Japan hat eine besondere Stellung in der Kulturgeschichte des ausgehenden Jahrhunderts: es dient als Beweis für grenzenlose Assimilation an den technischen und ökonomischen Fortschritt und fast ebenso grenzenlose Selbstgleichheit. In Japan ist alles zu finden, was der Amerikaner oder Europäer gewohnt ist, und es ist doch alles so anders, dass man weiß, man wird nicht aufhören, das erregende und auf merkwürdige Art klärende Gefühl der Fremdheit zu verspüren. Die Amerikanerin Fran Rubel Kuzui, die mit ihrem japanischen Mann Kaz Kuzui als kulturelle Vermittlerin zwischen den Filmkulturen der USA und Japans wirkt, hat in TOKIO POP eine eigene Erfahrung verarbeitet, in einer luftigen Rock-Love Story verpackt, aber mit genauem Blick für die kleinen und mittleren Crashs zwischen den Kulturen.

Die New Yorker Rock-Sängerin Wendy hat wieder einmal umsonst auf ihre Chance gewartet und ist dementsprechend entnervt. Da kommt eine Karte ihrer Freundin gerade recht, die davon erzählt, wie leicht man als Amerikanerin in Tokio Karriere als Sängerin machen kann. Also macht Wendy sich auf, doch als sie in der Stadt ist, hat ihre Freundin sie schon wieder verlassen. Sie ist allein in Tokio, wo kaum jemand Englisch spricht und die Straßen nicht einmal Namen haben. Sie findet Unterschlupf in einer Pension namens „Mickey House“, wo sich die „gajins“, die westlichen Fremden, treffen, und einen Job als Hostess in einem Club, wo sie „Home, Home on the Range“ für müde Geschäftsleute singt, sich als blondes Dekorationsstück in Ritualen sieht, die sie nicht versteht, und einigermaßen fassungslos dem um sie herum produzierten Frohsinn gegenübersteht.

Als sie eines Abends den letzten Zug verpasst hat und kein Taxi nehmen kann, weil sie keine Adresse anzugeben weiß, findet sie Zuflucht in einer Nudelküche, wo sie den Rocksänger Hiro, glühender Verehrer von Jimi Hendrix und Mick Jagger, kennenlernt. Endlich jemand, der Englisch spricht! Wendy erklärt ihm ihre missliche Lage, und weil Hiro auf alle ihre Erklärungen mit einem begeisterten „Sure“ reagiert, fühlt sie sich verstanden. Doch zwischen „Verstehen“ und „Nicht-verstehen“ liegen 1001 Abenteuer, Katastrophen und überraschende Erkenntnisse. Dass man hier unter „Hotel“ Etablissements versteht, in denen man sich lieben kann, weil das in der drangvollen Enge der Wohnungen nicht möglich ist, ist nur das erste einer Reihe von kulturellen Missverständnissen, die eine ebenso komplizierte wie romantische Liebesgeschichte begleiten. Und überdies werden Wendy und Hiro ein gefeiertes Pop-Duo, das nicht zuletzt durch seine eigenwilligen Promotion-Impulse zur Sensation der Teenie- und Klatschblätter wird.

Aber Wendy erkennt bald, dass ihre Popularität vor allem dem Umstand zu verdanken ist, dass sie als „gajin“ eine exotische Erscheinung ist, und so reift ihr Entschluss, in die USA zurückzukehren. Auf dem letzten Konzert löst sich Hiro vom Nachspielen westlicher Pop-Oldies und trägt einen eigenen, ganz unjapanisch persönlichen Song vor, Liebeserklärung und Abschied zugleich. Fran Rubel Kazui träumt schon von „Tokio Pop II‘, wo Hiro nach New York kommt …

Diese Story ist der ideale rote Faden für eine Reise durch eine Stadt, in der man weder einen Führer, noch eine Karte hat und die, anders als andere Städte, auch nicht das Geringste dazu beizutragen scheint, sich selbst zu erklären. Auch die Regisseurin erklärt diese Stadt nicht, aber sie macht uns aufmerksam auf Dinge, die gespenstisch und verrückt erscheinen mögen, und sie tut das in Form einer liebevollen Groteske. Das „Tafelbild“ einer japanischen Familie, die sich der Fast-Food-Invasion gebeugt hat, erscheint ebenso melancholisch-komisch wie die tausendfältigen Popstar-Imitationen der Kids im Yoyogi-Park jene Komödie der Aneignung von „Formen ohne Inhalt“ konstituieren, als die sich der Modernisierungsprozeß der japanischen Kultur dem „gajin“ zeigen mag. Und Wendy macht es, erfolglos freilich, nach, indem sie eine hingerotzte Punk-Version von „Home on the Range“ einem Publikum präsentiert, das weder aus dem Inhalt noch aus der Form noch gar aus dem Widerspruch zwischen beidem klug werden kann.

Was diese kleine cross culture-Komödie bemerkenswert macht, einmal abgesehen davon, daß sie genauer als sonst den Zusammenhang zwischen Tradition, Pop und Jugend beschreibt, ist die treffliche Balance zwischen Ironie und Trauer. Man gerät in den Sog einer gleichsam institutionalisierten kulturellen Auflösung, und die Konfrontation zweier so grundverschiedener Arten, mit den Waren, Zeichen und Gesten der populären Kultur umzugehen, zeigt auch deren Ferne vom Menschen. Die Reklame, die uns die Regisseurin immer wieder wie beiläufig präsentiert, ist stets um so vieles gigantischer als das, was sich an menschlicher Produktivkraft dahinter verbirgt, wie aller Lebensraum so eng ist, daß ihn ein westliches Verhalten in unerträgliche Gefangenheit verwandeln muss. Der Widerspruch der Kulturen Iiegt nicht in Form und Sprache allein, sondern vor allem in einer Verschiebung der Verhältnisse von Distanz und Nähe, und dies in die Bewegung (und manchmal die Unbeweglichkeit) der Bilder übersetzt zu haben, ist eine der Meriten von TOKIO POP. Die Lösung der Konflikte ist gewiß wiederum sehr amerikanisch geraten: Zwischen dieser und jener Kultur entscheide dich für dich selbst! Aber das wiegt gering gegenüber der Freude an einem Film, der uns so viel von Japan zeigt, daß es uns fremd bleiben darf.

Freilich: Wegen der Musik muß man diesen Film nicht unbedingt sehen wollen. Carrie Hamilton aus der TV-Serie „Fame“ singt professionell und nicht ohne Inbrunst, Yutaka Tadokoro und seine Band „Red Warriors“ haben beste Entertainer-Qualitäten, aber das alles ist so sehr Mainstream (wie „Furuank Shinatora“ – Frank Sinatra – wolle Hiro sein, sagt er einmal), so gefahrlos und überarrangiert, daß auch der rebellische Gestus zur Form ohne Inhalt wird. Da aber gerät der Film in die Gefahr der Selbstaufhebung. Wie sollte Musik unser kulturelles Reisemittel werden, wenn sie nicht selber aufregend ist?

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in epd Film 8/98