Ettore Scola, der poetische Rationalist des italienischen Kinos, gehört zu den „kleinen Meistern“, deren Filme zwar geschätzt, manchmal, wie im Fall UNA GIORNATA PARTICOLARE sogar überschätzt werden, deren Arbeit aber kaum im Zusammenhang von Leben, Werk und Methode dargestellt sind. Nicht einmal in Italien selbst lässt sich reichhaltigeres monografisches Material zu einem Regisseur und Autor finden, dessen Themen, immer wieder etwa die Identitätskrisen von älteren Männern, welche die sozialen Anforderungen nur zu gut und die emotionalen nur zu schlecht erfüllt haben, und dessen Methode, jenes geduldige Beobachten, das allen Personen und Dingen die Möglichkeit gibt, mehr und anderes zu sein als nur Baustein von Drama und Fabel, für ein mittleres europäisches Kino stehen könnte, jenseits der leeren Pracht gebildeter Ausstattungsstücke und jenseits der Hollywood-Zitate und Imitate. Gerade in der scheinbaren Langsamkeit, in der klaren, fast bescheidenen Konstruktion (neben Zwei-Personenstücken wie MACCHERONI stehen Filme wie LE BAL, die aus der Einheit des Schauplatzes entstehen, oder aus einer einfachen Bewegung wie LA NUIT DE VARENNES) gelingt es Scola, Zusammenhänge zwischen Geschichte und Privatleben zu klären, ohne ins Metaphorische zu flüchten. Er liebt seine Figuren, so wie sie sind, aber wir erkennen in ihnen stets auch das Symptomatische. Scolas „Trick“ dabei ist, dass man seine Figuren immer schon zu sehr liebt, um sie noch wegen ihrer symptomatischen Schwächen zu verdammen, und dass man umgekehrt das Symptomatische an ihnen zu sehr durchschaut, um ihren Gesten des Eigensinns ganz zu trauen. Marcello Mastroianni, den Scola immer wieder – und oft an der Seite stilistisch gegensätzlicher Darsteller – einsetzt, ist bei ihm der latin lover, der nicht durch Groteske oder Destruktion zu Fall kommt, sondern durch erschütternde Normalität. Auch CHE ORA É? ist ein Film, der gleichzeitig die Identitätskrise eines italienischen Mannes beschreibt und Bild der gesellschaftlichen Befindlichkeit ist.

Der Trailer zu CHE ORA É?, ein wunderschönes kurzes Stück, das den Film vorwegnimmt und kommentiert, stellt Scolas Methode vor: Zwei Männer stehen in einer kleinen, ein bißchen öden italienischen Stadt vor einem Denkmal von Garibaldi und einer Snack Bar, die aussieht wie hunderttausend andere. Wieviel Uhr es ist, fragt der ältere, und die beiden kommen miteinander ins Gespräch, wie es Wartende zu tun pflegen. Der jüngere leistet hier seinen Militärdienst ab. Genauso wie sein Sohn, bemerkt der ältere, gut gekleidete Herr; als er selbst beim Militär war, war Krieg. So wie bei seinem Vater, bemerkt der jüngere in seinem nuschelnden neapolitanischen Dialekt; wie der es den Deutschen gezeigt habe, fügt er spöttisch hinzu. Nicht wegen des Krieges, meint der Ältere, wegen seiner Jugend erinnere er sich gern. Das werde dem Jüngeren schon auch noch passieren. Und so geht dieses ironische Spiel von Distanz und Annäherung, bis sich Vater und Sohn in den Arm nehmen. Die kurze, einfach strukturierte Einstellung hat uns alles mitgeteilt, um was es gehen wird: um Italien und die Moderne, um Vater und Sohn, um das Hochitalienisch des Erfolges und das Neapolitanisch des Regionalstolzes, um Spiel und Kommunikation. Dass schließlich die Kamera zurückfährt und den Blick auf den Set freigibt, wo sich der Ältere, Marcello Mastroianni, in den Sessel mit dem Aufdruck Massimo Troisi, und der Jüngere, der Autor, Regisseur, Darsteller, Freund und Widerpart von Roberto Benigni, Massimo Troisi in den mit dem Aufdruck Marcello Mastroianni setzt, ist ein ironischer Schlenker zur Beziehung der Rollen. Tatsächlich wird sich in dem Film CHE ORA É?, der wie die Ausführung dieser Skizze ist, jeder der beiden den anderen einmal als „eigenes“ anzunehmen bemühen.

