Die meist skurrilen Spielfilme des Finnen Aki Kaurismäki sind nicht nach jedermanns Geschmack, Auch wenn die Mehrzahl der Kritikerinnen und Kritiker unentwegt jubelt, auch ich habe den einen oder anderen seiner Filme eher als manieriert empfunden. Mitunter badete er mir einfach zu lang und zu ausführlich in düsteren Milieustudien. Manchmal aber war ich auch einfach nur entzückt. Und ich bin es auch in diesem Fall.

Schon aus Cannes, wo „Le Havre“ im Mai uraufgeführt worden war, kam viel Begeisterung. Nicht anders aus Locarno, wo der Film Anfang August vor etwa achttausend, wenn nicht gar neun, auf der Piazza Grande abends unterm Sternenhimmel für gute Stimmung sorgte. Womit das vielleicht entscheidende Stichwort bereits gegeben ist: Stimmung. Kaurismäki sorgt nicht allein für gute, er zaubert auch eine solche auf die Leinwand. Da werden dann selbst bitterernste Themen – wie Krebserkrankung, Armut, Korruption – auf einmal ganz leicht. Das ist märchenhaft schön. Und ein Märchen wird auch erzählt: Schuhputzer Marcel Marx, einst ein viel versprechender aber nie im Ruhm angekommener Schriftsteller, dann Clochard, nun also mobiler Kleinstunternehmer, lebt mit seiner Frau Arletty im erbärmlich tristen Fischer-Viertel von Le Havre. In der Kneipe hat er Kredit. Selbst der Tante-Emma-Laden-Betreiber lässt sich zu Stundung der Schulden überreden, und die Bäckersfrau, die hat sowieso ein Herz für Leute wie Marcel. Weil er ein Herz hat, ein großes. Das schlägt aufgeregt, als eine Gruppe von illegalen Einwanderern auffliegt und einer dieser bedauernswerten Opfer von Politik und Menschenhandel, ein halbwüchsiger Junge, direkt in Marcels Armen landet. Klar, dass der Schuhputzer helfen muss. Wie er das dann versucht, sich dabei gegen dusslige Denunzianten und kleingeistige Polizisten durchsetzt, und das, obwohl Arletty auf Leben und Tod erkrankt, das ist eine schillernde Ballade von der Größe schlichter Menschlichkeit.

Sehr geradlinig entwickelt, besticht die Erzählung durch Einfachheit. Die Dialoge sind knapp, dabei pointiert. Sämtliche Schauspieler, selbst in kleinsten Rollen, agieren voller Hingabe und gestalten farbenreiche Miniaturen und, wo möglich, handfeste Charakter-Studien. Und dann die visuelle Gestaltung! Jedes Bild wirkt wie gemalt. Durch eine große Tiefenschärfe haben alle Szenen eine reizvolle Vielschichtigkeit. Man wähnt sich schon bald nach Filmbeginn in einem Traum. Und das, obwohl Kaurismäki auf manipulierenden Musikeinsatz verzichtet. Hier dröhnen keine Akkorde, schluchzen nie die Saiteninstrumente, wird Gefühl nicht durch Klangteppiche vorgetäuscht. Herrlich! Das alles ist so organisch und wirkt derart selbstverständlich, dass man all die Wunder, die da schließlich geschehen, einfach nur begeistert feiert. Ein Film, der einem tatsächlich Momente des Glücklichseins schenkt. Da will man denn stur daran glauben, dass Kaurismäki Recht hat, wenn er Nächstenliebe predigt, ohne dabei auf irgendwelche religiösen Bekenntnisse aus zu sein.

Kati Outinen als lebenskluge Arletty und André Wilms in der Rolle des lebensgierigen Marcel führen das erstklassige Schauspieler-Ensemble mit Kaurismäkischem Minimalismus an. Vielleicht hat der eine oder andere Moment ein wenig von einer Theateraufführung. Doch das passt. Spielen wir denn nicht alle hier und da auch einmal Theater, um dem alltäglichen Grau zu entkommen? Manchmal darf man sich doch auch ein wenig durchs Leben schummeln. Solange man damit niemand anderem weh tut, ist das völlig in Ordnung. Kaurismäkis neuer Film ist die schönste Anleitung dazu, die ich kenne.

Peter Claus

Le Havre, Aki Kaurismäki (Finnland / Frankreich / Deutschland 2011)

Bilder: Pandora Filmverleih