Phantastischer Revisionismus

Mit »Stark« haben George A. Romero und Stephen King den ersten Goodwill-Horrorfilm für die Clinton-Ära vorgelegt

Das Kino geschieht immer an der Grenze; es erzählt sich zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, zwischen dem Ich und der Welt, zwischen der Familie und der Gesellschaft, zwischen der Natur und der Zivilisation, zwischen dem Haus und der Straße, kurz zwischen dem Schrecken des Eingeschlossenseins und dem Schrecken des Alleingelassenwerdens. Alle Helden überschreiten diese Grenzen, aber zugleich kommt über sie auch immer das Böse.

Der Verlauf dieser Grenzen bestimmt aber auch das Wesen einer Gesellschaft. Sie ist nicht nur mit der Produktion und Verteilung von Gütern und der Unterdrückung der Mehrzahl ihrer Mitglieder beschäftigt, sondern auch mit der endlosen Synchronisation des gesellschaftlichen Innen, der Familie, des Hauses, der »Beziehung« und des gesellschaftlichen Außen, der Straße, der Fabrik, der Politik.

Die Familie, zum Beispiel, ist nur einerseits das perfekte Abbild der Gesellschaft, sie ist andrerseits auch das einzige, was gegen sie hilft. Die Krisenzyklen der freien Marktwirtschaft äußern sich auch in einem bizarren »Atmen« der Menschen in ihr. Sie brechen auf, wollen hinaus, lassen die Familie und das Innen zurück, um Karriere zu machen, Siege zu feiern und Zeichen zu setzen. Aber dort kommt früher oder später auch der Abstieg, die Niederlage, das Verlöschen. Vor dem Schrecken des Außen flieht man in die »Geborgenheit« des Innen; die Familie soll Frieden und Sinn geben, wo es die Welt nicht mehr kann. Aber durch diesen Rückzug wird die Familie auch unziemlich belastet; sie wird so bedeutend, daß sie ihren eigenen Schrecken gebiert; eine tödliche Falle wird, was gerade noch die Rettung schien. Sie muß gegen die äußeren Bedrohungen verteidigt werden, böse Eindringlinge müssen vertrieben oder getötet werden, dann muß sie gegen ihre inneren Widersprüche restauriert werden, vielleicht auf niederem Niveau, und am Ende nutzt nicht einmal das; dann kann man sie nur noch verlassen.

Es gibt kein Filmgenre, das diese grausame Dialektik zwischen dem Innen und dem Außen der Freien Marktwirtschaft so präzis wiedergibt wie der Thriller. Und wenn die Entwicklung dieses Genres als sozialpsychologische Kriegsberichterstattung gelesen wird, dann muss das, wovon sie berichtet, das Versagen der Familie als Auffanginstanz für den Mittelstand, in der Krise sein.

Der Hardcore-Horrorfilm der achtziger Jahre mit seinen Splatter- und Ekeleffekten war gewissermaßen eine Kampfansage des Innen gegen das Außen in der Freien Marktwirtschaft. Aus der Hölle des Konsumismus und aus den Hobby- und Heizungskellern der mittelständischen Vorstädte kamen die kannibalischen Zombies, die Kindermörder und die Poltergeister, die am Ende die Tempel der Konsumgesellschaft überfluteten, die Einkaufsstraßen und Supermärkte.

Am Ende dieses Jahrzehntes aber wurde das Horrorgenre eher marginal. Es kippte ins Parodistische um und träumte endlos den Stephen King/Steven Spielberg-Traum von der »normalen« Familie als einzigem Ausweg. Zur gleichen Zeit erlebte ein anderes Genre einen neuen Boom, der Psychothriller. Drei recht unterschiedliche Filme waren es, die den Aufstieg dieses Genres einleiteten. »Fatal Attraction« (Eine verhängnisvolle Affäre – 1987 – R: Adrian Lyne) erzählte von einem Paar, das sich nach dem Seitensprung des Mannes bis zur physischen Vernichtung gegen die Frau wehren muss, die das Spiel ernst genommen hat. Kathryn Bigelows »Blue Steel« (1990) handelte von einer Frau, die Polizistin werden muss, um den Schrecken ihrer Familie zu entkommen, und einem psychotischen Mörder gegenübersteht, der seine Mordtaten mit ihrer Waffe begeht, und Jonathan Demmes »The Silence of the Lambs« (Das Schweigen der Lämmer – 1991) von der Auseinandersetzung einer jungen FBI-Agentin mit einem mörderischen Transvestiten, der ganz buchstäblich in die Haut des anderen Geschlechts schlüpfen will, und einem kannibalischen Philosophen.

