„They were just kids!“ ächzt Bruce Willis betroffen, als er seinem skrupellosen FBI-Einsatzleiter einen Kinnhaken verpaßt. Später nochmal: „Hey, they were kids!“, und die notorischen Rückblenden (schwarzweiß versteht sich) von einem im Kugelhagel sterbenden Jungen sagen das gleiche. Wir verstehen: Das Psycho-Fundament ist fertiggeschludert, jetzt kann das Parterre in Angriff genommen werden.

Bruce Willis ist Art Jeffries, FBI-Agent, der bei einem Undercover-Einsatz den Tod zweier (fast) unschuldiger Kinder nicht verhindern konnte. Deshalb muß er jetzt nicht nur irgendwelche Beruhigungspillen einnehmen, sondern außerdem vom aufregenden Außendienst zum FBI-Ermittlungsalltag zurückkehren. Der führt ihn zu dem autistischen Jungen Simon (Miko Hughes), dessen Eltern aus zunächst unerfindlich scheinenden Gründen ermordet wurden und der selbst in Lebensgefahr schwebt. Der Grund ist erschreckend und sorgt zugleich für den entscheidenden Teil der Mischung aus Rainman, einem Bruce-Willis-Vehikel wie The Last Boy Scout und dem Grisham-Erfolg Der Klient, mit der Harold Beckers Das Mercury-Puzzle sein Glück versucht. Denn der kleine Simon hat als Autist natürlich übermenschliche kognitive Fähigkeiten und darum rein zufällig den geheimsten US-Militär-Code geknackt. Der NSA-Topagent Kudrow (Alec Baldwin) besteht daraufhin auf Simons Tod.

Am Ende wird Art seinen Komplex spätestens dann überwunden haben, als ihm der autistische Simon liebevoll in die Arme sinkt. Das hatte Simon nicht einmal bei seinem leiblichen Vater fertiggebracht. Bleibt nur noch das zweite Vater/Sohn-Drama, von dem Das Mercury-Puzzle erzählt: Wie kann sich Art als gescholtenes Rädchen im Sicherheitsgetriebe mit seinem Oberhaupt, Vater Staat, versöhnen?

Kind Nr. 2 ist, das zeigt Das Mercury-Puzzle bei jeder Berührung von Staatsdiener Art mit Vorgesetzten und Kollegen, auf seine Weise ebenso autistisch wie sein Schützling. Zumindest, wenn Arts eigene Autismus-Definition zugrunde gelegt wird: „Er (Simon) sieht die Dinge nicht so wie andere Leute.“ Hatte nicht Arts Chef am Anfang des Films behauptet, Agent Jeffries könne sich einfach nicht normal verhalten? Aber natürlich ist das nur eine Parallele und Art nicht wirklich geistig behindert. Sonst würden wir wohl auch bei ihm bisweilen das Surren eines Computers hören, das bei Simon immer dann ertönt, wenn er gerade knifflige Rätsel löst. Nein, Simon ist tatsächlich krank und Art einfach nur so ein „verdammt verrückter Querkopf`. Sein Vater-Problem hat darum auch mehr mit den USA als mit kuscheligem Familienglück zu tun. Oder mit beidem.

Nachdem der maliziöse Kudrow immer wieder von der nationalen Sicherheit geredet und sich schließlich im Schlüsselgespräch mit Art expressis verbis als Patriot definiert hat ( „Das heißt, die richtige moralische Entscheidung zu treffen.“), ist der Fall endgültig klar. Erst wenn Art den falschen Bruder erledigt haben wird, der synonym für die bösartigen Verwalter des väterlichen Vermögens steht, kann sich auch dieser Konflikt entspannen. Damit möglichst niemandem die Tragweite dieser zweifachen Vaterschaftsproblematik entgeht, muß Simons Aushilfsmutter Stacey (Kim Dickens) für die nötige Eindeutigkeit sorgen. Sie wird mit ausgestrecktem Finger auf das Hochhaus zeigen, auf dem schließlich der Showdown stattfindet und das durch die Kameraperspektive mit der amerikanischen Flagge verschmilzt.

Autor: Jan Distelmeyer

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: epd film 04/ 98