Der Höhenflug des sinkenden Schiffs: Das Medienereignis „Titanic“

Wahrscheinlich darf man jeden getrost einen Lügner heißen, der von sich behauptet, er habe den überwältigenden Erfolg von James Camerons Film TITANIC vorausgesehen. Erfolg nicht nur an den Kinokassen und in den Herzen der Kinogänger. Erfolg auch als ein eigentümlich mit Schwerbedeutung aufgeladenes Medienereignis, das nicht nur das übliche Merchandising und den fälligen „Spiegel“-Titel emaniert, sondern auch jenen schwer zu denken gibt, denen das schwere Denken zum Beruf geworden ist. Hinterher ist man immer schlauer. So schwer es fällt, einen Medienerfolg vorauszuberechnen, so leicht ist es, ihn anschließend zu erklären.

Als die Nachrichten von der 200-MillionenDollar-Produktion TITANIC spärlich zuerst, dann in melodramatischer Fülle zu fließen begannen, raunte man gern von einer möglichen finanziellen Katastrophe des Desaster-Love-Story-Films. So etwas wie Michael Ciminos HEAVEN’S GATE oder wenigstens der Costnersche Krampf von WATERWORLD drohte sich zu wiederholen: Die große Strafe für den Größenwahn der Traummaschine, ausgeführt von uns, dem Publikum, das schließlich und gefälligst das letzte Wort hat. Daß es bei der TITANIC genau anders herum funktioniert hat, daß nämlich eine Superproduktion mit einem ziemlich durchschnittlichen, wenn zwar wohlbalancierten, Ergebnis mit einer ziemlich durchschnittlichen Werbekampagne zum Mega-Hit wird, bringt uns unter anderem auf den unangenehmen Gedanken, dieses Katastrophenspiel, das sich so trefflich zum Thema das Films kongruent verhält, sei letzten Endes gar Teil der Inszenierung des Medienspektakels gewesen.

Und offensichtlich gehört es zur Aura des Films, dass er nichts von Größenwahn an sich hat, schon gar nichts von ästhetischer oder wenigstens technischer Grenzüberschreitung. Er repräsentiert den state of the art der Filmproduktion, ist von schöner, angemessener Perfektion, ohne in neue Regionen aufzubrechen. Der Film verbirgt seinen Reichtum nicht, stellt ihn aber auch nicht als Fortschritt aus. Er wendet seine technische Macht nicht ins Zukünftige, sondern in die Vergangenheit, nicht auf die Projektion des Ungesehenen, sondern auf den Glamour des Wohlbekannten. Von wahrhaft beängstigender Perfektion ist auch die Verwendung der digitalen Technik noch weit entfernt.

Sieht man einmal von dem durchaus geschickten Crossover zwischen Katastrophenfilm, Soap Opera und Tearjerker ab, ist eine der Meta-Botschaften von TITANIC die Altmodischkeit. Es ist der Film, der beweist, daß der Angriff der coolen Postmodernen, von Tarantino, Lynch oder den Coens, auf die Linearität der Erzählzeit und die Eindeutigkeit des Raums abgeschlagen werden kann. Die Titanic sinkt und Hollywood restauriert darin seine alten Erzähl- und Identifikationsstrategien. Wir haben es so gewollt.

Die elf Oscars, darunter die wichtigsten für den besten Film, die beste Regie, die beste Kamera und den besten Schnitt, bestätigen noch einmal TITANIC als „erfolgreichsten Film aller Zeiten“ und Cameron als den „König“ der Traumwelt. Und daß es die Gestalter und nicht so sehr die Gestalteten (die Schauspieler) sind, die ausgezeichnet werden, macht noch einmal deutlich, dass wir für das mediale Großereignis „Authentizität“ nicht mehr benötigen.