Diese Filme gaben nicht nur sehr präzis die Ängste der Zeit wieder, die Furcht vor Aids, die Furcht vor einer Emanzipation der Frau, die nur über die Gewalt führen konnte, die Furcht vor der Wirklichkeit des Wahns, die Furcht vor allem davor, dass diese Gesellschaft in nichts dem glich, was sie als ihr eigenes Ideal entworfen hatte, sie transponierten auch Elemente des blutsüchtigen Splatter Movies in die Mainstream-Produktion Hollywoods. So viel Grausamkeit, so viel Faszination des Bösen war dort nie, und die Entwicklung schien unumkehrbar.

Verwandt sind die Filme auch in ihren Schilderungen der heillosen Familien, welche die in ihnen verborgene Gewalt und Heuchelei nur allzu schnell freisetzen, und in der Aufkündigung des patriarchalischen Mythos: die Frauen finden weder bei den Männern noch bei ihrem Staat wirklichen Schutz. Sie müssen die Dinge selbst in die Hand nehmen, das heißt: sie müssen Gewalt anwenden, und das heißt: sie müssen schuldig werden.

Im Gegensatz zum »alten« Thriller, der gesellschaftlich vermittelte Aufklärung, psychologische Rationalisierung oder wenigstens das melodramatische Wirken des Schicksals als Notausgang gestattet, läuft der neue Thriller, der das amerikanische Kino am Beginn der neunziger Jahre zu beherrschen scheint, auf etwas anderes hinaus, auf das personale, körperliche und tödliche Duell zwischen den einander in erotischer und familiärer Struktur verbundenen Protagonisten: Es morden sich nicht nur Mann und Frau. Es morden der Vater die Tochter, die Mutter den Sohn, die Geschwister einander; Mord ist die einzige Antwort auf das Überschreiten der Grenze zwischen Innen und Außen. Mord ist die einzige Form von Liebe.

Der Weg des Grauens nach innen hat aber noch eine ganz andere, eher bizarre Ursache, nämlich den Verlust eines irgend beschreibbaren Feindbildes. Nur scheinbar reagiert ja das Gebot, »politically correct« zu sein, auf ein Misstrauen gegenüber der Ideologie, nur scheinbar trägt es der Entwicklung einer Gesellschaft zu mehr Humanität Rechnung, in Wahrheit ist es die avancierteste Form von Verdrängung und Zensur: auf die Sprachregelung folgt eine Bildregelung. Ungeachtet der gesellschaftlichen Realität darf das Böse nicht mehr vom Kommunismus ausgehen, der ist erledigt und es schickt sich nicht, auf einen Gegner einzuprügeln, der am Boden liegt; das Böse darf aber auch weder von Schwarzen, Latinos oder asiatischen Amerikanern ausgehen, es darf keiner Frau zugeordnet sein, auch keinem Homosexuellen. Alles, was eine Diskriminierung sein könnte, hat gefälligst zu unterbleiben. Aber mit der Sprache oder dem Bild haben sich die Strukturen nicht geändert. Wenn der Schurke in einem amerikanischen Mainstreamfilm nur noch ein weißer, angelsächsischer, protestantischer Mann sein darf, so ändert das überhaupt nichts daran, daß sich die Helden nach wie vor wie die Helden und die Schurken nach wie vor wie die Schurken verhalten. So sehen wir Frauen, Schwarze und Latinos, die sich wie weiße angelsächsische Protestanten verhalten, und weiße, angelsächsische, protestantische Schurken, die den nackten Wilden in sich zum Vorschein bringen. Man hat die Worte geändert, nicht aber die Grammatik. Die schwarzen, lateinischen, europäischen, weiblichen und gar homosexuellen Helden werden zu Helden, weil sie ihr Schwarz-, Lateinisch-, Europäisch-, Weiblich- und Homosexuell-Sein vergessen. Und umgekehrt sind die bösen weißen Schurken, heterosexuelle Familienväter, die Steuern zahlen und zur Wahl gehen, nur als böse Abspaltungen zu haben. Weiße Schatten.

