Die Seele im System

Roman Polanskis „Der Pianist“ oder: Wie schön darf ein Film über den Holocaust sein?

Wir haben Begriffe, ohne es begreifen zu können. Wir haben Erzählungen, die dramaturgisch versagen müssen, wenn sie dem Kern der Wahrheit nahe kommen. Wir haben Dokumente und Bilder, die vor unseren Augen zerfallen in die furchtbare Banalität des Bösen und in eine alles übersteigernde Ikonografie des Grauens. Es ist unmöglich, die Geschichte des deutschen Faschismus, die Geschichte der Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa, die Geschichte des Holocaust in unsere Kultur einzuschreiben, als Begriff, als Erzählung, als Bild und gar als Einheit von alledem. Und doch ist es eine der wenigen guten Seiten dieser Kultur, dass wir nicht aufhören, es zu versuchen. Mit allen Mitteln, mit allen Medien, die wir haben. Eines davon ist die Form des populären Spielfilms, die man auch als Erzählen in einer Bildwelt beschreiben könnte oder als Versuch, das Antlitz und den Leib, den Namen und die Seele des Menschen zu finden in einem System der Dinge, der Zeichen und der Beziehungen. Es sind die Spuren des Menschen, die das Kino in seiner Ikonografie sucht, was vielleicht immer auch heißt: Seine Schönheit entsteht aus der Revolte des Menschlichen gegen die Zeichen.

Der Spielfilm muss vom Faschismus und vom Holocaust in Bildern erzählen, die sich nicht erweitern, kaum verändern lassen und deren Evidenz die größte Ressource des Kinos zu vernichten droht: die Ambiguität. Das Bild der Täter: die geschniegelten Uniformen, die Stiefel und Reitpeitschen, die Hunde, die bellenden Stimmen, das breitbeinige Stehen im Schmutz. Die Waffen, die sie zücken, um wahllos, aber nicht ohne System zu morden, die widerwärtigen Späße. Das Bild der Opfer: die trostlosen Baracken, das elende Ghetto. Körper, von Hunger, Krankheit und Gewalt gezeichnet, Blicke, die immer nur nach der Überlebenschance suchen und das Grauen nicht begreifen können. Und dazwischen: die Bilder, in denen dies alles eingefroren scheint. Das Eingangstor von Auschwitz, die Güterwaggons, in die die Menschen schlimmer als Vieh gepfercht werden, eingebrannte Nummern auf der Haut, säuberlich gestapelte Haufen persönlicher Besitztümer, Stacheldraht und Elektrozaun, dann die Todeskammern.

Diese Ikonografie des Grauens ist in sich weder wahr noch falsch. Sie „funktioniert“ furchtbarerweise in billigen Sado-Comics, in patriotischen Kriegsfilmen, in trostreichen historischen Seifenopern ebenso wie in der authentischen Montage, in einer Kunst der Erinnerung und der Menschlichkeit. Sie „funktioniert“ in der Welt der Täter und in der Welt der Opfer. Das Erzählen in der Ikonografie des Grauens kann, wo es gelingt, zur Errettung von Menschen führen, zur Errettung der Person, die die Nazis vernichten wollten, eine andere Form der Errettung auch jener Person, die die Verbrechen beging. Aber jede Erzählung, die die Ikonografie des Grauens benutzt, ist auch Teil eines Prozesses der Gewöhnung, der Trivialisierung. Wenn wir im Kino die Ikonografie des Grauens verwenden, dann müssen wir zugleich von den Grenzen des Kinos sprechen.

Und noch einen anderen Punkt gilt es zu berücksichtigen: Der historische Faschismus war selbst auch eine gewaltige Bildermaschine, er produzierte selbst eine Ikonografie, die von den Massenaufmärschen über die faschistische Zeichenlehre zur scheinbar so harmlosen Kinounterhaltung der Ufa führte. Wir sehen genügend Filme, die auf diese faschistische Ikonografie hereinfallen, manche davon offensichtlich mit bester Absicht gedreht. Man muss indes einiges vom Kino und einiges von der Geschichte verstehen, um genau bestimmen zu können, was ein Bild des Faschismus und was ein faschistisches Bild im Kino ist.

