„Niemand weiß, wie Antidepressiva auf Fische wirken, niemand weiß, wie viel Chemie überhaupt in der Ostsee schwimmt.“ Der Meeresforscher mit dem wilden Bart, der dies sagt, wirkt trotz seiner traurigen Befunde erstaunlich gut gelaunt. Er ist einer der vielen beeindruckenden Protagonisten in „Seestück“. Volker Koepp, der 1999 mit „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ international bekannt wurde, schließt mit diesem Film einen über mehrere Jahrzehnte gehenden thematischen Zyklus ab.

Der Regisseur liebt die osteuropäischen Länder, besonders deren Küsten. Die kurische Nehrung, das Pommerland, die lettische und estnische Küste. Vor allem aber die Ostsee selbst ist für ihn ein Sehnsuchtsort. Immer wieder fangen seine Filme großartige Bilder dieser Landschaften ein, sei es in „Schattenland – Reise nach Masuren“(2000), „Kurische Nehrung“ (2001), „Memelland“ (2008) oder „In Sarmatien“ (2013).

Der hohe Himmel über dem Meer, die Wolkenbildungen, die Steilküsten und Wanderdünen faszinierten schon die Maler der Romantik. Allen voran Caspar David Friedrich, dessen Gemälde Volker Koepp vielleicht des öfteren vor Augen hat, wenn er seine Kameraeinstellungen wählt. Doch ihm geht es nicht um Einsamkeitsgefühle oder um ein metaphysisches oder jenseits gewandtes Empfinden, oder gar um die Reinheit der Natur, sondern um ganz Diesseitiges.

Alle Filme beinhalten Begegnungen mit Menschen, deren Biografien von historischen und politischen Umbrüchen geprägt sind, die, wie er selbst sagt, „in nicht ausgeglichenen Verhältnissen“ leben. In seinen aktuelleren Filmen treten zunehmend ökologische Themen in den Fokus. So auch in „Seestück“. In der Bildenden Kunst werden Gemälde mit maritimen Motiven als „Seestücke“ bezeichnet. Man sieht Fischer bei ihrer Arbeit, Seeschlachten, Stürme oder Schiffsuntergänge.

In Volker Koepps Film geht es jedoch um die Gigantomanie menschlicher Projekte. Er zeigt monströse Windanlagen und internationale Gas-Pipelines, Häfen für Großtanker oder grausige Kreuzfahrtschiffe – Bilder, die von ökologischer Verantwortungslosigkeit zeugen und die belegen, dass die Ostsee nur noch ein auszuschlachtendes Industriegebiet ist. Die Protagonisten aus den unterschiedlichsten Milieus beschreiben diese spürbaren ökologischen Veränderungen und ihre Auswirkungen. Schon in seinem Film über die Uckermark (2002) ging es um die letzten verbliebenen Klein-Bauern, die kaum eine Chance gegen die von Brüssel verordneten Monokulturen und die Prinzipien der modernen Landwirtschaft haben. „Seestück“ knüpft diesen Faden teilweise weiter, etwa wenn der 81-jährige Strandfischer auf Usedom hautnah davon berichtet, dass er außer Heringen nichts mehr im Netz hat, und dass er sowieso der letzte Fischer auf dieser Insel ist.

Doch die Ostsee ist auch ein extrem politischer Raum. An den polnischen Stränden, an der baltischen und schwedischen Küste trifft der Regisseur auf Menschen, die über Krieg, Vertreibungen und Flucht, und über die bedrohlichen Konflikte zwischen den Großmächten in der Zeit des Eiserenen Vorhangs erzählen. Seit der Ukraine-Krise nehmen die militärischen Spannungen in diesen Gebieten wieder zu. Nirgendwo anders kommen sich die Streitkräfte der Nato und Russlands so nahe wie im internationalen Luftraum über der Ostsee, der dort an der schmalsten Stelle weniger als fünf Kilometer breit ist. Wie bedrohlich sich die Kampfjets am Himmel anfühlen berichtet eine Gymnasiallehrerin von der schönen Ferieninsel Bornholm.

Und man trifft auch auf bekannte Gesichter aus vorausgegangenen Filmen. Michael Succow zum Beispiel. Er war Umweltminister unter der Regierung Maiziere und erklärte kurz vor dem Zusammenbruch der DDR 5 Prozent des Staates zum Naturschutzgebiet. Auch er gehört zu denjenigen, deren Herz für diese Landschaft schlägt und der sich bis heute dafür einsetzt, dass die Natur bewahrt wird. So wie er spricht – so ruhig, so schlicht und so konzentriert – könnte man vermuten, der Regisseur hat in ihm eine Art Alter Ego gefunden. Volker Koepp ist kein filmischer Analytiker, Konfrontation liegt ihm fern, auch hat er keine Arbeitshypothese. Er ist ein Regisseur der Behutsamkeit, einer der abwartet, Geduld hat, und den Erzählenden Raum und Zeit läßt. Wieder ist ihm ein politisch engagierter Film gelungen, und ein schöner Film.

Daniela Kloock