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Gefallener Halbgott 

Sam Raimis „Spider-Man“-Verfilmung pflegt die Tradition des liberalen amerikanischen Superhelden

Die Superhelden der Comicstrips verdanken ihre Existenz interessanterweise einem Mann namens Frederic Wertham, Psychiater und Verteidiger amerikanischer Werte. In seiner Arbeit mit jugendlichen Delinquenten meinte er herausgefunden zu haben, dass kriminelle Karriere und sexuelle Perversionen durch das Lesen von „realistischen“ Crime- und Horror-Comics gefördert würden. Abgesehen davon, dass für ihn Homosexualität gleich nach Mord kam, haben sich seitdem die Argumente der Medienschelte nicht wesentlich geändert. Seduction of the Innocent hieß sein Anklagebuch, das ganz nebenbei eine Theorie der Kindheit enthält.

Im Jahr 1954 taten sich die Verlage zu einer freiwilligen Selbstkontrolle unter dem Zeichen des American Comics Code zusammen, und das Medium wurde sauber. Sehr sauber. Superhelden statt Gangster und Geistern, das hieß klare Unterscheidung von Gut und Böse, das hieß ein Empfinden des Körpers, bei dem niemand so schnell an sexuelle Perversion denkt, das hieß: eine Gesellschaft, die ihre Moral nicht von innen her in Frage stellt, sondern von äußeren Beschützern garantieren lässt. Es gab Bereiche der Wirklichkeit, die man einfach nicht mehr zeigte: Küsse, Alkohol, Toiletten, Krankheit, Revolte, Schmutz, Zweifel an Autoritäten, Metzgereien. Was übrig bleibt ist die gute Familie und die gute Nation. Aus diesem Geist wirkten Superman, The Flash, The Green Lantern in bewohnbaren Traumwelten voll suggestiver Schurken und strahlender Helden. Die Gewalt wurde kosmisch und sauber, die Protagonisten hatten fantastische Kostüme an, die den Körper vollständig verbargen und ihn zugleich – „wie eine zweite Haut“ – heroisch neu erfanden.

Superhelden gab es natürlich schon vor der Einführung des Comics Code, aber in den fünfziger Jahren wucherte das Genre so sehr, dass es zu einer Zeichensprache wurde, mit der die meisten amerikanischen Kinder lesen, sehen und denken lernten. Superhelden-Comics waren eine Erlösung für die Kleinen, die in einer reichlich kranken Gesellschaft heranwuchsen, in Familien, in denen Vater von seiner Kriegserfahrung geprägt war, Mutter ihre unerfüllten Hoffnungen zum Friseur trug, und die in der Schule aufgefordert wurden: „If mommie is a commie, than you got to turn her in.“ Nein, in so einer Welt war nicht zu leben, also hinaus, entweder mit den Cowboys in die Weiten des alten Westens oder in den Luftraum über der Stadt mit den Superhelden! Superhelden bekämpften Weltverschwörer, Unterwanderer und wahnsinnige Wissenschaftler, gewiss, aber sie bekämpften tief innen noch viel gefährlichere Feinde: die Einsamkeit, das Misstrauen, die Undeutlichkeit der Welt, die Zumutungen des Fleisches.

Dieser Mythos hat seine Krisen und Erneuerungen. Zur zweiten Generation gehört ein gewisser Spider-Man, der seine Herkunft aus den sechziger Jahren so wenig verleugnen kann wie Superman die seine aus der Zeit des Weltkrieges.

Entwickelt wurde er von Stan Lee, der zusammen mit Zeichnern wie Jack Kirby und Steve Ditko den „Marvel-Stil“ für seinen gleichnamigen Verlag entwickelte. Es waren Männer, die den Markt, auf dem sie sich befanden, ebenso gut kannten wie die Märchen der Welt und Freuds Totem und Tabu.

Spider-Man geht über das schlichte Konzept hero with problems hinaus. Das ausgeprägt „realistische“ Privatleben, aber auch eine neue Form, Bewegung darzustellen, führen zu einer anderen Form der Identifikation. Superman ist ein Erlöser, allenfalls ein „großer Bruder“, Spider-Man, Spidey für Freunde, Peter Parker im Privatleben – ein Superheld wie du und ich. Das überdeckt nicht einen Kern im Wesen der Marvel-Helden: Einsamkeit, Selbstzweifel und ausgeprägte Schwächen.

1971 wurde in Amazing Spider Man eine Geschichte über Drogen in Peter Parkers Freundeskreis erzählt, und zum ersten Mal erschien ein Superhelden-Heft ohne das Siegel der freiwilligen Selbstkontrolle, da der Code ja jede Darstellung von Drogen verbot. Spider-Man war es gelungen, aus dem langen Schatten des Saubermanns Frederic Wertham und seiner Projektion der „Unschuld“ zu treten.

Es begann ein langer, windungsreicher Weg zurück zur Wirklichkeit, in dessen Verlauf die Superhelden allesamt in eine heftige Sinnkrise gerieten, auch Spider-Man verlor definitiv die Lust am Heldenspiel. Daraus entstand so etwas wie die Endzeit der Superhelden, das melancholische Spätstadium eines einst naiven und optimistischen Genres. Superhelden-Comics hätten damals verschwinden können, wie der Western verschwunden war, zumal das Comic-Medium selbst durch die neue Konkurrenz von Computerspielen auch in eine neue ökonomische Krise geriet. Aber da war eine neue Generation, die sich wieder eindeutige Helden wünschte. Und jetzt ist es das Kino, das einen neuen Olymp für die (beinahe) gefallenen Halbgötter schafft. Sam Raimis Spider-Man ist nicht nur wieder einmal der erfolgreichste Film aller Zeiten, die Adaption rettet wohl auch einen Comic-Kosmos davor, in manieristischer Selbstreflexion oder Trivialisierung zu versinken.