Was also macht den Erfolg aus? Abgesehen davon, dass es dem unbeschwerten Konsum einfach keinen Widerstand entgegensetzt? Es treibt gewiß die beiden heftigsten Zeitströmungen aufeinander zu: einerseits die Katastrophenphantasie, die Milleniums-Ängste und die Todessehnsucht im Spätkapitalismus, für die es keinen Ausweg und keine Alternative mehr zu geben scheint, andererseits die Sehnsucht nach dem großen Gefühl, der unbedingten Liebe nach all den verlorenen Freiheitskämpfen, nach der emotionalen Regression. Dass dabei etwas zusammenkommt, ja einander verstärkt, was noch vor nicht allzu langer Zeit eher als Widerspruch gedacht wurde, gehört zu den Grund Voraussetzungen des Mythos. Der Untergang wird erotisiert und die Erotik mit dem melancholischen Gestus des Untergangs aufgewertet. Der Vergleich Mit VOM WINDE VERWEHT ist also gar nicht so weit hergeholt: Auch da ging es um die prächtige Bebilderung des Untergangs einer Kultur, eine Dekadenz-Erfahrung, die sich erfolgreich in einer Gesellschaft erwies, in der man ein ganz ähnliches Gefühl der Endzeit haben musste. Auch in der Titanic geht eine längst schon untergegangene Gesellschaft stellvertretend für eine bürgerliche Gesellschaft noch einmal unter, die ihren Untergang zugleich fürchtet und ersehnt.

Das erscheint auf den ersten Blick ein wenig zu viel an gedanklichem Aufwand für einen Film, in den so viele Leute ein, zwei, viele Male gehen, einfach nur, um hemmungslos heulen zu dürfen. Aber genau darin besteht die Wirkung des Films, dass sich ganz einfache, sentimentale Gefühle mit einer umfassenden politischen Metapher vereinen. Die Liebes- und Opfergeschichte zwischen dem jungen Proletarier und der Bürgerfrau ist vielleicht, wie Hans Magnus Enzensberger bemerkt, wirklich auch eine Art mediales Substitut für den Klassenkampf, den es ja in der Wirklichkeit nicht mehr geben darf. Auf der Titanic, im Augenblick des Untergangs, werden wir nicht nur „gut“, wie es die Katastrophenphantasie und die entsprechenden Filme so lange schon phantasieren, wir werden auch richtig glücklich. Die Verlierer und die Gewinner des neoliberalen Kapitalismus träumen von einer erotischen Vereinigung – die vom Oberdeck und die vom Zwischendeck lassen sich von den sozialen Grenzen nicht abhalten. Zur sozialen Wirklichkeit verhält sich TITANIC ungefähr so wie jene melodramatischen Theaterstücke der Wanderbühnen im Westen der USA zur Zeit der „Indianerkriege“: Nachdem man sich von der hundertsten Variation der Liebesgeschichte des Westerners mit der schönen Indianerprinzessin rühren ließ, ging man raus und killte ein paar Rothäute. Nachdem man über den Liebes- und Untergangstraum auf der Titanic geheult hat, geht man raus, und schimpft auf das Pennerpack auf der Straße – so hautnah erlebt am Ausgang eines Münchner Kinos. Eine Rettungsphantasie für eine Gesellschaft, in der man sich nicht einmal mehr gegenseitig helfen mag.

Zum Wesen der Unterhaltung, so hat Henri Lefebvre gesagt, gehört der möglichst radikale Bruch mit der äußeren Wirklichkeit. Insofern funktioniert der Film nicht anders als die große Inszenierung „Dianas Tod“ in den Medien: Die einzige Wahrheit darin ist der grenzenlose Bedarf an Emotionalisierung, die auf reale Weise nicht zu haben ist. Andererseits bemerkte Bert Brecht: „Die Unterhaltung mag zum Unterhalt gehören und doch in ihrer spezifischen Form den Unterhalt zugleich bedrohen.“ Die Frage ist also stets, wieviel Betäubung und wieviel Protest ein Film enthält. Auch TITANIC betäubt und protestiert zugleich, und während er gegen den Verlust der Liebe in den Zeiten des Neokapitalismus und gegen die soziale Ungerechtigkeit protestiert, betäubt er uns mit seiner Sex- und Untergangsphantasie. Er ist zugleich reaktionär und politisch korrekt, die moralische Absolution für eine üble soziale Praxis, und damit nicht schlechter oder besser als unsere gewohnten medialen Überlebensstrategien. Nur größer.

