Anmerkungen und Abschweifungen

Larry ain´t lazy (he´s just sitting there & watching me in a most peculiar way)

„Ich habe immer daran geglaubt, dass man im Kino prinzipiell alles zeigen kann. Jeder Mann bekommt irgendwann seinen ersten Blowjob, warum soll ich das nicht zeigen?“ Diese Frage kann man, rotzfrech, wie man so sagt, in einer puritanischen Gesellschaft durchaus stellen. Und an Rotzfrechheit hat es dem Fotografen und Filmemacher Larry Clark, der sie zur Mitte der neunziger Jahre gestellt hat, so wenig gemangelt wie an einer puritanischen Gesellschaft um ihn herum. Damit aber hat der unbekümmerte Realismus eines Ich-zeige-es-weil-es-und-wie-es-eben-da-ist wohl noch keine hinreichende Begründung. Denn die Frage der Kunst ist nicht „Warum soll ich das nicht zeigen?“, die Frage ist: „Warum zeige ich es?“. Zugegeben: Es ist nicht die Aufgabe des Künstlers, sie zu beantworten. Es ist die Aufgabe der Bilder selbst. Also los.

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Kindheit und Jugend sind prekäre Zustände der bürgerlichen Gesellschaft, die beständig zugleich entdeckt und erfunden werden müssen. Das ist einerseits eine Aufgabe der sexuellen Ökonomie und andererseits eine der Dramaturgien und Ikonographien der populären Kultur. Natürlich pfuschen da noch eine Anzahl weiterer gesellschaftlicher Instanzen mit, Kleriker, Beamte, Pädagogen oder Kritiker zum Beispiel, aber sie werden die Leute weder am Ficken noch am öffentlichen Reden darüber hindern, weder an der Verklemmtheit noch an der spektakulären Hysterie, wenn Mode, Markt und Alltag es so wollen und nicht anders.

Jedenfalls ist „Jugend“ stets auch ein ästhetisches Projekt, Maske und Spiegel. Das Modell Kindheit – Jugend – Erwachsensein organisiert sich nicht nur auf einer linearen Zeitschiene mit krisenhaften Geschehnissen des Übergangs (die erste Abenteuer-Reise, der erste Geschlechtsverkehr, die erste Erfahrung von „Verantwortung“), es organisiert sich auch in speziellen Räumen, privaten (mein Zimmer), halb-öffentlichen (meine Schule) und öffentlichen (meine Straße, mein Abhänge-Platz) Räumen, in Zeichen und Gegen-Zeichen. Die Zustände Kindheit, Jugend, Erwachsensein wurden sowohl mythisch (Unschuld – Übergang – Ordnung) als auch biologisch definiert, sozial (als „Bildung“ von Menschen), und politisch. Vor dem Gesetz sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene so wenig gleich, wie in ihrer Teilhabe an öffentlichen Ritualen und sogar Verständigungen: kein Alkohol für Jugendliche unter 16; dieser Film ist für Jugendliche unter 18 Jahren nicht freigegeben; Kinder haben keinen Zutritt.

Die prekären Räume, das ist eine der Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft, die wir so offensichtlich gerade zum Teufel gehen sehen, sind stets zugleich Räume der Einschränkung (um diesen Raum sind andere Räume des Noch-Verbotenen) und Räume des Schutzes. Hinauskommen oder Hereinplatzen, das sind diesbezüglich die elementaren Impulse der bürgerlichen Gesellschaft; der Sehnsucht drinnen, in die großen unerforschten und verbotenen Terrains aufzubrechen, steht die von draußen gegenüber, zurück in den Bereich des unschuldigen Wünschens, des unkorrumpierten Begehrens zu gelangen. Ist nicht sogar das Pornographische, wenn es nur rein und ohne ideologische Nebenabsicht daherkommt, nichts anderes als ein Blick des neugierigen Kindes auf die „erwachsene“ Sexualität? Die populäre Kultur der bürgerlichen Gesellschaft besteht daher aus einem endlos geflochtenen Band der Phantasien von Aufbruch und Rückkehr, und die Erfolgsmodelle dieser Kultur, von Disney zu Spielberg, zeichnen sich dadurch aus, dass man die beiden Impulse voneinander nicht mehr recht unterscheiden kann: Träumen die Kids vom Erwachsenwerden, oder träumen die Erwachsenen vom Wieder-Kind-Werden, oder träumen Erwachsene von Kids, die von Erwachsenen, die träumen… Wie auch immer: Die Verhältnisse zwischen Kid-Kultur und Mainstream mögen in Fluss geraten sein; völlig verschwunden sind die Grenzen nicht, sonst würde die Dynamik des Systems vermutlich auch auf dem Markt der Zeichen und Träume Schaden anrichten.