»Politisch korrekt« ist es, über die äußere Konstruktion der Gesellschaft nichts mehr zu sagen. Die schwärmerischen neuen »Clinton-Filme« erzählen von einer Renaissance der Gesellschaft aus dem Geist der Passion füreinander, sie setzen Moral an die Stelle von Sinn. Zur gleichen Zeit geht die Entwicklung nach innen in absurde Tiefen; längst haben wir uns daran gewöhnt, daß Familien und Identitäten nach Belieben zerlegt, imitiert, neu zusammengesetzt werden können, das ist eine Frage der Gewalt. Mit einem Prospekt über die schönsten amerikanischen Städte, in denen man eine Familie gründen kann, zieht der Held der »Stepfather«-Filme durch das Land, nistet sich wie ein Virus des amerikanischen Traums in den unvollständigen Suburbia-Familien ein und wird, als die Familien dann doch nicht ganz dem Ideal entsprechen, zum kalten Mörder.

Aber noch tiefer sitzt ein anderes Monster, dasjenige, das sich alles hat einfallen lassen, das, in dem sich am augenfälligsten Imitat und Wirklichkeit verschränken muss: der Autor. Der Autor ist noch einmal der Held hinter dem Held und nun also das Böse hinter dem Bösen. Seine Phantasie ist nicht korrekt. Ihn zu retten kann nur ein Kampf bewerkstelligen, die Imitation des biblischen Kampfes zwischen dem Schöpfer und seinem Geschöpf. Dieses Motiv taucht immer wieder auch bei Stephen King auf; in »Misery« gerät der Autor in eine tödliche Falle, weil eine begeisterte Leserin nicht mit dem Ende einer Romanheldin leben will, und in »The Dark Half« sieht sich ein Horror-Autor mit seiner eigenen Kreation konfrontiert.

In einer Gesellschaft, die sich aus inneren und äußeren Gründen selbst nicht mehr wahrnehmen kann, muß also das Bilder- und Gedankenproduzieren selbst zur äußersten Gefahr werden. Stephen King hat das noch einmal in einer simplen und falschen Phantasie zusammengefasst, und seine Epigonen sind ihm dabei gefolgt: Da geht es immer um den »guten« Autor, den rationalistischen Menschenfreund, der sich von seiner anderen Hälfte, dem »bösen« Autor, der das von Sex & Crime beherrschte kollektive Unbewusste seiner Leser bedient, absetzen muss. Dafür wird er bestraft, und seine Strafe ist Opfer und Reinigung.

Was macht die Bücher von Stephen King so höllisch populär? Einmal abgesehen davon, dass man sie so lesen kann, wie man Marshmallows ißt, und daß King sich vorzüglich im Fundus der populären Kultur auskennt, hat er nicht mehr und nicht weniger als ein kleine Religion für den Mittelstand geschaffen.

Deren zentrale Aussage ist es, daß die Kräfte des Bösen am allerehesten von eben jener Organisation bezwungen werden können, die sie recht eigentlich erst einmal erzeugt, nämlich der kleinbürgerlichen Organisation der Intimität, von Liebe, Freundschaft und nachbarlicher Solidarität. Unter dem Einbruch des Phantastischen entdecken Kings Helden in sich Fähigkeiten, die unter ihren sozialen Bedingungen schon verloren schienen; so kippt früher oder später jede King-Erzählung von einer entlarvenden Horrorgeschichte in ein erlösendes Abenteuermärchen um. Das Auseinanderbrechen der sozialen Strukturen wird damit beantwortet, daß die verbliebenen Partikel besonders eng zueinander stehen.