Natürlich gibt es noch andere, trivialere Gründe für den enormen Erfolg dieses Films. Ab einem gewissen Punkt wird ein Medien-Ereignis zum Selbstläufer, der Erfolg potenziert sich ohne weiteres Zutun von selbst, wenn man das Gefühl hat, einer allgemeinen Veranstaltung nicht fern bleiben zu dürfen. Die Medienmultiplikation – Bücher, Ausstellungen, touristische Attraktionen, CDs, Internet-Chats, Poster und Modellbasteleien – tut ihr übriges. Die neueren medialen Marktstrategien reichen vom Kinderspielzeug über romantische Teenager-Träume, mehr oder weniger Historisches bis hin zum gehobenen Feuilleton mit seiner nimmermüden Suche nach tieferer Bedeutung. Das Superzeichen verbindet den feuilletonistischen Essay mit dem Kinderspielzeug, so wie der Film das Sex-Symbol mit der technischen Phantasie verbindet, die klassischen Merkmale der „weiblichen“ und der „männlichen“ Genres.

Die Gefahr solcher Konsens-Produkte ist es, dass sie noch die kritische Geste in ihre Inszenierung miteinbeziehen. Sie werden sozusagen auch von der anderen Seite her zum vollständigen Politik-Ersatz, so als drücke sich eine Gesellschaft nicht mehr in ihrer Verfassung und ihren Gesetzen, in ihrer Herrschaft und in ihrer Ökonomie aus, sondern in ihren Medien-Ereignissen. Auf dem Umweg über vollgeheulte Taschentücher verliert auch die kritische Reflexion zusehends ihren Gegenstand. Das Medienereignis erhält alle Anzeichen einer Religion, einschließlich ritueller Ketzerverbrennungen. Es setzt sich wellenförmig in immer weitere Bereiche fort, erfasst Menschen, die noch vor kurzem entweder das Kino schon ein für allemal verlassen zu haben schienen oder sich als definitiv kitsch-resistent wähnten. Im Umkreis der medialen Ersatzreligion gibt es nichts Triviales, nichts Unbedeutendes mehr. Dass zum Beispiel Leonardo DiCaprio, gewiß einer der Erfolgsgaranten des Films, aus dem Oscar-Segen von vorneherein ausgeschlossen war, scheint im Nachhinein weniger Beleg für die Unbestechlichkeit der Motion Picture Academy als für die endlose Selbstwiederholung des Mythos: der Schöne wird durch das Verlieren immer noch schöner.

Auch die Liebesgeschichte von TITANIC ist eine merkwürdige Verknüpfung des Alten und des Neuen. Zwar ist, sozusagen mit Gewalt, die romantische Liebe wieder in ihr Recht gesetzt (einschließlich der Notwendigkeit, durch den dramatischen Abgang eines Partners alles schmerzhaft Triviale auszublenden), aber ihre Protagonisten haben durchaus zeitgenössische Wandlungen vollzogen. So oszillieren die Rollen des Weiblichen und des Männlichen; nicht zuletzt spukt ja auch so etwas wie eine Emanzipationsgeschichte im Arrangement. Das eher irdische Wesen ist die Frau, das eher engelhafte der Mann.

Schließlich befinden wir uns offensichtlich in einer generellen Nostalgie-Phase. Der Ozeandampfer ist nicht nur in seiner gesellschaftlichen Metaphorik, sondern auch als technisches Bild etwas, das wir als „schön“ empfinden. Technik und Ästhetik sind noch eins – auch und gerade in ihrem sexuellen Symbolgehalt. Dieses Schiff ist der wahre Körper des Industriezeitalters, es ist, auch im Drama des Untergangs, ein letzter Triumph des Sichtbaren in der Welt. Die Titanic geht daher nicht nur für unsere Sünden unter, nicht nur als Protest der Natur gegen den Fortschritt und als nachvollziehbares Bild für die Unfähigkeit, ja Durchgeknalltheit der „Führung“, sie geht nicht nur unter, weil sie den schönen Liebestod zum Super-Zeichen adelt, sie geht auch unter, um einen neuerlichen sozialen Wandel zu begleiten, den Wandel von der Spaßgesellschaft zur Emotionsgesellschaft.

Damit sind wir wieder bei der „altmodischen“ Machart des Films: Er rekonstruiert mit allen ihm zur Verfügung stehenden neuen Mitteln die alten Vorstellung der Einheit von Person, Zeit und Raum. Wenn sein Schiff untergeht, wird der Mensch paradoxerweise wieder zum Subjekt seiner Geschichte.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in epd film 5/98