Die Universität von Pavia ist der Ort des radikalen Chic à la Italia. Selbst Demonstrationen, wenn man einen abendlichen Gruppenspaziergang, bei dem ein paar Parolen skandiert werden, schon so nennen will, entgleisen hier schnell zur Modenschau. Die wunderbaren Gänge, Gärten und Säle der Universität, die Margarethe von Trotta nicht als „Ort“, sondern buchstäblich als Kulisse für ihren Film gewählt hat, sind, unter anderem, Monument einer Klassengesellschaft, die zugegebenermaßen mehr Stil und Gelassenheit zuläßt als die unsere. Was hier an die Wand gesprayt wird, das wird es so wie in diesem Film: nicht als Ausdruck kollektiven Widerspruchs, sondern aus jenen emotionalen Ups und Downs heraus, die man haben kann, wenn man sonst keine Sorgen hat. Pavia, als Ort und als Zustand, muß man sich leisten können: in einer Stadt, die die prächtigsten Boutiquen und die lausigsten Buchhandlungen hat, kann Studieren nur ein Gesellschaftsspiel sein. Und genauso bewußtlos und im Kern auch lieblos verhält sich der Film zur Geschichte und Gegenwart seiner Kulisse.

Jedenfalls ist das eine Fährte zur Falschheit dieses Films. Eine andere führt über die Bilder selbst, die zumindest in der ersten Hälfte bemüht sind, über Räume Beziehungen zu offenbaren, so etwas wie eine Geometrie der Liebe herzustellen. Zwei Beobachtungen: Zum einen „sehe“ ich bei jedem Bild förmlich die Regisseurin, die Ausschnitte und Perspektive bestimmt. Die großzügigeren Einstellungen sind stets bemüht, das „Beste“ aus den Kulissen herauszuholen; weil es aber weder um Geschichte noch um Politik geht, vermag das Ambiente über die Protagonisten nichts auszusagen. Die Kulisse und die Menschen sind einander so fremd wie in der ambitionierten Modefotografie. Das hat anfänglich seinen Reiz, es verspricht für den Augenblick eine synthetische Welt des Melodrams. Daß dieses Versprechen nicht eingelöst wird, hängt unter anderem mit der zweiten Beobachtung zusammen: Die Bilder von PAURA E AMORE sind (fast) immer nur dann „wichtig“, wenn nicht gesprochen wird, die Dialogstellen sind dagegen in ungemein biederen Schuß-Gegenschuß-Halbtotal-Einstellungen aufgelöst. Was als Versuch einer melodramatischen Film-„Oper“ beginnt, endet stets beim Fernsehspiel. Über all dies aber herrscht eine Geste des Zeigens; wir sehen nicht, wir werden auf etwas hingewiesen. Das macht, dass der Film zu keinem wirklichen Leben kommt, weder zu einem, das aus der Wirklichkeit des Lebens gespeist würde, noch zu einem, das sich der Wirklichkeit des Films verdankte.

Worum geht es in PAURA E AMORE, außer um Kleider, Kulissen und Schauspieler, die Gefühle zeigen? Um drei und ein paar halbe Frauen, um einen und ein paar halbe Männer. Dieser eine Mann ist ein Naturwissenschaftler, das erkennen wir daran, daß er eine Tafel mit Formeln vollgeschrieben hat, die er ganz melancholisch selber wieder wegwischt. Er hat einerseits eine Frau, andererseits eine Geliebte, eine Kollegin an der Uni, dann aber wendet er sich einer Dritten zu, der Frau eines Fernsehkomikers, der genauso aussieht wie ein Fernsehkomiker, und dann kehrt der Mann zu seiner Frau zurück, in dem Moment, als sie sich anschickt, den einen oder anderen Schritt in die Selbstbestimmung zu wagen. Zaghaft beginnt unter den Frauen so etwas wie Freundschaft und Solidarität, die an die Stelle von Konkurrenz und einsamen Leidens treten mag. Die junge Schwester der ersten, die alles schon immer besser weiß, verliebt sich derweil in einen Assi (er sieht aus wie aus der „Texas-Klinik“), der aber bei einem Autounfall stirbt, den sie selbst fast unverletzt übersteht. Der übliche weise-verrückte Greis der Familie hat die üblichen weise-verrückten Kommentare zu alledem abzuliefern.

Übrigens: Man erwartet von Margarethe von Trotta gewiss keine spektakulären Stunt-Szenen, aber wenn jemand, der bei einem Autounfall aus der rechten Tür geschleudert worden sein muss, dann links vom Wrack liegt, zeugt dies eben auch neben vielem anderen von einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber dem, was man gemeinhin Wirklichkeit nennt.

