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Vom Ertrinken im Lichtermeer

Vom Rummelplatz kommt und zum Rummelplatz will das Kino. Nicht nur, weil es einst eine Attraktion auf dem Jahrmarkt war, und nicht nur weil es umgekehrt in seine Bewegungsbilder so viel Jahrmarktattraktion als möglich packt. Sondern vor allem weil der Rummel zu den magischen Orten gehört, wo es immer zugleich das öffentliche Schauspiel zu bestaunen und das einzelne Leben zu erahnen gibt. Oberflächenreiz und Tiefenschärfe. Hinter den fliegenden Teppichen und Schießbuden, hinter den Lichtern und dem Lärm können sie nur warten, diese Lebensgeschichten, die so tragisch wie Shakespeare-Dramen und so grotesk wie Pulp Fiction sind. Melodramen von der anderen Seite des Spiegels. Ohne verlässliche moralische Endungen.

Dies ist so eine Geschichte. Die Geschichte von Norbert Witte und seiner Familie. Ganz ohne verlässliche moralische Endung. Überhaupt ohne Ende. Wenn das alles nicht wirklich passiert wäre, gäbe es den perfekten Stoff für einen deutschen film noir.

Der Film beginnt entsprechend mit einer eher wehmütigen Einstellung. Ein leeres Riesenrad, Saurier-Monsterfiguren auf einem Ödland; ein magischer Ort, der seine Bestimmung verloren hat. Ein Friedhof der Träume. Ein Vergnügungspark an der Spree, der Plänterwald, der in der DDR eingerichtet und nach der Wende privatisiert wurde. Norbert Witte, so erfahren wir von der freundlichen Spree-Ausflugsschiffbegleiterin, habe das auch nicht so auf die Reihe gebracht. Er habe dann mit dem Schmuggel von Rauschgift versucht, seine Schulden zu bezahlen. Jetzt sitzt er im Gefängnis. Das ist gleichsam die offizielle Kurzfassung der Geschichte, so wie man andernorts die Kurzfassungen des Lebens von Jesse James oder dem Wildschütz Jennerwein erzählt. Aber hinter solchen Geschichten stecken immer mehrere andere.

Norbert Witte lebt nun im Freigängerheim. Er darf das Land nicht verlassen, auch nicht um zu seinem Sohn zu gelangen, der in einem Gefängnis in Peru sitzt, wegen des Vergehens, das sein Vater eingefädelt hat. Was er als Techniker verdient, geht für die Anwälte drauf. Zwanzig Jahre, so lautete das Urteil für Marcel Witte, es bedeutet für den jungen Mann, das ganze Leben verlieren. Die Mutter hat diese Situation wohl nie verkraftet, sie verzeiht dem Vater nicht, auch wenn die Töchter an ihrem Vater hängen.

Wir begleiten Norbert auf seinen Wegen zu seiner alten Schausteller-Heimat. „Einmal Schausteller, immer Schausteller“, sagt er und will zurück. Aber auch da gibt es für seine Taten eigentlich kein wirkliches Verzeihen. Nachdem der Sohn einen Selbstmordversuch unternahm fliegt der Schwiegersohn nach Peru. Man hofft auf eine Revision, die Anwältin verlangt 12.000 Euro.

Der Film begleitet dann Mutter und Tochter nach Peru, das wir erst einmal mit einem touristisch-neugierigen Blick (zur passenden Musik) sehen, dann aber auch Guerilla-Aufnahmen aus dem Inneren des Gefängnisses. Dort kann Marcel Witte nur überleben, weil er sich eine Zelle kaufen konnte. Wenn das Geld ausbleibt, ist er der Brutalität der Wärter und Mitgefangenen schutzlos preisgegeben. Pia Witte besucht das alte Haus, das leergeräumt ist, sie fahndet nach den Resten ihrer Fahrgeschäfte. Noch ein Friedhof der Träume. Sie wäre bereit, noch einmal anzufangen, hier in der Fremde, wenn sie dem Sohn helfen könnte. Aber womit?