Aufstand gegen die Ikonografie

Holocaustfilme sind unmöglich. Holocaustfilme sind notwendig für das, was wir mittlerweile „Erinnerungskultur“ nennen. Es kommt einzig und allein auf die Intention und das Können der Künstler an, die die schwere und notwendige Aufgabe auf sich nehmen, die vorhandenen Bilder so zu montieren, dass etwas sichtbar, erkennbar, spürbar, erleidbar wird. Dass der Mensch in ihr gerettet wird. Und was das anbelangt, war Roman Polanski der Künstler, der in der Autobiografie des polnischen Pianisten Wladyslaw Szpilman genau die Erzählung gefunden hat, die Ikonografie des Grauens mit aller Sorgfältigkeit noch einmal für das Kino zu konstruieren und sie zugleich zu befragen. Polanski, der als Kind aus dem Krakauer Ghetto flüchtete und dessen Mutter von den Nazis ermordet wurde, folgt Szpilman von einem Versteck im Warschauer Ghetto über eine Odyssee durch verschiedene Wohnungen bis zu seinem letzten Schlupfwinkel im Warschau der letzten Kriegstage. In dieser untergegangenen Stadt, für deren Zerstörung Polanski Bilder von ungeheurer Trost- und Hoffnungslosigkeit findet, ist es ausgerechnet ein deutscher Hauptmann, der den Musiker in seinem Versteck mit Nahrung versorgt – und so gewissermaßen dem letzten Warschauer Juden das Leben rettet. Es gibt in diesem Film keine Abschweifungen, keine Brechungen und Revolten des Materials. Es ist ein filmisches Gebet für den Menschen. Und die Haltung des Künstlers darin können wir wohl als eine selbstbewusste Form der Demut bezeichnen.

Nun aber funktioniert das Kino nicht so einfach als Kunstwerk; es steckt zu viel Gesellschaft im langen Weg von der Idee über die Produktion bis zum Sehen eines Films. Warum, nur zum Beispiel, wird Steven Spielbergs Schindlers Liste zu einem gesellschaftlichen Ereignis, und Andrzej Wajdas Karwoche bleibt nachts in den dritten Programmen des deutschen Fernsehens gerade für eine Minderheit sichtbar? Nein, so einfach, wie wir sie uns machen könnten, ist die Antwort nicht. Spielbergs Film steht für eine Bewegung in der Mitte der Gesellschaft; nicht nur der Film, auch seine Entstehung, die Person seines Schöpfers stehen als Metapher dafür, wie man Verantwortung gegenüber der Geschichte akzeptiert, ohne einen radikalen Bruch zu provozieren. Etwas Ähnliches gilt für den Erfolg von Roberto Benignis Das Leben ist schön. Wir sehen nicht nur eine sehr menschliche Komödie in der Ikonografie des Grauens, über deren ästhetisch-moralische Methode wir, wie bei all diesen Versuchen, auch streiten können; wir sehen einem Clown, einem Kindmann der populären Kultur, dabei zu, wie er zur Erinnerung innehält und wie er uns dazu anleitet, zur Erinnerung innezuhalten. Wajda dagegen steht für die Kunst, die immer verantwortungsvoll mit ihrem Material umgegangen ist und die tröstlichen Lügen der popular culture nie akzeptierte.

Den populären Filmemachern gelingt also, was dem solitären Kunstwerk auch im Kino nicht gelingen kann: Sie schreiben die Erinnerung in die populäre Mythologie ein. Sie retten die visuelle Erinnerung für Menschen in unserer Kultur, die für die Kunst noch nicht bereit oder für sie vielleicht sogar verloren sind. Aber zur gleichen Zeit sind diese Filme auch in höchster Gefahr, aus der Ikonografie des Grauens ein Genrebild zu machen. Vielleicht nun bietet Polanskis Der Pianist so etwas wie eine Brücke zwischen den beiden Segmenten, der Filmkunst und der populären Kinokultur.

Die wirkungsvollsten Holocaustfilme der letzten Jahre waren verbunden dadurch, dass sie immer einen Rest von Identifikation, von Rettung und Erlösung bewahrten und durchaus als Märchen gesehen werden können. Aber sie geben stets die Grenzen ihrer eigenen Fähigkeiten zur Wahrheit wieder. Mit Szenen, die von der story (in der es Sinn und Erlösung gibt) zur history führen (deren Sinn allein in der Arbeit der Trauer und dem ewigen Prozess liegen mag, der dem Faschismus und seinen Verbrechen gemacht werden muss) – und zugleich deren Unvereinbarkeit bezeichnen.

