Immer wenn ich eine Kritik zu einem Film von John Boorman schreiben will, wird daraus eine Liebeserklärung an eine merkwürdige Art des Kinos. Boorman ist kein „Autorenfilmer“, aber genauso wenig ist er ein Genre-Handwerker. Immer wieder schafft er es, einen Spagat hinzukriegen über dem Abgrund zwischen der persönlichen Vision und dem, was man so Publikumserwartungen nennt, und in seiner Bilderwut schont er weder uns noch sich selbst, riskiert im Grandiosen das Abstruse wie in seinem SF-Film Zardoz oder in seinem Sequel zu The Exorcist, das ihm so ziemlich alle Preise eingebracht hat, die man in der Szene für misslungene Filme zu vergeben hat. Boorman erzählt Geschichten von Menschen, die vor der Zivilisation und vor der Gesellschaft fliehen, zurück in die barbarische Natur (Deliverance, Der Smaragdwald), in die Kunst (Die Zeit der bunten Vögel) oder in den Mythos (Excalibur). Immer geht es um das Aufbrechen älterer Schichten der Zivilisationsgeschichte, und immer muss diese Revolte der „Barbaren“ scheitern, aber sie tut das auf großartige Weise: als Film.

Auch The General, der die wahre Geschichte des irischen Diebes, Gangsters und Volkshelden Martin Cahill nachzeichnet, ist die Geschichte einer solchen Revolte. Cahill ist einer, der sein Leben nach eigenen Regeln lebt; den Staat lehnt er genauso ab wie die Organisation der IRA, die ihn am Ende auch liquidiert. Er hat seine Familie – zwei Frauen und fünf Kinder, seine Gang, die er mit unnachsichtiger Härte führt, seine kleinen und großen Freuden, aber er hat kein Bewusstsein.

Martin wächst in Dublins Hollyfield-Siedlung auf, einer Welt, in der es nur den Kampf gegen die Polizei und den Diebstahl fürs Überleben gibt. Der Junge stiehlt Lebensmittel für die Familie, Zigaretten für die Mutter, Früchte für die große Liebe Frances. Schon ist er ein kleiner Held, fest davon überzeugt, dass man ihm nichts anhaben kann. Doch eines Tages wird er erwischt, kommt in ein katholisches Erziehungsheim, wo er von den Priestern gepeinigt und sexuell missbraucht wird. Für die Gesellschaft ist er ein für allemal verloren, als er entlassen wird. Unter den Augen des Polizisten Ned Kenny (Jon Voight), der ihm mit einer Mischung aus heimlicher Bewunderung und wachsendem Zorn nachstellt, wächst er zum kleinen König des Viertels heran, der ein provokantes öffentliches Spiel mit den Gesetzeshütern treibt. Als seine wachsende Familie sich etwa ein Haus mit Garten wünscht, liefert er den Kaufpreis, 80.000 Pfund, bar auf der Bank ab, nur um das Geld von seiner Gang gleich wieder rauben zu lassen, während er sich selbst bei der Polizei ein sicheres Alibi verschafft. Immer größer werden Cahills Raubzüge, und schließlich gelingt seiner Gang sogar ein Coup, der selbst für die IRA eine Nummer zu groß war: der Überfall auf den Juwelenhandel O’Connor. Nach einem spektakulären Kunstraub verärgert Cahill die IRA, die an der Beute partizipieren will, indem er einen Teil des Diebesguts ausgerechnet an die Gegner der Ulster Volunteer Force verkauft. Die Gang beginnt zu bröckeln, und am Ende steht Cahill allein da. Sogar die Polizei hat ihre Dauerbewachung zurückgezogen, und als er am 17. August 1994 in sein Auto steigt, sieht man, wie ein IRA-Killer auf ihn anlegt.

