Es darf gestritten werden. Die einen schimpfen: „Kitsch!“ Die anderen schwärmen. So war’s schon in Venedig, im letzten Herbst, nach der Uraufführung. So wird es nun wohl auch anlässlich des deutschen Kinostarts sein. Mein Standpunkt: großes Vergnügen, resultierend aus einer nahezu perfekten Balance von Unterhaltung und Geist.

„Persepolis“, der Zeichentrickfilm, der die Jugend der in Paris lebenden Iranerin Marjane Satrapi spiegelt (die den Film zusammen mit Vincent Paronnaud realisiert hat), war 2008 ein wahrlich grandioses Debüt. Darin waren sich alle einig. „Huhn und Pflaumen“ ist kein Abklatsch, keine Fortsetzung. Die Form: Das Regieduo offeriert einen Schauspielerfilm fast klassischen Zuschnitts mit einigen Animationselementen. Und mit einem Übermaß an Phantasie. Womit wir beim Inhalt wären: Dem Geiger Nasser Ali Khan (Mathieu Amalric) wird von seiner wütenden Frau Faranguisse (Maria de Medeiros) das Instrument in Stücke gehackt. Das kostet ihn alle Kraft. Er will sterben. Denn die für ihn unersetzbare Geige war ihm weniger Musikinstrument denn Erinnerung an die Liebe seines Lebens, an Irâne (Golshifteh Farahani). Nicht mal sein Lieblingsgericht, Huhn mit Pflaumen, richtet ihn auf. Nasser Ali Khan fleht den Tod herbei. Tja, und der (Edouard Baer) kommt denn auch zu ihm. Fragt sich nur bis zum letzten Bild, wie das ausgehen soll.

Die Gegenwartsebene des Films liegt ihm Jahr 1958, Rückblenden führen in die Jahre, ja, Jahrzehnte davor, ein Großonkel von Marjane Satrapi gab das Vorbild für die Hauptfigur ab. Offeriert wird das als farbenfrohes, mal kraftvoll-komisches, mal melancholisches Märchenpuzzle, das mit optischen Reizen geradezu wuchert. Kunstgewerbe aber bleibt aus. So wird die Hauptfigur in allen Lebensaltern von Mathieu Amalric ohne Masken- und Schminktricks verkörpert. Damit wird dezent betont, dass die Erinnerungen, die in den Rückblenden wach werden, natürlich ganz aus dessen Sicht, von seinem Empfinden geprägt, gestaltet sind. Sieben Tage, sieben Erinnerungen (im Märchen passiert ja das Wichtige oft sieben Mal!), und über allem liegt ein zauberhafter Geigenklang. Der Franzose Renaud Capuçon – einer der Star-Geiger unserer Tage – spielt (an Stelle von Mathieu Amalric), und Capuçon spielt einfach göttlich. Diese Musik und die visuelle Finesse begeistern. Dazu kommt, dass leiser Humor feine Akzente setzt, die – für mich! – aller Sentimentalität eine Abfuhr erteilen. Da ist der Streitpunkt, das sehen viele anders, sprechen von „Kitsch!“. Weit verbreiteter Vorwurf gegen das Autoren-Regie-Duo: die politische Schärfe von „Persepolis“ wird nicht erreicht. Ich kann das nicht nachvollziehen. Wenn in einer Schlüsselszene Nassder Ali und Irâne einander nach vielen Jahren ein letztes Mal begegnen, dann wird der Film ohne jeden vordergründigen Verweis für mich zu einer poltisch-scharfen Anklage eines von den Machthabern verordneten Lebensstils, der den Frauen eine Rolle nach den Männern zuweist, der die Freiheit des Einzelnen beschneidet, der aufrichtigen Glauben in religiösen Zwang verwandelt. Aber für viele muss es wohl immer der Holzhammer sein. Schade!

Lustgewinn am Rande: Chiara Mastroianni und Isabella Rosselini bezirzen mit köstlich (selbst-)ironischen Gastauftritten. Hauptdarsteller Mathieu Amalric ist einfach nur hinreißend. Sein Können gibt dem Film endgültig eine große Klasse.

Peter Claus

Huhn mit Pflaumen, von Marjane Satrapi und Vincent Paronnaud  (Frankreich/Belgien/Deutschland 2011)

Bilder: Prokino