistorikerin Dorothée Bauerle Ende der 1970er Jahre wichtige Recherchen und Kommentare geliefert, die wiederum von der Wiener Gruppe Dädalus um den Theaterwissenschaftler Werner Rappl zu Beginn der 1990er Jahre weitergeführt wurden. Damals hatte es bereits eine erste Anstrengung gegeben, die Tafeln in Originalgröße zu zeigen. Die interdisziplinäre Gruppe um Heil und Ohrt machte es nun möglich, Reproduktionen der Kunstwerke in einer besseren Qualität zu zeigen. In Zusammenarbeit mit dem Warburg Institute in London identifizierten sie die Aufnahmen und erneuerten sie teilweise. Zwei Tafeln wurden erstmals mit Warburgs Originalabbildungen rekonstruiert. Die erste Auflage ihres aus 13 Heften im Schuber bestehenden Kommentars war in der ersten Auflage von 100 Stück kurz nach der Eröffnung vergriffen, wird aber wieder aufgelegt. Er ist zugleich die Dokumentation der Arbeitsgruppe Mnemosyne 8. Salon, die über die Jahre bereits Teile der Rekonstruktion ­– oftmals kombiniert mit Vorträgen – in verschiedenen Städten gezeigt hat.  

Wer ist der Narr?

Das international besetzte Kolloquium im ZKM (13.-14.10.2016) eröffnete gleichwohl die Leiterin des Warburg-Archivs in London, Claudia Wedepohl. Sie gilt als Hüterin der Fakten, denen sich auch Ohrt und Heil verpflichtet fühlen. Sie zeichnete Warburgs jahrzehntelange Suche nach einem System für seine Forschungen zum Nachleben der Antike so akribisch wie überzeugend an Beispielen nach. Bereits kurz nach 1900 habe er mit Tabellen und Diagrammen gearbeitet, um seine Idee der wiederkehrenden Pathosformel, einzelner überzeitlicher Figurentypen, herauszuarbeiten. Warburg meinte, eine räumliche und zeitliche Wanderung von Bildmotiven entdeckt zu haben. Er sprach von „Wanderstrassen der Kultur“ und „Bilderfahrzeugen“, beweglichen Kunstwerken wie etwa Wandteppichen, die einzelne Motive in andere Regionen überführten. Die Nymphe in flatterndem Gewand etwa, die er in Gemälden Botticellis wie Ghirlandaios fand, sei eine Art archaisches Motiv aus der Antik. Sie symbolisiere Bewegung und Veränderung, deren positive wie negative Aspekte.

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Faun, eine Schlange würgend, Schule Andrea Mantegna, um 1490–1550, ZKM | Zentrum für Kunst und Medien

Solche Ideen riefen um 1900 nicht selten Unverständnis hervor. Der Kunsthändler und Autor Wilhelm Uhde etwa parodierte Warburg 1901 in seinem Drama „Savonarola“ als kleinwüchsigen Gelehrten Warmund. Wedepohl zitierte aus dem 6. Akt: „Wer ist der Narr? – Ein kleines Licht in einer großen Laterne?“ Der offenbar unschwer in dieser Karikatur zu erkennende Warburg stand also unter Druck, seinen interdisziplinären Blick auf die Kunstgeschichte plausibel zu machen. Erst in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre stellte er die Tafeln des Bilder-Atlas zusammen, von denen er drei verschiedene Stadien fotografieren ließ. 1929 starb Warburg in Hamburg an Herzversagen.

Arena der Wissenschaften

Wie aber gelangte der Kunsthistoriker von seinen Diagrammen zu den komplexen, variablen Bildertafeln, denen der Rektor der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (HfG) und Medientheoretiker Siegfried Zielinski in seinem Grußwort eine „Poetik der Relationen“ bescheinigte und mit An-Archiven von Harald Szeemann, Jean-Luc Godard und Peter Weibel verglich.

Thomas Hensel hingegen legte in seinem Vortrag offen, wie sehr Warburg auf seinen hochgradig strukturierten Arbeitsplatz angewiesen war. So ließ er sogar seinen persönlichen Schreibtisch samt Stuhl nach Florenz schaffen, wo er mehrere Jahre lebte. Es sei aber nicht nur die „hölzerne Insel der Tätigen“, wie ein Zeitgenosse den Schreibtisch laut Hensel pries, sondern das Ambiente seines ganzen Arbeitszimmers, und später seine „Arena der Wissenschaften“, seine Bibliothek, die Warburg als Orientierungshilfe in seinem Gedankenpalast diente. Ob nun ein 1907 von Warburg bestellter, verstellbarer Ingenieurstisch als Vorläufer der berühmten Atlas-Tafeln in Frage kommen könnte, musste offen bleiben.

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Künstlertafel, Olaf Metzel. Foto: 8. Salon

Die Experten griffen mitunter weit auseinanderliegende Aspekte des Bilder-Atlas Warburgs auf. Der Pariser Filmwissenschaftler Philippe-Alain Michaud verglich ihn mit Eisensteins Film-Montage-Theorie, Giovanna Targia ging Warburgs Deutung Rembrandts nach und Joacim Sprung aus Lund zog Parallelen zum Werk zeitgenössischer Künstler, die mit Bildersammlungen arbeiten wie etwa Elsebeth Jørgensen. Werner Rappl wies auf die „bedrohliche Spannung“ der nicht auf Linie gebrachten, aber eben dadurch in spezifischer Weise sinnstiftenden Tafeln hin und erinnerte daran, dass der Atlas nicht allein Warburgs Werk gewesen sei, sondern auch das seiner engsten Mitarbeiter Fritz Saxl und Gertrud Bing.

„Wir alle profitieren von dem unfertigen Atlas“, zog Roberto Ort das Fazit. Vollständig wäre er vielleicht langweilig gewesen. Aby Warburg bleibt also weiter ein großer Anreger, der modern und unkonventionell gedacht hat, obwohl er in vielem auch ein Kind seiner Zeit war, wie Wedepohl mehrfach anmerkte. Sein Bilder-Atlas scheint heutige Herausforderungen vorwegzunehmen: Wie bringe ich Struktur in riesige Datensammlungen? Wie mache ich sie produktiv. Heil bezeichnete sich und Ohrt als Bilder-Junkies, die ebenfalls mit solchen Kosmen arbeiten würden.

Carmela Thiele

Bild ganz oben: Ausstellungsbroschüre Aby Warburg. Mnemosyne Bilderatlas (Axel Heil, Margrit Brehm und Roberto Ohrt) ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, 2016

 

AUSSTELLUNG

Aby Warburg. Mnemosyne Bilderatlas

Rekonstruktion – Kommentar – Aktualisierung

Do, 01.09.2016 – So, 13.11.2016, ZKM_Lichthof 1+2

WEBSITE ZKM

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