Der Kid-Bereich der Kultur muss also aus zwei Gründen geschützt werden. Aus einem sozialen Grund, weil es um die symbolischen Ordnungen geht, ohne die wir „Gesellschaft“ ohnehin zum Fenster hinaus werfen könnten, und aus einem ökonomischen Grund, weil der Kid-Market nur als „erhitzter“ überhaupt funktioniert. Dieser Schutz ist, mit der Ästhetisierung des Zustandes, nicht zuletzt auch ein ikonografischer Schutz. Die Spielzeugwelt ist etwas eigenes, eine Sprache, die zwar in der Erwachsenenwelt als langue produziert wird, aber im Kinderzimmer als parole praktiziert. Zumindest sind Legosteine ebenso die Illusion, etwas „Eigenes“ fertigen zu können, wie Slipknot die Illusion einer eigenen Musik sein mögen.)

Die „erwachsene“ Mainstream-Kultur und die Jugendkultur verständigen sich in der Regel über eine wechselseitige Mythologie. Selbst im Ghetto wird „Jugend“ noch mit einem Überzug der Romantik behandelt. Der Gebrauch der Zeichen, die Illusion einer eigenen symbolischen Ordnung, organisiert sich nicht zuletzt in den tribes und trends. Die Sprache des Pop indes dehnt sich aus; sie verbindet nicht länger Teenage-Angst und Teenage-Lust, sondern öffnet der gesamten Gesellschaft einen imaginären Raum der Nicht-Erwachsenheit: Pop killed the Kids. But what about art?

Der Zustand Kid und der Zustand Pop interferieren also miteinander. In der bürgerlichen Konstruktion  dieses Zustandes bildet sich der Mythos aus zwei einander entgegenlaufenden Aspekten: Es ist ein Zustand, in dem man sich zugleich im Gefängnis wähnen muss und sich allein gelassen, gar ausgesperrt fühlen kann. Die Antwort darauf ist das Zeichen, die Pose und die Parole. Der Anspruch auf Freiheit, der sich in „Rebellion“ äußert, und die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, die zur Tragödie tendiert, wo es kein Zurück zur alten Familie und kein Vorwärts zur neuen gibt, ist in dieser Mythologie der Jugend aufgehoben, solange sie als Übergangsstadium begriffen wird. In der Pop-Kultur dagegen ist der Anspuch auf ewig verlängert. Wer aus dem Zustand nicht herauskommt, muss in der Mythologie entweder sterben, oder er wird so komisch wie ein in die Jahre gekommener Punker.

Im Mythos der Jugend ist klar, es gibt Sexualität in der einen und in der anderen Kultur. Aber zum einen soll es keinen Übergriff geben, zum anderen soll sie jeweils codiert sein. Als romantische Erfahrung (in der offiziellen Teenage-Kultur siegt die Liebe über den Sex) und als Selbstbeschränkung (in der offiziellen Erwachsenen-Kultur siegt die Familie über das Begehren).

Kindheit, Jugend und Erwachsensein betreffen das Objekt der Narrative, die Medien der Codes aber eben auch, und das ist das letzte Stadium.

Die Frage also ist die nach dem Wesen der mehr oder weniger künstlerischen und mehr oder weniger kommerziellen und mehr oder weniger gesellschaftlichen Prozesse der Überschreitungen. Die Frage ist, nun hinreichend konkret: Welchen Sinn macht es, wenn ein Mann jenseits der Lebensmitte mit seinen Foto- und Filmkameras in den intimen Bereich vorstößt, um dort mit den Mitteln einer eher dokumentarischen Vorgehensweise ein offensichtlich obsessiv verfolgtes Narrativ zu entwickeln?

