„Lazzaro“ flüstert es geheimnisvoll und beschwörend im dunklen Blattwerk, und „Lazzaro“ ruft es leise aus der Ferne. Musik dringt durch die Nacht, man sieht eine dunkle Kemenate, Menschen mit derben Gesichtern. Es wird gelacht, gesungen, Blicke werden getauscht. Dann kommt ein blasser, junger Mann ins Bild, mit dunklem Haarschopf und glänzenden Augen, eine Figur wie aus einem Renaissance Gemälde. Abseits sitzt er und beobachtet stumm die anderen. Das ist Lazzaro, die Hauptfigur des neuen Films von Alice Rohrwacher.

Vier Jahre nach dem vielbeachteten „Land der Wunder“ ist der italienischen Regisseurin wieder ein Kunststück gelungen – ein Film wie ein schöner und auch trauriger Traum voller Musikalität und Geheimnisse. Es wird eine Geschichte erzählt, ja – aber gleichzeitig bleibt genügend Raum für eigene Phantasien. Vieles ist rätselhaft, widersprüchlich und wunderlich, märchenhaft auch. Und so wie im Märchen hat auch der Film seine archetypischen Figuren: die herrschsüchtige Königin und den schönen blonden Prinz, das einfache Volk, und sogar einen sprechenden Wolf. Und Lazzaro ist mitten unter ihnen, gutmütig, schweigsam und unscheinbar. Ein moderner Heiliger, der das Böse nicht kennt, der nicht wertet, der nichts fordert, und der sich durch Zeiten und Räume bewegt, unbeschwert und durchlässig wie ein Engel.

Lazzaro führt den Zuschauer durch zwei Abschnitte der italienischen Geschichte. Anfänglich lebt er in einem von der Außenwelt abgeschnittenen Dorf, ungefähr Ende der 1980er Jahre, in einer Art Schicksalsgemeinschaft. Die skrupellose Marquise Alfonsina de Luna regiert über eine Tabakplantage. Sie residiert in einem mit opulenten Möbeln und wertvollem Geschirr ausgestatten Sommerhaus. Von dort überwacht sie die Bauern, die nicht wissen, dass die Naturalpacht längst abgeschafft ist. Sie schuften den ganzen Tag schwer, erhalten keinen Lohn und nur wenig zu essen. Lazzaro ist dabei der Unterste in der Kette der Ausgebeuteten. Er wird hin und her gescheucht, muss die härtesten und gefährlichsten Arbeiten erledigen, ist der Diener für alle. Doch seine Hilfsbereitschaft und Geduld kennt keine Grenzen. Auch Tancredi, der Sohn der Marquise – ein verwöhnter, exzentrischer Großstädter, der sich fragt wie lange seine Mutter die unhaltbaren Zustände noch verbergen kann – nutzt Lazzaro für seine Pläne aus. Er will abhauen, zurück in die Stadt, ein neues Leben beginnen. Dafür braucht er Geld. Er hat vor, seine Mutter mit einer fingierten Entführung zu erpressen. Dabei soll ihm Lazzaro helfen.

Bei einer gemeinsamen Wanderung stürzt dieser in eine tiefe Schlucht und bleibt bewegungslos liegen. Ein hungriger Wolf erzählt dann seine eigene Geschichte, während die Zeit vergeht und die Kamera über die schroffen, steinigen Landschaften wandert. Irgendwann wacht Lazzaro wieder auf, unversehrt und nicht gealtert, so wie der heilige Lazarus der Legende, der von den Toten aufersteht. Die Welt hat sich verändert. Das Dorf wurde von Carabinieri geräumt, die Bauern in die Stadt verfrachtet. Der Film scheint in der Jetztzeit angekommen. Lazzaro macht sich auf Tancredi und die anderen zu suchen. Er durchstreift ländliche Gebiete, hat die merkwürdigsten Begegnungen, bis er schließlich in einer grauen Großstadt ankommt, wo er auf die bekannten Gesichter trifft. Bald wird klar, die Bauern von damals leben hier in nicht weniger prekären Verhältnissen. Eine andere Armut ist das jetzt, eine andere Form des Ausgeliefert-Seins, nicht weniger bitter.

Erinnert man sich in der ersten Hälfte des Films an Regisseure wie de Sica oder Pasolini, auch Bertoluccis „Novecento“ kommt einem in den Sinn, so ist die zweite Hälfte – Lazzaros Wanderung und das (Über) leben in der Stadt – eher an Fellini angelehnt. Rohrwacher erzählt hier anekdotenhaft, zuweilen allegorisch. Immer aber leicht und mit feiner Ironie. Es gelingen ihr zauberhafte Momente, wobei das größte Glück vielleicht die Bilder selbst sind. Wieder hat die Regisseurin mit ihrer Kamerafrau Helene Louvart auf Super-16-Format gedreht. Für Rohrwacher ist das Unberechenbare des filmischen Materials, seine Körnigkeit, das Warten auf die Ergebnisse, Teil der Intensität dieser Bilder.

So ist „Glücklich wie Lazzaro“ nicht nur eine wunderbare Reise durch die italienische (Film)Geschichte, sondern auch eine Reminiszens an die Kraft und Schönheit analoger Filmbilder. Vor allem aber ist „Glücklich wie Lazzaro“ ein politisches Manifest und ein Gleichnis für die Möglichkeit des Gutseins.

Daniela Kloock