Der Vorhang vor der Geschichte

In diesen Szenen bricht sich das Märchen, brechen sich alle Erzählweisen des populären Films: In Das Leben ist schön zeigt sich Horst Buchholz in der Rolle des deutschen KZ-Arztes als Monster, obwohl wir ihn doch auch „als netten Menschen“ kennen gelernt haben. In Schindlers Liste ist es das kleine Mädchen im roten Mantel, das nicht gerettet wird, obwohl der Film es doch auserwählt hat. Zwei Momente der (für uns) enttäuschten Hoffnungen, die den Pakt der Tröstungen nachhaltig stören. Momente, in denen Benigni und Spielberg zeigen, dass ihre Geschichten der Hoffnung in Wahrheit vor einer großen Hoffnungslosigkeit spielen. Auf den ersten Blick scheint im Überlebensmärchen von Der Pianist eine solche Verbindung der Ent-Täuschung zwischen story und history zu fehlen. Doch bei Polanski ist dieses Angebot gleichsam radikalisiert, indem sich die zwei radikalsten Ausnahmen begegnen: das aus eigener Kraft überlebende Opfer und der aus eigener Kraft gegen sein System handelnde Täter. Sie tragen den Bruch zwischen der Dramaturgie der persönlichen Rettung und der historischen Erfahrung einer Welt ohne Rettung, also zwischen dem Menschen und der Ikonografie, in sich selbst. Nicht die Ikonografie bestimmt hier das Verhalten der Menschen, wie wir es nach den Konventionen dieser Kinogleichung von story und history gewohnt sind, sondern umgekehrt jeder einzelne Mensch ist durch sein Verhalten an der Entstehung der Ikonografie des Grauens beteiligt. Sie existiert weder als abstraktes System noch als transzendentales „Schicksal“; sie setzt sich vielmehr zusammen aus den moralischen Entscheidungen und dem Erleiden jedes Einzelnen – etwa wenn Szpilmans Geschwister beschließen, den Eltern in die Deportation zu folgen. Was Polanski bewerkstelligt, ist eine Trennung von Ikonografie und Inhalt. Die deutsche Uniform, in der Szpilman vor den russischen Befreiern auftaucht, macht nicht den Menschen, auch wenn man wegen eines falschen Mantels erschossen werden kann. Die einfache Erkenntnis, dass man einen Mantel trägt, weil man friert, nicht um eine Seite zu wählen, ist ein Schlüsselhinweis für die Trennung von Mensch und Zeichen. Tatsächlich also benutzt Polanski die Ikonografie nicht nur, er zersetzt sie auch.

In einer Filmerzählung, die, obwohl sie vom „wunderbaren Überleben“ eines Einzelnen handelt, wenig Raum für Hoffnung gibt, entsteht auf diese Weise Schönheit durch die Aura des Leibhaftigen und Einzigartigen im Menschen, die sich in Der Pianist ausbreitet, weit über die Leinwand hinaus. So mag sich neben den Fragen „Wie komisch darf ein Holocaustfilm sein?“ und „Wie melodramatisch darf ein Holocaustfilm sein?“ eine dritte stellen: „Wie schön darf ein Holocaustfilm sein?“ Wird hier nicht die Trauer, der symbiotische Schmerz, das bildhafte Mitleiden zu einem ästhetischen Genuss? Der Film gibt auf diese Frage keine Antwort. Aber er ist eine Antwort. In einer langen Kette von Filmen, die das individuelle Leben gegenüber der Ikonografie erretten wollen, ist er möglicherweise der schönste, weil er so viel Erfahrungen und Schmerzen des Kinos bei der Suche nach dem verlorenen Menschenbild in der Ikonografie des Grauens zusammenfasst. Vielleicht ist Der Pianist andererseits auch der erste Film einer neuen Kette, in der man mit dieser Ikonografie anders, bewusster, genauer umgehen wird können.

Man beginnt die Wahrnehmung von Polanskis Film mit dem Empfinden einer sehr klassischen Bilderwelt, aber mit dem Fortschreiten der Erzählung verändert sich unser Blick. Die Ikonografie des Grauens wird wie ein Vorhang vor der Geschichte weggezogen. Sie wird nicht von Zeichen, sondern von Menschen gemacht. 1942 und 2002.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in DIE ZEIT, 23.10.2002 Nr. 44