George A. Romero und Stephen King arbeiten seit längerem regelmäßig zusammen. King war Schauspieler in Romeros »Knightrider« und inszenierte den Episodenfilm »Die unheimlich verrückte Geisterstunde« nach King-Storys als knallige (und moralische) Horror-Comics. Romero war »graue Eminenz« hinter den TV-Projekten Kings und sollte ursprünglich den »Friedhof der Kuscheltiere« inszenieren.

Romero ist für den Horrorfilm nicht minder bedeutsam als King. Er ist gleichsam die materialistische Korrektur zu Kings Familiengeschichten. Romero hat in Filmen wie »The Crazies«, »Dawn of the Dead« oder »Martin« einen Blick für das Böse in der Gesellschaft entwickelt, und wie Kings Arbeiten vom Umschlagen in die Sentimentalität, so sind Romeros Arbeiten vom Umschlagen in die Komik bedroht.

Die Abmachung für die Verfilmung von »The Dark Half« sah vor, dass sich jeder vor seinen Schwächen in acht nahm; nicht sentimental und nicht grotesk sollte der Film werden, sondern ein straighter Horror-Thriller, ein ganz ernsthafter Film zur Zeit. Zum ersten Mal arbeitet Romero für eine große Produktionsgesellschaft, und das sieht man dem Film an. Es ist ein Film, der, statt die Kräfte der Peripherie zu entfesseln, das Zentrum zu schützen bestrebt ist. Die amerikanische Familie, zum Beispiel.

Eine Vorgeschichte: Ein Junge wird von heftigen Kopfschmerzattacken geplagt, im Krankenhaus stellt sich heraus, daß er einen Zwilling im Kopf mit sich herumschleppt. Nachdem man ihn operativ von dem gefährlichen embryonalen Bruder befreit hat, prallen hunderte von Sperlingen an das Fenster der Klinik. Sie werden als Boten des Unglücks die Handlung begleiten. Später werden wir erfahren, daß Sperlinge schon in der griechischen Mythologie den Übergang vom Reich der Lebenden zu den Toten ankündigten.

Jahre später. Thad Beaumont ist Englischlehrer, hat ein schönes Zuhause, eine schöne Frau und ein schönes Zwillingspaar von Kindern. Der gehobene Lebensstil der Familie verdankt sich freilich einer Nebenbetätigung: Unter dem Pseudonym George Stark publiziert Beaumont krude Mordromane. Ganz geheuer ist Liz nicht, wie Thad sich in diese zweite Identität hineinschafft. So ist sie nicht unglücklich, als er eines Tages durch einen Erpresser gezwungen wird, diesen Autor und seine Schöpfung mehr oder minder theatralisch zu begraben.

Kurz darauf wird der Fotograf dieses eher geschmacklosen Pseudo-Begräbnisses brutal ermordet, und es folgen weitere Mordtaten, die alle mit dem Autor in Zusammenhang stehen. Sheriff Pangborn, ein Freund Beaumonts aus alten Tagen, versucht, Thad zu schützen und hält einen wahnsinnigen Mörder, der sich rächen will, für den Täter. Aber Thad selbst begreift langsam, nachdem er wie unter Trance auf ein Papier geschrieben hat: »Die Sperlinge fliegen wieder…«, die wahre Bedrohung: George Stark ist vom Wort zum Fleisch geworden. Er verlangt von ihm, seinen Tod aufzuhalten, indem er weitere Romane schreibt. Nachdem Thad bei dem Arzt, der ihn operierte, erfahren hat, was damals wirklich geschehen ist, bringt Stark zuerst den Arzt um und bemächtigt sich dann Beaumonts Familie. Doch in der letzten Auseinandersetzung erweist sich die »gute« Hälfte Beaumonts überlegen. Und am Ende kehren auch die Sperlinge, nachdem sie den bösen Stark vernichtet haben, dorthin zurück, wo sie hergekommen sind (in irgendein Loch in der Matte-Painting, um genau zu sein).