Was sagt uns das? Einerseits, dass Frauen immer leiden müssen und Männer immer verständnislos doof auf die Gefühlskatastrophen glotzen, die sie angerichtet haben. Das ist als Aussage so richtig und so falsch wie jeder andere Mythos, und von Trottas Film hat seine poetischsten Momente, wenn die Frauen Beziehungen zueinander entwickeln, Beziehungen, die so neu und faszinierend (und wenn man so will erotisch) sind, weil sie nicht direkt vom Mann bestimmt sind. Aber der Film verrät seine Heldinnen an die Modenschau. Und er gönnt ihnen so wenig wie uns Zuschauern den Zorn oder den Spott als Waffe; das „gepflegte“ Leiden der Frauen und ihre Unfähigkeit zum Ausbruch wird uns nicht als Ergebnis einer bestimmten historischen und politischen Situation gezeigt; die Synthetik des Films und die Fremdheit zwischen Kulisse und Darsteller, zwischen Sprache und Bild machen daraus bares, mythisches Schicksal.

Irgendwann in der Mitte des Films erwehrt sich die Frau des Fernsehkomikers dessen unbeholfenen Annäherungsversuchen, weil sie im Fernsehen einen „alten Liebesfilm“ (mit Bette Davis, nebenbei) sehen möchte. Die Fährte ist heiß: Vielleicht handelt es sich bei PAURA E AMORE um nichts weiter als einen „neuen Liebesfilm“? Einen woman’s film, der mehr oder weniger tränenreiche Unterhaltung für Frauen garantiert, aber nichts wirklich in Frage stellt? Dann würde ich Margarethe von Trotta vieles nachsehen, dann wären die Modenschau und die „Brava Casa“-Kulissen so sehr gerechtfertigt wie die Klischeefiguren, ein gediegener Fotoromanzo, in dem jeder so aussieht, wie man glaubt, er müsse aussehen, und in dem die Frauen auf Männer hereinfallen, die irgendwie wie fotografiert aussehen, als hätte das Fernsehen sie erfunden: selber schuld!

Dagegen sprechen die allfälligen Ambitionen, das Bild und Sprache gewordene Beharren auf Bedeutsamkeit. Da ist z.B. das Draußen, die Landschaft, die immer im Nebel liegt. Nun mag Nebel eine brauchbare Metapher sein; bei Fellini gehen die Menschen hinein, um zurück in ihre und die Geschichte der Menschheit zu gelangen, bei Visconti versuchen sie im Gegenteil, daraus hervorzutreten, der schrecklichen Unklarheit zwischen Stadt und Land, dem Dunst von Mailand, zu entkommen. Für den Nebel in PAURA E AMORE spricht, daß es in der Gegend von Pavia tatsächlich gelegentlich Nebel gibt, dass die Heldinnen und Helden des Films sowieso ständig dabei sind, sich zu verirren und nicht besonders weit sehen können. Aber überdies wird uns auch die Topographie vernebelt, auch der Zuschauer wird Opfer der Angst der Regisseurin, irgendwo hinzusehen, wo etwas anderes sein könnte als das verwendbare Material. Denn hier draußen auf dem nebligen Land passiert all das, was in den kultivierten Innenräumen schon gar nicht mehr passieren darf, Liebe und Tod beispielsweise. Von der Angst zu schweigen, die ich in diesem Film spüre einerseits als die Angst           verlassen zu werden, in einem Spiel zu verlieren, dessen Regeln man allenfalls einmal kurz außer Kraft setzen, nie aber ändern kann, und andererseits als eine Angst vor dem Sehen. So wie wir kein Gesicht sehen dürfen, das nicht durch und durch Maske und Spiel ist, so dürfen wir auch kein Land sehen, keine Ferne, keine Klarheit, in die ganz einfach davonzuschreiten wäre, wenn man die wohlgestylten Lebenslügen der Protagonisten einfach satt hat. Und als hätten Anton Tschechow und Virginia Woolf nie gelebt, bleibt uns verboten, auf die Risse und Verwerfungen, die Groteske hinter der Tragödie der Frauen zu sehen, die sich in einem Gefängnis bewegen, das für sie als „die Welt“ erscheinen muss.

PAURA E AMORE ist ein Beispiel für eine jüngere Entwicklung in der ästhetischen Produktion, für Arbeiten, die zugleich luxuriös und moralisch sein wollen. Dieses paradoxe Ineinanderstürzen zweier so konträrer Haltungen gegenüber der Welt funktioniert nur, wenn man sich das Sehen abgewöhnt. Diesen Luxus aber empfinde ich als unmoralisch.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in epd Film 9/88