»Ein Geheimnis« (Un Secret), das ist ein Film aus mehreren Filmen, und jeder davon kommentiert die anderen, verändert sie, nimmt ihnen das Konventionelle, das sie für sich vielleicht haben würden: Die Geschichte vom Aufwachsen eines Jungen in kleinbürgerlichen Verhältnissen, in zwei wichtigen Abschnitten. Zehn Jahre nach Ende des Krieges, leidet der siebenjährige François unter anderem darunter, dass er ganz und gar nicht so sportlich ist, wie es seine Eltern von ihm erwarten. Er wird nie den Idealen seiner Wassersport-Schönheit von Mutter und seines durchtrainierten Athleten-Vater genügen.

Der vierzehnjährige François registriert mit verlegenem Stolz die Bewunderung, die seine Mutter immer noch beim Sprung vom Turm im Schwimmbad auf sich zieht. Und er beginnt, sich für die Geheimnisse der Familie zu interessieren. Verbirgt sich mehr als eine greifbare emotionale Kälte hinter diesen Körper-Riten? Da ist die Liebesgeschichte der Eltern, des Vaters Maxime und der Mutter Tanja, der einst Maximes erste Frau geopfert wurde, ganz buchstäblich, wenn man es genau nimmt.

Da ist ein imaginärer großer Bruder, bei dem François Zuflucht sucht, und da sind sehr reale Zeichen eines anderen, eines verschwundenen Kindes. Eines, das die Erwartungen des Vaters womöglich besser erfüllte als der schmächtige, unsichere François.

Da ist die Nachbarin Louise, eine Freundin der Familie, aber auch sie offenbar ein Mensch, der dem perfekten Lebensbild der Eltern nicht entsprechen kann oder mag, sie raucht, sie trinkt, und vor allem: sie redet zuviel. Sie beginnt eines Tages damit, François die »wahre Geschichte« zu erzählen, und die hat mit mehr zu tun als nur mit einem keineswegs perfekten Liebes- und Familienleben. Denn das andere Geheimnis der Familie ist eine Geschichte der verleugneten und nicht zu verleugnenden jüdischen Identität, eine Geschichte vom Überleben und Nicht-Überleben im Holocaust.

Für das alles gibt es noch eine weitere Rahmenhandlung: Der François »von heute« – ein Psychologe wie der Autor der autobiographischen Romanvorlage, Philippe Grimbert – sucht seinen alten Vater. Sein Hund ist getötet worden. Vielleicht steckt in der Trauer um das Tier all die verdrängte Emotion, all die Erinnerung an Tod, Schuld und Verlust, von der man in der perfekten Familie nicht sprechen durfte. Vielleicht bleibt aber auch nur die ratlose Beobachtung, dass da ein Mensch um einen Hund weint, der um Menschen nie hat weinen können. François ist nun erwachsen genug, nicht auf einer scharfen Trennung von beiden Möglichkeiten zu bestehen.

Ob so etwas wie eine »Versöhnung« in dieser Familie stattgefunden hat, bleibt ebenso offen, wie die Grenzen zwischen Erinnerung und Phantasie gelegentlich verschwinden: Für einige Aspekte in den Rückblenden als Aufdeckung des Geheimnisses gibt es keine Zeugen (es bleibt das Geheimnis des Films, woher man dies oder jenes Detail überhaupt wissen kann, so zwischen Louises Erzählung und François‘ Imaginationen, die sich möglicherweise mit Elementen angereichert hat, deren Quellen wir nicht kennen).

Claude Millers Konstruktion von Erinnern, Aufdecken, Erzählungen und Bildern geht nie ganz auf. Das hängt auch mit einer formalen Entscheidung zusammen: Eher gegen unsere Gewohnheiten wählt Miller für die Gegenwart ein glanzlos-atmosphärisches Schwarz/weiß und für die Vergangenheit (oder ist es ein Traum von ihr?) die heftigere Farbe. Das ist gleichsam eine direkte »Übersetzung« der literarischen Vorlage, Grimbert beschreibt die Vergangenheit im Präsens und die Gegenwart in der Vergangenheitsform.

Die Verschleppung und Ermordung der Juden im besetzten Frankreich ist nur indirekt zu sehen, etwa in einer Aufführung von Alain Resnais‘ »Nacht und Nebel« in François‘ Schule, die erst eine wilde Schlägerei, dann aber auch jenen Prozess von Fragen, Erkennen und Kämpfen um die Erinnerung provoziert, für den Resnais‘ Film tatsächlich in der Nachkriegskultur stand. Miller geht gerade anders herum vor. Auch in diesem Film arbeitet er mit verführerisch schönen, manchmal allzu glatt scheinenden Bildern, um uns erst dann auf die Brüche aufmerksam zu machen, und so wie Resnais uns gemahnt hat, nicht zu vergessen, nicht »versöhnt« zu sein, so zeigt Miller umgekehrt, wie falsch und brüchig Versöhnung und Vergessen sind, die bis in das einzelne vergiftete Leben reichen.

Möglicherweise beginnt Miller mit diesem Film erst seine Frage nach der eigenen Geschichte. Er benutzt zwar einen autobiographischen Roman als Vorlage, aber in der Geschichte des François steckt auch vieles vom Leben des Claude Miller. Zur gleichen Zeit kommen auch noch einmal alle die Motive seiner Filme zusammen: Die Schmerzen des Erwachsenwerdens in einem unglücklichen Familienroman (»Die Klassenfahrt«, 1998), das hilflos staunende, manische Beobachten (»Das Auge«, 1983), die Einsamkeit und der radikale Zweifel (»Das Zimmer der Zauberinnen«, 1999), der Mangel an elterlicher Zuwendung und Offenheit (»Die kleine Diebin«, 1988): Bei kaum einem Regisseur haben sich die Splitter der verborgenen Selbstbiographie so poetisch zueinandergefügt.

Eine Liebesgeschichte – rücksichtslos, wie Liebesgeschichten nun einmal sind, eine coming-of-age-Geschichte – verzweifelt, suggestiv und nie ganz ohne Komik, wie coming-of-age-Geschichten sind, die Auseinandersetzung zwischen dem Franzose-Sein und dem Jude-Sein in einer Familie – grotesk, hartherzig und zärtlich, wie Familiengeschichten nun einmal sind, und dahinter und vor allem die Geschichte der Verfolgung, Verschleppung und Ermordung und, nachhaltig, das Verdrängen, Vergessen, Verschweigen, auch bei den Überlebenden.

Dass Claude Miller uns nicht vormacht, dass das alles am Ende zu einer Einheit kommen könnte, nicht einmal in einer poetischen Biographie, gerade das macht die Wahrheit seines Filmes aus.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht bei www.strandgut.de

Bilder: Arsenal