Dies ist ein Film für alle, die’s gefühlvoll mögen, aber nicht gefühlig.

In der erzählten Geschichte ist es wie im wahren Leben, Gutes und Böses, Lachen und Weinen, liegen immer dicht beieinander. Freilich. Das ist das kein Garant für gute Kunst. Das „Wie“ ist entscheidend. Und das ist hier exzellent.

Schon am Anfang ist klar. Ein Wechselbad der Gefühle steht an. Da sehen wir die erwachsenen Brüder Lee (Casey Affleck) und Joe (Kyle Chandler) und dessen vielleicht sechs-, siebenjährigem Sohn Patrick (Ben O’Brien) auf einem Kutter. Ausgelassen trudelt das Trio vor der Küste Neu-Englands über die Wellen. Schnitt: Daheim erwartet sie Patricks von ihrer Alkoholsucht schwer gezeichnete Mutter (Gretchen Mol). – Damit ist skizziert, um was es hier geht: Beleuchtet werden die oft schmerzlichen Schnitte, die jede Persönlichkeit im Laufe des Lebens prägen. Es sind die Schnitte, die brutal den Abschied von der Kindheit markieren. Schicksalsschläge, das Ende einer Liebe, manchmal aber auch nur ein Missverständnis, und gelegentlich Ereignisse, die den Mut zu neuen Schritten stärken. So was kann im Kino sehr oberflächlich daherkommen. Autor und Refgisseur Kenneth Lonergan und sein Team aber loten die Tiefen und Untiefen aus, haben sorgsam auf Wahrhaftigkeit des Erzählens geachtet.

Auslöser der Story: Joe, er ist herzkrank, stirbt. Lee, der fern jeglicher sozialer Kontakte als Hausmeister in Boston lebt, ohne Freude, würde das am liebsten übergehen. Doch bei dem Pflichtbesuch in seiner Heimatstadt Manchester-by-the-Sea, erfährt er, dass der Verstorbene sich gewünscht hat, Lee möge die Vormundschaft für den inzwischen 16-jährigen Patrick (jetzt gespielt von Lucas Hedges) übernehmen. In Lee sträubt sich alles. Er sucht nach Alternativen. Patrick ist auch nicht gerade begeistert. Und schon – nicht genug mit den Schwierigkeiten der Gegenwart – tauchen auch Schatten der Vergangenheit auf, etwa in Gestalt von Lees Exfrau Randi (Michelle Williams). Da brechen dann Wunden auf, die nie verheilt sind. Und die auch nie verheilen werden. Hier  zum Beispiel zeigt sich die Klugheit des Films: Es wird nie so getan, wie meist in billigen Melodramen üblich, dass Liebe und Verständnis alle Wunden heilen können. Und wenn’s „nur“ Narben sind, die schmerzen …

Wichtig sind die stillen Momente, die Augenblicke des Schweigens, der Sprachlosigkeit. Da offenbart sich oft viel mehr als in ausschweifendem Geplapper. Wobei es nicht nur ernst zugeht. Auch Witz ist angesagt, etwa wenn der jugendliche Patrick und Lee sich zögerlich, einander ablehnend und doch die Nähe des Anderen suchend, umkreisen. Wenn sich dann die Gefühle Bahn schlagen, etwa in einer entscheidenden Begegnung von Randi und Lee, wird es tatsächlich hart. Kitsch hat dabei keine Chance. Aus vielen guten Gründen: Herauszuheben sind die pointierten Dialoge. In denen wird oft klar, dass Menschen gerade in entscheidenden Situationen die richtigen Worte nicht einfallen. Überaus intelligent, und nie konstruiert wirkend, ist die von erstaunlich bruchlos eingefügten Erinnerungssequenzen geprägte Erzählführung. Der Schnitt – im Zusammenklang mit der Musik – verleiht dem Film einen angenehm weichen Rhythmus. Und dann sind da die Schauspieler! Ursprünglich wollte Matt Damon die Hauptrolle übernehmen. Die Idee zum Film stammt nämlich von ihm und seinem Schauspielpartner in „Promised Land“, John Krasinski. Aus terminlichen Zwängen übergab Matt Damon die Rolle an Casey Affleck. Casey Affleck erweist sich als Glücksgriff. Er ist mit der Verkörperung des Lee zweifellos in die erste Garde Hollywoods aufgerückt. Der 40-Jährige konnte bereits, völlig zu Recht, den begehrten Golden Globe (und -x andere Auszeichnungen) gewinnen und gilt weithin als aussichtsreicher Anwärter für den „Oscar“ als bester Hauptdarsteller. Tatsächlich ist es faszinierend, und geht einem ans Herz, wie er zunächst einen introvertierten, geradezu bärbeißigen Typ charakterisiert, mit dem man im wahren Leben nicht unbedingt zu tun haben möchte. Doch mit Fortschreiten der Geschichte öffnet sich der Charakter, zeigt Affleck mehr und mehr Facetten, macht mit unaufdringlichen Gesten und Blicken klar, warum der Mann so wurde, wie er ist, und wie unsagbar schwer es ihm fällt, sich zu ändern. Da passiert, was man am Anfang des Films nicht glauben mag: Man bibbert und bangt mit Lee, man beginnt sogar, ihn zu bewundern, glaubt an ihn, möchte regelrecht in ihn hineinkrauchen, um ihm zu helfen. An der Seite von Casey Affleck agiert Lucas Hedges mit unerschütterlicher Natürlichkeit. Es sieht fast so aus, als spiele er sich selbst. Was selbstverständlich nicht stimmt. Er spielt eine Rolle, und das mit erstaunlicher Präsenz. Neben den Zweien ragt Michelle Williams mit wenigen Auftritten als Randi aus dem Ensemble heraus. Wie schon so oft, besticht sie mit kontrollierter Hysterie, mit der nuancierten Zeichnung einer Persönlichkeit, bei der man selbst in den ruhigsten Momenten das Gefühl hat, sie würde gleich explodieren. Auch dies ist aller Ehren wert. Wie die Leistung von Casey Affleck, ist auch die von Lucas Hedges und die von Michelle Williams „Oscar“-würdig. Aber egal, wie viele oder wenige Auszeichnungen es noch gibt: Der Film gehört zweifellos zum Besten, was unter der Marke „Unterhaltung mit Anspruch“ gegenwärtig im Kino zu finden ist.

Peter Claus

Bild: © Universal Pictures International Germany GmbH | Manchester By The Sea | Filmplakat (Ausschnitt)

Manchester by the Sea, von Kenneth Lonergan (USA/ 2016)