Boorman bleibt immer dicht an Cahill, diesem kleinen, rundlichen Mann mit den soliden Lebensgewohnheiten (er raucht und trinkt nicht, liebt seine Familie und pflegt proletarische Hobbys wie Taubenzüchten), mit dem clownesken Auftreten in der Öffentlichkeit und der brillanten kriminellen Intelligenz, mit der er alle Beweismittel gegen sich vernichtet. So wird „der General“, wie er genannt wird, zu einem Bild jenes Widerstandes, den Boorman immer wieder geschildert hat. „Nachdem ich 25 ebenso wundervolle wie frustrierende Jahre in Irland verbracht hatte“, so der Regisseur, „kam mir dieses Verhaltensmuster sofort bekannt vor, ein Abwehrmechanismus, geschärft durch die Herrschaft zweier Kolonialmächte, der Engländer und der Kirche: Man nimmt eine Rolle an, erfindet dazu eine passende Geschichte, und die ganze Maskerade dient nur als Deckmantel für die Verachtung der Autorität, die Wut über offensichtliches Unrecht, eine grimmige Verschlagenheit, eine finstere Brutalität – kurz, die heidnischen Charakterzüge eines keltischen Stammeshäuptlings“.

Was Boormans Film auszeichnet, ist jener poetische Schwebezustand, den wir aus seinen anderen Filmen kennen und der ihm auch immer wieder Kritik eingebracht hat: Man weiß nicht so recht, wohin das alles führen soll, die Mischung der Genres (hier Gangsterfilm, caper movie, Charakterstudie und politische Parabel), eine Erzählung zwischen dem Alten und dem Neuen, die keine Partei ergreift, keine Nutzanweisung generiert, die Zärtlichkeit einer Beobachtung, die immer wieder in Erschrecken umkippt (vor allem in den beiden Szenen des Gewaltausbruchs von Cahill) – in Bildern, die sich nie in erzählerischer Ökonomie erschöpfen. Dass diese Ästhetik der Schwebe hier so hervorragend funktioniert, hat zunächst mit einigen künstlerischen Entscheidungen des Regisseurs zu tun: Er hat die Hauptrolle, gegen den Willen der Mitproduzenten statt mit einem internationalen Star mit Brendan Gleeson besetzt, der dem wirklichen Martin Cahill nicht nur äußerlich ähnelt, sondern in seiner Bewegungsmelodie, in seinem sparsamen Spiel auch eine besondere Mischung von Distanz und Identifikation herstellt; wir sind ihm nahe, müssen aber nicht glauben, ihn vollständig zu verstehen.

In Jon Voight hat Gleeson einen gleichwertigen Partner, der die Verzweiflung, die Infektion eines Polizistenlebens an seinem Gegenüber deutlich macht. Gleeson ist die mythische Wiederkehr eines archaischen Helden, daher weder gut noch böse, Voight der moderne Mensch, der an ihm moralisch (schließlich lässt auch er sich zu illegitimer Gewalt hinreißen) und kulturell zu Grunde geht. Zum anderen erzeugt die Entscheidung, den Film in CinemaScope und Schwarzweiß (d.h. mit nachträglich „entfärbtem“ Farbmaterial) zu drehen, nicht nur eine dokumentarische Genauigkeit, sondern auch eine „abstrakte“ (Boorman) Traum-Qualität: diese düsteren Ruinenlandschaften, in denen sich die Festungen der Moderne, die Banken, die Gerichtsgebäude, die Handelshäuser, eingenistet haben als neueste Architekturen des Kolonialismus, träumen sich ihren nicht minder düsteren Helden, Harlekin und Gespenst in einem, und es ist keineswegs alles gut an diesem Traum. Boorman widersteht der Versuchung, Cahill als neuen Robin Hood zu porträtieren, er hat eine große Zärtlichkeit für diesen neuen Barbaren und ist doch weit davon entfernt, ihn auch nur als Vorahnung einer „Lösung“ zu sehen. Zum dritten ist The General eher ein musikalischer als ein erzählerischer Film. Die erste Szene nimmt Cahills Tod vorweg, und seine große Rückblende benutzt gleichsam eine Rondo-Form der wiederkehrenden Elemente, das Verhör, die Familie, der Raub, die Konstruktion des Alibis, die Spannungen in der Gang, der Zugriff der Öffentlichkeit, zur Komposition eines Stücks der Vergeblichkeit. Das Alte und das Neue, das Kolonialistische und das Kolonialisierte, kreisen ineinander, ohne eine historische Dimension zu erlangen. Die Fabel produziert zwischen story und history höchste poetische Intensität, aber keinen „Sinn“. Uns Hoffnungen zu machen war noch nie eine Stärke von Boormans Filmen.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht  in  epd film