Die Spinne in der Sinnkrise

Spider-Mans Ursprungsgeschichte ist auch im Film denkbar einfach: Der junge Collegestudent Peter Parker (Tobey Maguire) wird von einer radioaktiven Spinne gebissen und bekommt dadurch seine fantastischen Fähigkeiten. Er schwingt sich an seinen Spinnennetzen, die er aus den Düsen in seiner Hand schießen kann, über die Straßen der Stadt. Das Vertikale ist seine Domäne, gern hängt er auch kopfunter vor Freund und Feind, um sie in einen ironischen Dialog zu verwickeln. Anders als ein ähnlich urbaner Held wie Batman hat sich Spidey dabei eine Form der kindlichen Reinheit erhalten.

Er ist einer, der es geschafft hat, dass die Abgründe, in die er blickt, nicht in ihn zurücksehen.

Ein Spinnenkostüm hat eben auch sein Gutes.

Kurz gesagt: In Raimis Verfilmung des Popmythos kommt alles vor, was wir an unserem freundlichen Netzschwinger schätzen. Tobey Maguire ist die perfekte Besetzung, weil er die Pubertät als permanentes Erlebnis des Staunens verkörpert. Willem Dafoes Schurke ist grotesk und tragisch, und bei der Kreation der Stimmung weiß Raimi, wo er vor dem Morbiden und bei allem Bewusstsein von Popgeschichte vor purer Nostalgie Halt machen muss. Raimi schafft die Balance zwischen Ernsthaftigkeit und Ironie, zwischen Subtext (ziemlich deutlich sind die sexuellen Konnotationen) und Oberfläche, zwischen dem Charakterisieren eines jungen Menschen in einer Situation des Übergangs und einer Figur der physischen Aktion voll reiner kinetischer Energie, für die man in der Tat im Jahr 2002 keinen realen Menschen mehr benötigt. Das ist die neue Schizophrenie des Superhelden auf der Leinwand: dass er in einem Moment ein Mensch aus Fleisch und Blut ist und im anderen ein Pixel-Wesen aus dem Computer.

Selbst bei einem solchen Stoff, den ansonsten quasi der Mythos der Vorlage und die technische Kompetenz der Spezialeffektleute, der Designer und Kameraleute unter sich ausmachen könnten, hat Raimi nicht vollständig auf seinen Stil verzichtet. So bricht er eine Einstellung immer um etliches früher ab, als es seine Kollegen tun würden. Er verknappt die Effekte, statt sie zu „melken“. Auch die Schlussapotheose – Spider-Man hoch über den Dächern von New York, hinter sich die amerikanische Fahne im Wind – verliert auf diese Weise ihr Kitschpotenzial. Das Amerikanische nämlich gehört zu diesem Superhelden so sehr wie das spezifisch New Yorkische.

Übrigens: Es verstand sich einst, dass die Superhelden in Zeiten der Krisen zu den Fahnen eilen

Superman oder Daredevil bekämpfte natürlich Hitler und seine Schergen. Aber in der Zeit des Vietnamkrieges geschah mit ihnen eher das Gegenteil, sie begannen zu zweifeln. Captain America, der Held des Weltkrieges, wachte aus dem Schlaf im ewigen Eis auf und war ganz und gar nicht bereit, für die Politik seiner Nation wieder in den Krieg zu ziehen.

Superman ging nicht nach Vietnam, und Spider-Mans beziehungsweise Peter Parkers Freundin beteiligte sich sogar an Antikriegsdemonstrationen! Auf den 11. September reagierten die Superhelden mit einer Mischung aus patriotischem Trotz und Melancholie

den Schub der Militarisierung machten die meisten von ihnen schon nicht mehr mit. Denn Superhelden beschützen nicht nur die Nation (oder was jugendliche Comic-Leser dafür halten), sie sind auch die Nation.

Deshalb müssen sie gelegentlich moralischer sein als die politische Führung.

Insofern kann man, wenn man will, den Satz, der auch im Film als Motto über der Existenz dieses Superhelden steht, durchaus als Mahnung an seine Nation verstehen: „Great power means great responsibility.“ Denn genau das ist Spideys Schicksal: Er ist zu stark, um einfach nichts zu tun gegen das Böse in der Welt. Er ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um an dessen Wurzeln vorzudringen. Und er ist zu klug, um nicht zu merken, wie oft er die Verhältnisse schlimmer macht, als sie ohnehin schon waren. Responsibility – das sagt sich leicht und versteht sich schwer für einen Superhelden und eine Supernation, die beide in Krisenzeiten zu zwei verhängnisvollen Reaktionen tendieren: auf der Straße um sich schlagen oder sich im Kinderzimmer einschließen. Responsibility – wäre schön, wenn der Superheld dieses Jahrzehnts dieses Wort populär machen würde.

Georg Seesslen

Text veröffentlicht in Die Zeit 24/2002

Bilder: Columbia TriStar (Fox)