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Vor zehn Jahren wurde der französische Schriftsteller Philippe Claudel durch den Roman „Die grauen Seelen“ berühmt. Der Titel ist für ihn offenbar Programm. In seinen Spielfilmen jedenfalls, schon 2008 in seinem großartigen Regie-Debüt „So viele Jahre liebe ich Dich“, sind es die grauen Seelen, die den Ton angeben. Große Schauspieler haben da schöne Aufgaben.

Das Thema von Claudels drittem Kino-Spielfilm dürfte vielen vertraut sein. Es geht darum, wie schwer es ist, die Schönheit einer glücklichen Zweisamkeit über die Jahre zu halten und zu stärken, nicht durch Routine und Unaufmerksamkeit zu zerstören. Es ist eine alte Geschichte. Claudel erzählt sie auf neue Weise. Dabei fängt er ganz harmlos an. Die Protagonisten sind Paul (Daniel Auteuil), ein erfolgreicher, sehr viel Geld verdienender Neurochirurg, und seine Frau Lucie (Kristin Scott Thomas), die Haus und Garten und ihren Mann betreut. Sie wissen um das winter_320Glück, einander zu haben. Da taucht eine junge Frau auf. Sie beginnt, Paul nachzustellen. Und fast sieht es danach aus, als wolle er daraufhin die gewohnten Lebensbahnen verlassen.

Anfänglich resultiert Spannung aus der Frage, ob Paul das Weite sucht. Fast sieht es so aus, als beginne eine Geschichten vom diskreten Charme der Bourgeoisie, wie sie Claude Chabrol (1930 – 2010) oft erzählt hat, Geschichten, in denen hinter der schönen eleganten Oberfläche das pure Grauen lauert. Doch Philippe Claudel offeriert keinen Thriller Chabrolcher Art. Er beleuchtet die Schatten des Seins in aller Stille. Da lauert Grauen. Doch es ist jenes Grauen, das sich in ganz alltäglicher Tristesse manifestiert. Claudel schaut auf die Seelen seiner Figuren. Das ist überaus aufregend. Denn als Zuschauer findet man sich rasch im Kreis der Lieben da oben auf der Leinwand wieder.

Kristin Scott Thomas verleiht dabei der Lucie eine schmerzliche Intensität. Wie schon Claudels Debüt „So viele Jahre liebe ich Dich“ prägt sie den Film wesentlich. Man wundert sich nicht, wenn man liest, dass Claudel unbedingt wieder mit ihr arbeiten wollte und er die Rolle für sie konzipiert hat. Kristin Scott Thomas erweist sich, wie schon so oft, als Zauberin der leisen Töne und stillen Gesten. Ein Lächeln, sie reckt das Kinn, der Körper dreht einmal scharf herum – mit Nichts erzählt sie ungemein viel. Wieder beweist sie, dass sie zu den ausdrucksstärksten Schauspielerinnen ihrer Generation gehört. Man sieht sie – und man verfällt ihr.

Am Ende ist für die Handelnden nichts mehr so, wie es am Anfang war, und alles ist am richtigen Platz. Wirklich? Man verlässt das Kino mit dem beunruhigenden Gefühl, tief verletzte und verunsicherte Freunde in Not zu verlassen. Freunde, die es verstehen, sich hinter Floskeln und Masken auch zum Selbstschutz zu verstecken. Schnell fragt man sich, ob man da nicht selbst auf der Leinwand mitgewirkt hat. Claudels Film verlässt nun mal die Pfade des Wahrhaftigen nicht. – Großes Kino der leisen Töne, ein Hochgenuss für Menschen mit Grips und mit Gefühl.

Peter Claus

Bevor der Winter kommt, von Philippe Claudel (Frankreich/ Luxemburg 2013)

Bilder: polyband Medien GmbH