Die Energie der Liebe

Steven Spielbergs Schneidetisch der Visionen

In 24 Minuten und 18 Sekunden wird ein Mord geschehen. Der Mörder weiss es noch nicht, denn er weiss noch nicht, dass seine Frau einen Liebhaber empfangen wird. Aber John Anderton weiß es. Er ist der Beste des Pre-Crime Departements, wo sie Morde verhindern, ehe sie geschehen sind und den Vorsatz bestrafen, ehe er ausgeführt wurde. John Anderton steht vor der transparenten Wand und lässt die Hände tanzen wie ein Magier. Der Detektiv ordnet nicht Gedanken, er ordnet Bilder mit seinen Händen, die ein Choreograph zu leiten scheint. Bilder, die aus der nahen Zukunft kommen, Visionen derPre-Cogs, die in einer Ursuppe schwimmen und über die Gabe des Sehens verfügen. John Anderton misst diesen Bildern ihren Sinn zu. Und es ist, als stünde der Magier Steven Spielberg an diesem Schneidetisch der Visionen.

Steven Spielberg ist ein anderer geworden und doch er selbst geblieben. Das ist ein Vorzug und ein Problem. Es gibt wohl keinen anderen Regisseur des Mainstream-Kinos, der dessen Attraktionen derart in den Dienst einer Botschaft zu nehmen versteht, wofür auch die Besetzung mit dem respektablen, im Rahmen seiner Möglichkeiten höchst achtbar spielenden Tom Cruise steht. Die drei Pre-Cogs sehen manchmal unterschiedliche Bilder, doch der abweichende „Minority Report“ wird unterdrückt. Spielberg versucht, eine Art von Minority Report mit den Mitteln des Mainstream. Das Problem ist, dass auch der reife Mann noch immer in der poetischen Schlichtheit des Peter Pan denkt. Seine Filme aber gewinnen zunehmend eine philosophische Ebene, der sie nur bedingt standhalten.

Das scheint eine eher philosophische Frage: die Verhinderung der erkannten Zukunft. Es ist die Umkehrung in die sich selbst zerstörende Prophezeiung. Und eine politische Frage, die nach dem Ideal einer perfekten Welt, keimfrei und grauenvoll. Die totale Überwachung als Preis der totalen Sicherheit. „ Die Macht“, sagt der Mann vom Ministerium, „lag nie beim Orakel, sie lag immer bei den Priestern“. Das ist ein im Grunde politischer Satz und im Grunde interessiert er Spielberg nicht. Andere hätten um diesen Satz herum gedacht, er wählt eine andere Mitte. „Es war so viel Liebe in diesem Haus“ sagt Agatha, eines der drei menschlichen Medien. Es ist das Haus von John und seiner Frau, die ihr Kind verloren. Das ist, was auch den erwachsenen Spielberg treibt wie es einst Peter Pan trieb: Die Energie der Liebe, die den lebendigen Menschen unterscheidet von der toten Technologie. Und weil John Anderton über diese Energie verfügt, schenkt ihn Steven Spielberg ein glückliches Ende.

Bis dahin aber dauert es, denn die Seher in der Suppe prophezeien einen Mord, den der beste Mann der Pre-Crime selbst begehen wird. Er sieht sich selbst auf dem Monitor morden. Und fragt, wie Spielberg, wie wahr die Bilder sind, ob Schicksal etwas Unabänderliches ist. Natürlich ist das eine Intrige, aber John muss es beweisen. Und hier zeigt sich der Regisseur. Der Film beglaubigt seinen Regisseur, indem er uns die Albernheit der prophetischen Suppe weithin vergessen macht. Noch nie war ein Spielberg so düster, so drohend. Abgedunkelte Farben und ein Design, das sich in Sichtweite unserer Gegenwart bewegt. Die Autos stürzen oder steigen auf kilometerlangen Vertikalen vor die Fenster der Bewohner, kleine elektronische Spinnen scannen die Bürger, die Polizisten, die John jagen, fliegen durch die Luft. Doch sie fliegen durch Zimmer, in denen Oma und Opa sitzen wie ehedem,sie scannen die Menschen, die in alten Badewannen liegen, umgeben von kühlendemEisstückchen, und während die Pre-Cogs in der Photonenmilch schwimmen, trinken die Menschen Salbeitee mit Honig: Das alte Interieur, die alten Gewohnheiten und die alten Landschaften sind Spielbergs visueller Gegenentwurf von Wärme. Und wenn John Anderton ein Paar neue Augen benötigt, dann wird er in einem verrotteten Hinterzimmer operiert. Die Menschen werden 2054 an ihren gescannten Augen identifiziert. So erfüllt sich der Kinderglaube, man bleibe ungesehen, wenn man selbst nicht sieht, so philosophiert Steven Spielberg.

Es ist viel Kalkül in der Konstruktion dieses Filmes. Das nimmt ihn einen Teil der Magie, wie sie „A.I.“ zu Eigen war, der hatte die überwältigenderen Bilder. „Minority Report“ ist kein emotionales Überwältigungskino mehr, aber eines einer weltweit kommunizierbaren Nachdenklichkeit.

„Du hast die Wahl“, sagt Agatha, das Medium, beschwörend zu John, dem Polizisten, der ein Mörder werden oder ein integrer Mensch bleiben kann. Das ist der tiefe Glaube von Steven Spielberg und bis zum Beweis des Gegenteils wollen wir ihn teilen.

Autor: Henryk Goldberg

Text geschrieben Oktober 2002

Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine