Der Mann mit der Kamera

Mit Dsiga Vertovs erstem Tonfilm startet eine DVD-Edition der europäischen Filmmuseen

Von Zeit zu Zeit muss die Filmgeschichte neu geschrieben werden. Einerseits, weil wir vielleicht ein paar Scheuklappen verlieren (na schön, es kommen auch wieder neue dazu), andererseits aber weil noch lange nicht alle Filme entdeckt, gesichert und sichtbar gemacht worden sind. In den Archiven dieser Welt und vielleicht in ein paar unaufgeräumten Kellern wartet noch eine ganze Reihe verschollener Meisterwerke. Andere Filme hat die Filmgeschichte einfach für eine Zeit vergessen. Um sie nach ihrer Entdeckung sichtbar zu machen, müssen sie oft aufwändig restauriert werden. Bei manchen Filmen, bei denen es nur noch Fragmente gibt, geht es gar um eine Rekonstruktion. Vielleicht kann man solche Filme nie wieder genau so sehen, wie es einst der Regisseur im Sinne hatte oder wie es das zeitgenössische Publikum sah. Aber wenn die Filmwissenschaft alle Quellen zusammenfließen lässt, dann kann man wohl dem Original ziemlich nahe kommen.
Bislang sind die Ergebnisse der Restauration, von einigen populären Filmen wie Fritz Langs METROPOLIS vielleicht abgesehen, vor allem einer kleinen Gemeinde der Film-Enthusiasten vorgeführt oder einmal im Spätprogramm des Fernsehens gezeigt worden. Nun haben sich europäische Filmmuseen und Cinémathèquen zusammen getan, um eine gemeinsame DVD-Edition herauszugeben. Hier gibt es nicht nur restaurierte und rekonstruierte Klassiker mit Begleitmaterial, sondern auch neuere Filme, die auf dem kommerziellen Markt keine Chance hatten und die es trotzdem wert sind, einem größeren Publikum zugänglich gemacht zu werden.
Zu den Gründern der „Edition Filmmuseum“ gehören die Filmmuseen in München, Düsseldorf und Frankfurt, das Österreichische Filmmuseum in Wien, das Deutsche Filminstitut – DIF Wiesbaden, die Cinémathèque Municipale de Luxembourg sowie das Goethe-Institut München. Geplant ist die Aufnahme weiterer Partnerarchive in die Edition.
Jetzt ist der Anfang gemacht mit einem vorzüglich ausgestatteten Doppel-DVD-Set zu einem zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Film von Dsiga Vertov: ENTUZIAZM sollte er ursprünglich heißen, gegen den Willen des Regisseurs wurde der Titel später in SIMFONIJA DONBASSA geändert. Aber auch das passt: Es ist ein Film, der vom Enthusiasmus der Arbeit handelt, und es ist eine Film-Symphonie. Dsiga Vertov, das ist einer jener Künstler des sowjetischen Revolutionsfilms, denen man in den Filmgeschichten immer wieder begegnet. Regisseure wie Jean Luc Godard beziehen sich auf ihn, keine Theorie der Montage kommt ohne ihn aus. Nur zu sehen bekommt man die Filme selten. Dsiga Vertov hieß eigentlich Denis Kaufman und stammte aus Polen. Vor dem deutschen Einmarsch im Jahr 1915 floh die Familie nach Russland. Alle drei Söhne, Denis, Michail und Boris, entwickelten eine enthusiastische Liebe zum neuen Medium Kino. Dsiga begann beim „Revolutionären Kinokomitee“ mit seiner Wochenschau „Kino Nedelja“, und in den 1920er Jahren realisierte er seine eigene Form des experimentellen Montagefilms. Für Vertov war der Film nicht vom Literarischen, sondern vom Visuellen bestimmt. Er dachte schon bei der Vorbereitung in Bildern und Rhythmen. Er war „Der Mann mit der Kamera“, der die Welt mit seinem Aufnahmeapparat zerlegen und wieder neu zusammensetzen konnte. Gemeinsam mit seinem Bruder Michail und seiner Frau Elizaveta begründete er „Kino-Glaz“, das „Kino-Auge“, und hier entstand in den Jahren zwischen 1922 und 1924 die „Kino-Pravda“, ein Bild der Geschehnisse, das aus dem Material von hunderten von Kameraleuten aus den unterschiedlichsten Perspektiven zusammengestellt wurden. Alle Techniken waren erlaubt, Montagen und Trickfilmsequenzen ebenso wie inszenierte und dokumentarische Szenen. Entfesseltes Kino. Auch im Westen berühmt wurde er mit „Der Mann mit der Kamera“, mit dem Vertov zu Beginn der dreißiger Jahre auf Europatournee ging. ENTUZIAZM ist gegenüber diesem freien Spiel der Bilder schon fast wieder sachlich; immerhin hat der Film ein klares Thema: Es geht um Bergarbeiter, die ihren Fünfjahresplan erfüllen. Oder um die Utopie einer neuen Zeit, die die alten Schrecken, den Schnaps und die finstere Kirche vertreiben würde. Oder es geht um Maschinen, Menschen und Natur, und einen Tanz, den die drei miteinander aufführen. In der Zeit des Stalinismus wurde Vertovs Arbeit wegen „Formalismus“ verdammt, und in den vierziger Jahren konnte er nur noch wenige kleinere Beiträge für Wochenschauen realisieren. Schließlich ging der Mensch und der Künstler am politischen Druck zugrunde, der ihm seine Kino-Wahrheit zerstörte. Dsiga Vertov hat die Sprache des Films und die Idee der filmischen Wirklichkeit entschieden verändert und jede Generation von Cineasten kann seine Filme neu entdecken. Sie sind nicht zuletzt einfach schön und spannend anzuschauen.