Marcello, der Vater, ist in die kleine Stadt Civitavecchia am Meer gekommen, um seinen Sohn Michele zu besuchen, der hier seinen Militärdienst ableistet. Es ist schwer, miteinander zu sprechen. Mit einer Herzlichkeit, die schon zu sehr Schauspiel ist, um nicht ein wenig peinlich zu sein, versucht der Vater von seinem Sohn Besitz zu ergreifen, der sich mit freundlicher Distanz zuerst zur Wehr setzt. Marcello will dem Sohn einen teuren Wagen, eine Wohnung in Rom, eine Reise nach New York schenken, ihm eine gute Stelle verschaffen. Aber Michele will das alles nicht, und je mehr er sich gegen seinen Vater zur Wehr setzen muss, desto mehr verfällt er (jedenfalls in der Originalfassung) zum Ärger seines Vaters, in das „alte“ Neapolitanische, in der Sprache, der Gestik, der Art mit Menschen umzugehen. Nicht so sehr in dem, was geredet, als vielmehr in dem, was „gesprochen“ wird, erklärt sich, dass es nicht allein um einen Konflikt zwischen dem Vater und dem Sohn geht, der „sein eigenes Leben“ will, sondern auch um die kulturelle und historische Identität, die, das ist das utopische Paradox, der Sohn gegen den Vater verteidigt. Aber auch Michele muß im Verlauf dieser kleinen Odyssee durch Civitavecchia lernen, und auch für ihn geht es nicht nur darum, den Vater als Menschen und als „Sprache“ zu akzeptieren, sondern auch die Modernisierung als Teil der Geschichte. Es sind Überkreuz-Beziehungen, die Michele und Marcello einen Tag und eine halbe Nacht lang zu klären versuchen und immer wieder neu verwirren müssen.

In Scolas Film sprechen nicht nur die beiden Hauptdarsteller in ihren Worten, Sprachmelodien und Gesten, begleitet von einem kleinen, akzentuierenden Leitmotiv aus einer minimalen auf- und absteigenden Tonfolge, es sprechen auch die sozialen Räume: die Kaserne, der Hafen, die Bar, die Straße, das Restaurant, das Kino, die Wohnung von Micheles Freundin (bei der sich der Vater prompt erkundigen will, wie gut sein Sohn im Bett ist), es sprechen die Zeichen an der Wand, die einmal den Faschismus, das andere mal Stalin und dann wieder einen Fußballspieler verherrlichen; es spricht der Regen, es sprechen die Blicke der (scheinbar) Unbeteiligten. Nur das Ganze existiert, nicht die Teile. Wie schade es sei, nuschelt Troisi am Hafen, dass es zu der Zeit, der sein Vater, hustend nun, nachhängt, all das gegeben hat: die Faschisten, den Krieg, die Deutschen. Sonst wäre das bestimmt eine schöne Zeit gewesen, in der er gerne gelebt hätte. „Heute ist es besser“, erklärt Marcello so bestimmt wie verbittert. Dabei bewegen sich beide in absurden Zeitparadoxien, hegen unbestimmte Sehnsüchte nach einer anderen Zeit. QUE ORA É?, die wiederkehrende Frage des Films, ausgelöst durch das einzige Geschenk seines Vaters, über das sich Michele wirklich freut, die Taschenuhr des Großvaters, fragt nicht nur nach der Stunde, sie ist auch eine komisch-hilflose Geste gegen den Verlust von Geschichte und Zeit.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht  in epd Film 7/90