Rückblick in bessere Zeiten. Norbert Wittes Vater hatte mehrere Striptease-Lokale und der Sohn ist zwischen diesem Milieu und dem Rummel aufgewachsen. Seine Frau ist auf dem Auto-Scooter groß geworden, sie haben dann weitere Fahrgeschäfte gekauft. So wurde er einer der Großen im Schaustellergeschäft. Zehn Jahre vor dem Spreeparkprojekt gab es eine Zäsur durch ein Unglück auf dem Hamburger Hummelfest, bei dem sechs Menschen ums Leben kamen, als die Achterbahnkabinen gegen einen Wartungskran prallten. Die neue Schuld überlagert eine alte. Und jedes mal geht viel mehr kaputt als Biographie und Karriere. Norbert Witte ist zugleich ein „König“ des Rummels, und einer, der unwillentlich, aber konsequent an seiner Zerstörung arbeitet.

Danach mussten sich die Wittes langsam wieder aus der Pleite heraus arbeiten, durch Reisen mit ihren Unternehmungen in Deutschland, Jugoslawien und in Italien und mit neuen Fahrgeschäften. Das sind wieder eigene Geschichten, Geschichten vom Sich-Verlieren. Nach vielen Krisen hat er sich schließlich um den VEB Kulturpark bemüht. Die Familie, nach dem ersten Gefühl der Ruhelosigkeit, hat endlich ein Empfinden, zuhause angekommen zu sein. Es entstand ein kleines Berliner Disneyland mit sehr unterschiedlichen Attraktionen. Die anfängliche Erfolgsgeschichte dreht sich bald um. Ein Hang zum Größenwahn ist daran schuld, vielleicht ebenso die Behördenwillkür, die Parkplätze und Zufahrtswege blockiert. Das Unternehmen steht vor der Pleite. Norbert Witte hört, dass man in Peru mit Fahrgeschäften sein Glück machen kann. Fluchtartig wird das Land mit den Fahrgeschäften verlassen, in der Presse wurde Witte zum „Rummelkönig, der die Flucht ergriffen“ oder den „Spreepark heimlich nach Peru verschifft“ hat. In Südamerika läuft alles schief. Der Zoll hält die Container zurück, das restliche Geld geht für Schmiergeldzahlungen drauf, die Familie hungert, und Norbert Witte bekommt auch in Deutschland keinen Fuß mehr in die Tür. Am Ende, als er die Familie schon verloren hat, lässt er sich, zusammen mit seinem Sohn, der als letzter bei ihm geblieben ist, auf einen verhängnisvollen Drogenschmuggel ein: Kokain im Wert von vier Millionen, verborgen im „Fliegenden Teppich“. Das konnte nicht gut gehen.

Nun kämpfen Mutter und Tochter darum, Marcel Witte aus dem Gefängnis frei zu bekommen. Und wären wir wirklich in einem „film noir“, so käme es wohl zu einem gewalttätigen Befreiungsversuch, geträumt wird jedenfalls davon. Aber das Leben ist finsterer als ein „film noir“. Der Versuch der Wiederaufnahme des Verfahrens scheitert, das Geld ist fort, und der Vater träumt derweil schon wieder, oder doch wahrscheinlich zum letzten Mal, von neuen Unternehmungen, von einer Großraumdisko, von einem Zirkus. Hauptsache: Ein Lichtermeer.

Achterbahn erzählt von den Versuchen der mittlerweile verstreut lebenden Familie, untereinander heillos entzweit und doch untrennbar verbunden, das Leben des Sohnes zu retten, erzählt von der Erinnerung und davon, wie man an Träumen genau so kaputt gehen kann wie am Leben. „Einmal Schausteller, immer Schausteller“, das ist zugleich Bekenntnis und Fatalität. Die einfachen Geschichten, die man in der Presse liest und vor Gericht trägt, taugen nicht. Aber die wahren Geschichten gehen einfach nicht auf.

Wie bei allen guten Dokumentarfilmen gibt es auch hier mehrere Bezugspunkte. Personen, Orte, eine Geschichte, die einander bedingen, ohne eine einfache „Einheit“ zu bilden. Vieles wird indirekt erzählt, vieles bleibt offen. Es gibt ein paar „plot points“ und es gibt schließlich jene Gestaltungsmittel, ein Träumen und Fantasieren der Kamera inmitten unbestreitbarer Realität, was einen Dokumentarfilm so entschieden von einer Fernsehdokumentation trennt. Peter Dörfler ist auch in seinem zweiten Film ein Mann mit der Kamera. Er macht uns keine „Objektivität“ vor. Einen Film wie Achterbahn kann man auch sehen wie einen Spielfilm. Wenn er doch nur die Spur von einem Happy End hätte.

Autor: Georg Seeßlen

Text geschrieben Juli 2009

Text: veröffentlicht in www.strandgut.de

Bild/Trailer: rohfilm