Der Film beginnt mit einem kleinen Angriff auf uns, das Kinopublikum. Da setzen sich ein smarter junger „Gangster“ und seine schöne Gangsterbraut in die erste Reihe eines Kinos und lassen sich auf einem kleinen Tisch vom Feinsten zu essen und trinken auftragen. Mit einem kalten Lächeln begrüßt der Gourmet-Gangster uns und macht uns gleich darauf aufmerksam, dass er Leute, die im Kino geräuschvoll Chips essen, nicht leiden kann. Das macht er dann gleich auch einem Zuschauer handgreiflich klar. Und übrigens mag er auch diese piepsenden Uhren nicht. Ertappt blicke ich auf meine 9,99-DM-Casio, der ich das Piepsen immer noch nicht habe abgewöhnen können. Und für einen Augenblick denke ich an ein Kino in Tokyo, in dem 144 von den 210 Zuschauern genauso erschreckt auf ihre verdammten Piepsuhren sehen.

Dann folgt ein Film, der eine Hauptgeschichte erzählt, um die locker einige Episoden und Beobachtungen gruppiert sind. Die Hauptgeschichte, die einem besseren Bud-Spencer- & Terence-Hill-Film zur Ehre gereichen würde, ist schnell erzählt: Ein Trucker, der wie ein japanischer Westerner aussieht, kommt mit seinem Milchlaster und seinem Kumpel in eine Stadt. Sie finden ein kleines Restaurant, in dem eine junge Witwe Ramen, die japanische Nudelsuppe, kocht und serviert. Das Lokal geht nicht besonders, und so beschließen die beiden, der Frau zu helfen. Zuerst einmal muss die Suppe selbst verbessert werden. Urn dies zu erreichen, werden die Rezepte der Konkurrenz mit allerlei Tricks ausspioniert, und man verbündet sich mit einigen eher skurrilen Leuten. Als dann das ideale Rezept für Ramen gefunden und die Witwe in puncto Präzision und Schnelligkeit geübt ist, verlassen die beiden Trucker die Stadt wieder. Und damit die SHANE-Parodie noch deutlicher wird, muss der Trucker auch noch den kleinen Sohn der Witwe, der täglich verprügelt zu werden pflegt, Zum „Mann“ machen, der sich zu verteidigen weiß.

Ein japanischer Nudelsuppen-Western, der den Ehrgeiz hat, auch noch über den Zusammenhang zwischen Essen und Liebe zu berichten, ist eigentlich das, was ich mir schon immer zu sehen gewünscht habe. Und das Vergnügen daran erhöht sich durch die kleinen Episoden: ein Gangsterpärchen, das mit mehr oder minder heiliger Lust mit Nahrungsmitteln herumferkelt; ein weiser Ramen-Kenner, der einem Schüler genaue Anweisungen gibt, wie und mit welchen Gedanken die Nudelsuppe am besten und würdevollsten zu vertilgen ist; ein Mann, der fürchterliche Zahnschmerzen hat und darum an einem opulenten Mahl kein Vergnügen findet und der nach erfolgreicher Behandlung bei einem Zahnarzt nichts Besseres zu tun weiß, als einem Kind, dem die Mutter ein warnendes Schild umgehängt hat („Ich esse nur Vollwertkost. bitte geben Sie mir keine Sülügkeiten“), sein Speiseeis aufzudrängen etc. Und dann begegnen wir auch dem Tod: eine Ehefrau kocht ihrer Familie, kurz bevor sie stirbt, noch ein Essen, der angeschossene Gangster verblutet, während er seiner Freundin noch einmal von kulinarischen Freuden vorschwärmt, und für besondere Gourmet-Freuden müssen Tiere auf einigermaßen barbarische Art zu Tode gebracht werden.

Daß dies ein Film nicht nur über das Essen, sondern auch über die japanische Kultur ist, macht ihn mir unzugänglicher, als er eigentlich zu sein scheint, und sein angeblich „enormer“ Erfolg in Amerika und England stimmt mich eher misstrauisch. Als die höheren Töchter in einem Nobelrestaurant Spaghetti-Essen lernen sollen und die Lehrerin erklärt, im Ausland würde man nie verzeihen, wenn beim Verzehr der langen, durch die Soße gezogenen Nudeln irgendein Geräusch entstünde, sieht man einen Italiener genüßlich seine Spaghetti schlürfen, und da ist der Damm gebrochen: Die höheren Tüchler schlürfen, schmatzen und kleckern, daß es eine Freude ist. Das mag zuerst einmal einen comic relief geben für alle Menschen, die einmal unter dem Streß gestanden haben, fremdländisches Essen und fremdländische Tischsitten imitieren zu wollen (oder gar zu müssen): Essen, so lautet eine Botschaft von Itamis Film, ist schon deswegen der Liebe so verwandt, weil es eine so individuelle, nicht wirklich reglementierbare Lust ist.

Was Itami seiner eigenen Kultur zu sagen hat, kann ich nur ahnen (ich denke, es ist nicht frei von Bösartigkeit), uns nimmt er, auch das nicht ohne sarkastische Freude, durch die Verknüpfung westlicher Mythen mit japanischen Phänomenen ein paar Illusionen: Die Fremdheit ist nur Inszenierung, Illusion, Ritual, Erfindung. Freilich will ich andrerseits gern glauben, dass eine gute Ramen-Küche auch die letzte Verteidigung japanischer Kultur sein kann.

Aber da ist noch etwas anderes in TAMPOPO. Itamis Blick aufs Essen und auf Menschen, die sich mit ihm beschäftigen, ist durchaus indiskret, fetischistisch, es hat eine Intimität, die den Ekel ebenso miteinschließt wie die Faszination. Ich habe noch nie einen Film gesehen, in dem die Kamera so beharrlich auf Einzelheiten der Essenszubereitung und der Anordnung von Nahrungsmitteln verweilt. Dabei also trifft Itami, der Ieichten, sarkastischen Darstellunsweise seines Films zum Trotz, ein Tabu filmischer Gestaltung. Der Film sollte ja, denken wir, den Menschen nicht beim Geschlechtsverkehr, nicht bei der Geburt, nicht bei Verwundung,  Operation und Schmerz, nicht heim Sterben und wohl auch nicht allzu genau beim Essen zusehen dürfen. Wenn er es trotzdem tut, braucht er einen triftigen Grund. Im Falle von Itami ist es die Liebe; er gelangt zur Intimität seiner essenden Menschen dadurch, dass er sie so spürbar liebt, möglicherweise kommt er gleichzeitig zur Liebe durch die intime Beobachtung. Aber vielleicht kann andererseits wiederum jemand, der die Menschen so liebt, nichts Ernsthaftes über das Essen aussagen, dass eine Sprache unserer Kulturen ist, und vielleicht tun wir gut daran, TAMPOPO als hübsche Alberei zu genießen, ohne daran zu denken, dass die Groteske hier schon aus einem Verlust der Selbstverständlichkeit entsteht.

Itamis Film hat keinen Stil, keine eigene Form von Realismus, keine durchgängige Vision. Er stellt Bilder ungefähr so zusammen, wie man Teile eines Menüs zusammenstellt; die Kunst dabei ist, zugleich Harmonie und Kontrast, eine langsam sich entwickelnde Rundheit und Spannung bis zum Ende zu schaffen. Dabei entsteht nicht unbedingt kulinarisches Kino: um Magen, Augen und Herz nicht zu überfordern, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns statt mit den Gästen mit den Köchen zu identifizieren. Filme und Mahlzeiten haben gemeinsam: sie wurden gemacht.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in epd Film 6/89