King und Romero erzählen die Geschichte nicht ganz so platt, wie es hier den Anschein hat; sie bauen geschickte Retardierungen ein, interessieren sich hier und da für Nebenpersonen und haben in Timothy Hutton einen kleinen Meister in der Darstellung wachsenden Selbstzweifels. Dass er als George Stark in der Maske eines Tough guy der fünfziger Jahre auftritt, eine groteske Mickey-Spillane-Paraphrase, macht gewiss auch etwas über das gewandelte Männerbild der amerikanischen Kultur sichtbar. Ganz nebenbei behandelt der Film die Frage, was denn bei der Entwicklung des »neuen Mannes« und der Entwicklung des neuen Mittelstandes (der, wie wir sehen, mit Verelendung auf der einen, Korruption auf der anderen Seite zu kämpfen hat) geschehen ist. Die Antwort ist politisch korrekt.

»Stark« ist ein Film, der so sehr von Angst besessen ist, dass er nicht einmal mehr wirklich Angst machen will. So wie er am Anfang die Genesis des Bösen überdreht – ist es nun der ungeborene Zwilling oder die literarische Schöpfung, die das furchtbare Gemetzel auslöst oder ist es, noch tiefer, der Ungeist der Popular Culture, dem Autor und Regisseur doch so viel verdanken und dem sie zugleich, irgendwie, zu entfliehen trachten – so setzt er ein Übermaß an Erlösungsbildern dagegen. Schon in Beaumonts adretten, fein säuberlich (übrigens auch in den Farben) getrennten Zwillingen ist eigentlich schon alles gesagt: so und in der grandios wuchernden Spielzeugplastikwelt, in der sie aufwachsen, läßt sich die Furcht vor der Verschmelzung und die Sehnsucht nach Nähe miteinander verbinden. Eine ursprüngliche Einheit weiß der Himmel welcher Widersprüche, der die heimliche Sehnsucht des Horrorgenres von jeher galt, wird in diesem Film unablässig bekämpft: Seine große Sehnsucht sind die klaren Farben und Formen, lieber eine synthetische Ordnung als ein authentisches Chaos. Die wahren Konflikte werden denn auch nicht mehr wirklich ausgeführt. Thad muss sich zum Beispiel in einer Bedrohungssituation für eines seiner Kinder entscheiden, darüber wischt der Film sehr schnell hinweg; Beaumont und Stark kämpfen miteinander und scheinen doch verdammt wenig voneinander zu wissen; die Frau wird wieder gefesselt, der Polizist wieder ein Held, und am Ende darf, seit langem wieder einmal, wirklich aller Schrecken vorbei sein.

»Stark« ist gewissermaßen der erste clintonianische Anti-Horrorfilm, der all die zynischen und einfachen Wahrheiten, die das Genre in den letzten beiden Jahrzehnten über die Organisation von Gesellschaft, Familie, Ökonomie und Kultur zu verbreiten hatte, revidiert. Er plädiert dafür, die bösen Träume zu zügeln, bei der Organisation des Alltags nicht allzu viel in die eigenen Abgründe zu blicken und nett zueinander zu sein. Das verläßliche Innen muß nun nicht mehr gegen eine äußere Bedrohung, gegen eine soziale Infektion verteidigt werden, sondern gegen jenes noch tiefere Innen, das aus der Neurose als Überlebensprinzip kommt, an die wir uns gerade gewöhnt hatten. In »Stark« werden am Ende wieder klare Verhältnisse geschaffen, auch wenn man an sie nicht wirklich glaubt. Der Film gehorcht damit exakt jener magischen Autobiographie, aus der sich Kings Wirkung nährt: die Überwindung des Traumas durch die Konstruktion der Bescheidenheit. Und zugleich kreieren Roman und Film eine Art Mythos der Aufklärung: Sie sind so durchsichtig konstruiert, dass wir das Gefühl haben können, jemand wolle da wirklich dem Wesen der Alpträume auf die Spur kommen. Aber es ist nur die Konvention des Allgemein-Bekannten, die sich da auftut. Statt hinter den Mythos zu sehen, sehen wir seiner Konventionalisierung zu; wir nehmen uns in den Arm und sagen, daß wir diese furchtbaren Träume alle irgendwie kennen und freuen uns auf die Verlässlichkeit des Alltags. Weil alle Vermischung aufgehoben ist, das Verschmolzene getrennt, das Formlose geformt, das Lebende zum Lebenden und das Tote zum Toten gebracht ist.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in Konkret 06/1993