Stimmt es, dass jeder das Recht auf seine eigene Lebenslüge hat? Ist es tatsächlich legitim, sich selbst und das eigene Tun und Lassen in der Rückschau ins beste Licht zu rücken? Der Verstand sagt „Nein!“. Doch das Gefühl bringt wohl die meisten dazu, dennoch die rosarote Leuchte anzuknipsen. Erinnern heißt Schönfärben. Julian Barnes‘ 2011 erschienener Roman „Vom Ende einer Geschichte“ illustriert das eindringlich. Nun ist der Film zum Buch da.

Die Story: Tony Webster (Jim Broadbent), der Erzähler, Mitte, Ende 60, wird durch ein Erbe, das Tagebuch eines Jugendfreundes, zum Zurückdenken gezwungen. Dabei kommt er an die Aufschrift zunächst gar nicht heran. Und es ist lange fraglich, ob ihm das je wirklich vergönnt sein wird. Diese Story zeichnet der Film mit Sinn für Spannung nach. Was etwas wenig ist.

Das Eigentliche, die Auseinandersetzung mit der Kernfrage, wird jedoch nicht völlig verdeckt: Die Rückschau Tonys auf seine Studentenzeit, vor allem auf eine frühe Liebe und dadurch verursachtes Leid, fesselt schließlich auch im Kino mit facettenreichen Porträts von komplizierten Charakteren. Tony und die anderen haben viel Kummer ausgelöst, Schmerz, Tragödien. Doch sie haben es nicht einmal bemerkt. Oder sie haben es bemerkt, wollten es jedoch nicht wahrhaben, und haben alles Schlimme dem Vergessen überlassen. Ist das verwerflich? Gehört Reue, und käm‘ sie noch so spät, zur Lebenspflicht? Wenn sich Tony darüber mit seiner einstigen Liebe Veronica Ford (Charlotte Rampling) auseinandersetzt, hat der Film seine stärksten Momente. Und das ist in erster Linie der Präsenz der beiden Hauptdarsteller Charlotte Rampling und Jim Broadbent zu danken. Sie wischen das Hauptproblem jeder Literaturadaption sozusagen im Handstreich weg: die Konkurrenz der millionenfachen Bilder in den Köpfen der Leser.

Als Veronica trumpft Charlotte Rampling auf. Sie gehört zu jenem kleinen Kreis von Leinwandstars, deren Erscheinung allein schon fasziniert. Sie braucht keine großen Auftritte, keine lauten Momente, um das Publikum in den Bann zu schlagen. Ihre meist leicht somnabul wirkenden Blicke und das immer etwas spöttisch anmutende Lächeln genügen, dazu ab und an kleine eckige Bewegungen mit den Händen, um Besonderes zu unterstreichen, schon eröffnen sich den Zuschauern Welten. Es ist noch so wie vor fünf Jahrzehnten in Lucchino Viscontis „Die Verdammten“: Charlotte Rampling tritt auf und überstrahlt alles und jeden. An ihrer Seite hält Jim Broadbent, jüngst vor allem als Professor Horace Slughorn in zwei der „Harry-Potter-Filmen bekannt geworden, locker mit. Auch er fasziniert durch seine Persönlichkeit. Wie seine Partnerin setzt auch er nicht auf grelle Effekte, sondern zeigt durch präzises Mienenspiel und mit exakter Körpersprache das Chaos im Inneren der von ihm dargestellten Figur. Umgeben von exzellenten Akteuren, die auch kleinste Rollen mit prallem Leben füllen, begeistern die Beiden ohne Wenn und Aber. Und retten damit den Film. Denn die Regie von Ritesh Batra („Lunchbox“) und das Drehbuch von Nick Payne lassen doch einige Wünsche offen. Dabei geht es nicht um Verkürzungen der Handlung oder darum, dass im Film, anders als im Buch, die verschiedenen Zeitebenen, Heute und Gestern, recht flott miteinander verwoben und weniger scharf getrennt sind. Auch ist die Bildführung mit ihrer ruhigen Eleganz angenehm. Doch es ist nicht gelungen, den aufgeworfenen psychologischen Fragen die gesellschaftsrelevante Dimension der Romanvorlage zu geben. Aber ist das überhaupt möglich? Diese Dimension entsteht nämlich allein in den Köpfen der Leser, wird durch die Flut der vom Romanautor ausgelösten Assoziationen manifestiert. Die Fülle aus wirklich Erlebtem und Ausgedachtem, in den Gedanken bewusst Bewahrtem und absichtsvoll Vergessenem, das trügerische Geflecht der Erinnerung wird im Buch als oft nur von Andeutungen markiertes Wort-Netz ausgebreitet. Der Roman entsteht im Grunde erst im Kopf des Lesers. Und er entsteht in jedem Kopf anders! Eine derartige Fragilität ist Kino-Bildern fremd. Sie sind konkret und handfest, sie können Ungesagtes, Nicht-Erfassbares, unmöglich zeigen.

Oft gilt: Nicht-Verfilmung ist besser, lasst das Buch für sich stehen. So hart fällt das Urteil in diesem Fall nichts aus – das aber allein wegen der Präsenz der Akteure!

Peter Claus

Bild oben: Charlotte Rampling und Jim Broadbent |© wild bunch