Eine der großen Stärken heutiger Science-fiction, die sich mit der so naheliegenden Virtual Reality, mit Vernetzungen und dem notorischen Cyperspace beschäftigt, liegt in ihrer Möglichkeit, die Konstruktion von Realität und Subjektivität als solche aufs Korn zu nehmen. Im Kino allemal – stellt sich doch dort, in der Schnittstelle der sogenannten Traumfabrik, die Frage der Wahrnehmung gleichsam von selbst. Die bis heute wohl berühmteste Antwort darauf hat Godard formuliert: „Kino ist Realität – 24 mal in der Sekunde.“

Nirvana ist nach 12 Monkeys, der das selbstgewählte Glück hatte, sich auf Chris Markers Meisterwerk La Jetée stützen zu können, der ambitionierteste Versuch der letzten Zeit, Mainstream und Erkenntnistheorie zusammenzuschneiden. Was können wir wissen über uns und das, was uns als Welt erscheint? Gebrauchen wir die Liebe und den anderen, um uns als ganz und wahr in ihm/ihr zu spiegeln? Und: Ist Erinnerung mehr als der Versuch einer Vergewisserung darüber, eine kohärente Vergangenheit und ein Selbst zu haben?

Zu wenig wäre mit der Feststellung gesagt, daß Gabriele Salvatores‘ (Mediterraneo) Zukunftsthriller diese Frage stellt. Vielmehr ist Nirvana selbst dieser Fragenkomplex, er beruht auf ihm, führt ihn aus und ist doch zugleich auch immer schon eine Antwort darauf. Diese Radikalität korrespondiert mit der Kraft des Sujets und seiner Ästhetik. Vom ersten Bild und dem ersten Satz an („Was mache ich hier, und warum bin ich hier und nicht woanders?“) entwickelt sich eine raumgreifende Geschlossenheit, die in ihrer klugen Konzeption von so seltener Qualität ist, daß sie als Exot in diesem Blockbuster-Sommer einen schweren Stand haben wird.

Jimi (Christopher Lambert) ist ein erfolgreicher Computer-Designer, der soeben sein neues Virtual-Reality-Spiel „Nirvana“ fertiggestellt hat. Drei Tage jedoch vor dem 24. Dezember des Jahres 2005 – dem Tag, an dem „Nirvana“ den Markt erobern soll – macht er eine folgenschwere Entdeckung. Solo (Diego Abatantuono), der Protagonist des Spiels, hat durch einen Virus im Programm eine Art Bewußtsein erhalten und erkannt, daß er als virtuelle Spielfigur einer für ihn unerreichbaren Realität zur ewigen Wiederholung des Immergleichen verdammt ist. Nachdem Solo mit seinem Schöpfer Kontakt aufgenommen hat, sieht er nur eine einzige Hoffnung auf Freiheit: seine eigene Auflösung. Jimi soll das Programm löschen.

Diese Aufgabe, die Jimi seine eigene Tätigkeit vor Augen führt, ist Chance und Unmöglichkeit zugleich. Zum einen könnte Jimi darüber aus seiner Lethargie ausbrechen, die ihn umfängt, seitdem ihn seine Freundin Lisa (Emmanuelle Seigner) verlassen hat. Unmöglich aber erscheint das Unterfangen, weil „Nirvana“ längst in die Datenbank des mächtigen Multimedia-Konzerns Okosama Star eingespeist worden ist.

Mit Hilfe der zwei Computer-Freaks Joystick (Sergio Rubini) und Naima (Stefania Rocca), die beide ebensoviel mit Jimis Diebstahl-Versuch wie mit dem Verschwinden von Lisa zu tun haben, macht sich Solos Schöpfer auf, um seine Welt im doppelten Sinne zu zerstören. Der Polizei- und Überwachungsstaat, der auf seltsame Weise mit Okosama Star in Verbindung steht, wird damit automatisch zu Jimis omnipräsentem Gegner. Ein Ausbruch aus dem System kann so oder so nicht geduldet werden. Dabei spricht schon Jimis Name von dessen Zweitexistenz zwischen Mensch und Gottheit – seine Ähnlichkeit zum Dschinn, dem Dämon muslimischer Märchen (Nirvana spielt u.a. im Marrakesch der nahen Zukunft), ist ebensowenig zu überhören, wie Jimis Spitzname, den Joystick im Laufe der Geschichte immer häufiger gebraucht: Engel.

Zu keiner Zeit jedoch entläßt Nirvana das Geschehen und seine Charaktere aus der erkenntnistheoretischen Unsicherheit, die sich auch in der Erzählstruktur des Films widerspiegelt. Unerwartete Sprünge in Jimis Zukunft und dessen kommentierende Stimme aus dem Off lassen bis kurz vor Schluß offen, von was wir hier eigentlich Zeuge werden: Rückblende, Traum, parallele Realitäten? Nebenbei beobachten wir Solos Versuche, seine Mitspieler in der „Nirvana“-Wirklichkeit von ihrer Nicht-Existenz zu überzeugen; Diese enden sinnigerweise jedesmal mit seinem (zwischenzeitlichen) Tod.

Solos absurder Humor, mit dem er sein Schicksal erträgt, fügt sich mit der umfassenden Selbstreflexivität von Nirvana zu einem Ereignis, das man kaum von einem italienischen Science-fiction-Film erwartet hätte. Seine Ästhetik führt nicht von ungefähr eine ganze Reihe von Filmen wie Blade Runner, Strange Days, La Jetée, 12 Monkeys und Twin Peaks zusammen. Wie Jimi als Programmierer seine virtuelle Welt erzeugt, so errichtet auch Gabriele Salvatores seine filmische Realität aus ausgewählten Zitaten. Der gemeinsame Titel von Computerspiel und Film stellt diese Vorgehensweise als Technik aus.

Der Hinduismus als philosophische Grundlage, vor dessen Hintergrund die virtuelle Realität zur Maya wird, und das Ziel von Jimi und Solo zum Nirwana (dem Ort absoluten Friedens ohne Schmerz und Zeichen), ist in einigen Szenen so präsent, daß Nirvana bisweilen wie eine Exegese im Thriller-Format wirkt. Als Fluchtpunkt des Ganzen zeichnet sich immer deutlicher die menschliche Freiheit ab: Alles kommt hier auf die Möglichkeiten und Problematiken zurück, die darin liegen, als Mensch erschaffen zu können, bzw. zu müssen. Die Zweischneidigkeit des Schöpfens und damit die Unmöglichkeit von Gewißheit befällt in Nirvana virtuelle Welten, Realität überhaupt und schließlich den Schöpfer als Subjekt selbst.

Autor: Jan Distelmeyer

Diese Kritik ist zuerst erschienen bei: epd film 07/ 97