ENTUZIAZM entstand im Jahr 1930, in der Zeit bevor der Stalinismus die Avantgarde und die Utopie, kurz den Enthusiasmus der Revolution überwältigte. Es ist der Film, der Arbeit, Spiel, Kunst und Tanz auflöst. Alles verwandelt sich in ein großes Schauspiel, die Förderbänder und Baggerschaufeln, die Hochöfen und die Rauschschwaden, in denen die Arbeiter ihr industrialisiertes Ballett aufführen. Das Pathos dieser Arbeit als Kunst findet sich heute und bei uns nicht mehr in den Fabriken, wo längst schon Roboter Arbeit spielen, sondern als reines Spiel in Videoclips zu Madonna-Songs oder als Zitat im Tanztheater. Aber vergessen haben wir diese Bilder anscheinend nie. Der erste Fünfjahresplan erscheint hier nicht als Erfüllung der Pflicht, sondern auch als Verwirklichung einer Utopie: Der Mensch, die Natur und die Maschine bilden eine neue produktive und schöne Einheit. Vertov geht so frei mit seinem Material um, dass der gestrenge Georges Sadoul später urteilte, dieser Film sei „ziemlich chaotisch“, jedenfalls im Vergleich zu Vertovs folgendem Meisterwerk „Drei Lieder für Lenin“. Aber vielleicht ist es gerade diese chaotische Freiheit, die den Film heute so aktuell macht, ganz unabhängig davon, wie sich ein paar seiner utopischen Träume ins Gegenteil verkehrt haben: Da kann man einem Filmemacher dabei zu sehen, wie er die Welt zugleich entdeckt, erträumt und untersucht. Der Künstler Vertov überlebt den Propagandisten, vielleicht, weil es in diesem Film-Traum nicht wirklich um Fünfjahrespläne und Parteiräson geht. Sondern ums Glück.
Vertov probiert aus, was man mit dem neuen Medium machen kann, dem die meisten anderen Künstler seiner Zeit eher skeptisch gegenüber stehen: Die Verbindung von Geräusch und Musik, Kontraste zwischen Bild und Ton, Assoziationen, die sich über den Klang ergeben. Dsiga Vertovs Film-Symphonie ist etwas ganz anderes als der Sprech- und Musikfilm, der dann in den dreißiger und vierziger Jahren vorherrschend sein wird. Und ganz nebenbei entdeckt Vertov das Film-Interview als Ausdrucksmittel. Vertov arbeitet mit Überblendungen, mit Trickaufnahmen und mit dem Zeitraffer, aber nie ist dieses Spiel Selbstzweck, immer gibt es dabei etwas zu entdecken. Einst haben Charlie Chaplin und Luis Bunuel von diesem Film geschwärmt, dann wurde er von der Film-Avantgarde der sechziger Jahre wieder entdeckt, und wieder geriet er in Vergessenheit. Jetzt mag es die Generation der Videoclip-Regisseure sein, die Leute, die an einem neuen digitalen Weltbild arbeiten, die Vertov für sich entdecken.
Die erste DVD enthält sowohl die Version, die man im Film-Archiv der Gosfilmofond in Moskau vorgefunden hat als auch die von Peter Kubelka geleitete restaurierte Fassung, die vor allem eine sorgfältige neue Synchronisation von Filmbildern und Ton vornimmt. Erst in der Restauration erkennt man, dass Vertov nicht einfach eine Geräuschkulisse benutzte, sondern ganz präzise jeden Ton zu einer Einstellung komponiert hat – „die Musik der Ereignisse“. Auf der zweiten DVD befindet sich eine Dokumentation der Restaurierungsarbeiten, bei der Kubelka seine Ideen und Vorgehensweisen erläutert. Wer Lust hat, bekommt eine kleine Film-Lektion darüber, was man an einem Schneidetisch machen kann. So wird wiederentdeckt, was Kubelka zu Recht mit Bachs „Kunst der Fuge“ vergleicht: Vertov zeigt in seinem Film was man mit dem Ton in einem Film anfangen kann, außer Leute reden lassen und einen Klangteppich darunterzulegen. Was Vertov damals, im Jahr 1930 entdeckte, ausprobierte und vorführte, wurde für lange Jahre vergessen. Als hübsche kleine Extras kommen noch eine Zusammenstellung von Vertovs Privataufnahmen sowie Aufnahmen von der Eröffnung der Vertov-Ausstellung im Österreichischen Filmmuseum im Jahr 1974 dazu, bei der auch Vertovs Ehefrau Elisaveta Svilova anwesend war.

In der „Edition Filmmuseum“ gibt es Filmgeschichte mit Enthusiasmus und Vergnügen zu entdecken. In Vorbereitung befinden sich Filme von Erich von Stroheim, Sergej Eisenstein, Wilhelm Dieterle und Orson Welles, aber auch von Herbert Achternbusch, Niklaus Schilling und Helmut Costard. Da entsteht ein imaginäres Museum des eigenwilligen Films, die Cinemathek im Bücherschrank. Interessenten können sich übrigens auch unter der Adresse www.edition-filmmuseum.de über das Programm informieren.

Autor: Georg Seeßlen

Text: veröffentlicht im filmspiegel 11-12/ 2005