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Larry Clark war ein bekannter Fotograf, der mit seinen Fotos aus der Welt der Straßenkids für Furore sorgte, eine Art von eins-zu-eins-Abbildung einer Jugend, die auf „ein schnelles Leben“ konditioniert wurde, im Zeichen von Neoliberalismus, AIDS und Drogen in der Stadt gleichsam implodiert. Seine Fotos der Serie „Tulsa“ (1971)  bringt Kids und Alltag zusammen, ein Leben am Rande der Gesellschaft, ohne die Geste des romantischen Outlaw, doch im harten schwarz/weiß, das noch ganz der alltäglichen Vulgarität des Farbigen entsagt. Der Zustand Jugend besteht hier nicht mehr aus dem sozialen und sexuellen Experiment, es ist nicht mehr geprägt vom Nicht-mehr der Kindheit und dem Noch-nicht einer kommenden Erwachsenen-Existenz, es ist vielmehr reine Gegenwärtigkeit. „Die Neuheit von Clarks Bildern stand damals in einer Distanz, die sich gerade aus der Involviertheit, Intimität und einem sexuellen Interesse ergab – eine Sozialfotografie ohne Anklage und Vollständigkeitsanspruch“ (Manfred Hermes). In den Bildern seiner Freunde im Oklahoma der sechziger Jahre verband sich ein krauses Americana mit einer Obsession, die den „Punk-Picasso“ nicht mehr loslassen sollte:  Die Sexualität der Teenager zwischen Aggression, Gleichgültigkeit und Verletzlichkeit darzustellen, nicht nur als konkreten Impuls in der Gesellschaft, sondern auch als einen letztmöglichen gegen sie. Das Foto einer schwangeren Jugendlichen, die sich einen Schuss setzt, ist alles drei zugleich, ein ergreifendes Dokument der Zukunftslosigkeit, eine Ikone der Subkultur, und möglicherweise eine Figur in Larry Clarks schmutziger, neo-barocker Wunschwelt. Sex und Droge ist, und die seltsame Leere in vielen Bildern unterstreicht das, gleichsam das Einzige was man hat in einer Welt, in denen es keine Erwachsenen mehr zu geben scheint, so wie in einem Neverland eines Peter Pan, der vor keinem Kuss mehr Angst haben kann, wie in der Welt eines „Herrn der Fliegen“, in der es keinen anderen Code als den des Körpers geben kann. „Als ich die Fotos zu ‚Tulsa‘ machte, wollte sich niemand vorstellen, dass die wohlerzogenen Kids von Oklahoma irgend etwas mit Drogen zu tun hatten“, so Larry Clark anlässlich einer Retrospektive seiner Fotos, „mit Sex und Gewalt. Und jetzt? Es ist wie bei KIDS. Als der Film herauskam, sagten alle, das sei Larrys Besessenheit. Es brauchte die offenen Drogenszenen im Südwesten, ein paar Schulhof-Massaker und AIDs um auch dem Mainstream die Augen zu öffnen“. Vielleicht ist das ein wenig zu viel der Selbstrechtfertigung, um noch vollständig glaubhaft zu wirken.

Was Larry Clark in „Tulsa“ gesehen hatte, mit einem sympathetischen Blick, aber ohne Beschönigung, das verwandelte sich in den Mainstream-Medien freilich in eine besondere Form der Dämonologie. Die Teenager, die gerade noch als kleine Engel galten, verwandelten sich in den Medienbilder in Monster. Und zweifellos diente auch Clarks Blick auf die „dark side“ der Jugend im amerikanischen Herzland als Material für die neue Reality Show „Kids of America“, als missing link zwischen jugendlicher Aktion und Mainstream-Reaktion. Clark selber musste in seiner Arbeit auf diesen Diskurs des Mainstream reagieren und zugleich sein Projekt fortsetzen. Die Serie „Teenage Lust“ (1983) ist eine direktere Provokation; der Körper des Jugendlichen ist offenbar samt seiner Pose im sexuellen Interesse erstarrt. Es fehlt das, wogegen sich James Deans Pose, die immer wieder zitiert wird, richten kann. Aus dem Gestus der Photo-Reportage freilich musste hier schon durch die Rezeptionsgeschichte ein künstlerisches Statement werden. In der Mitte der achtziger Jahre hatte Larry Clark eine Reihe seiner ursprünglichen Bewunderer verloren.

Als Fotograf der Village Voice gehörte Clark immer noch zum „Underground“, auch wenn das zu dieser Zeit schon keine wirklich klare Bezeichnung mehr war, weder im ökonomischen noch im stilistischen Sinn, und er wurde dort (allen Ernstes) als „poète maudit der finsteren Tiefen der amerikanischen Jugend“ vorgestellt. Im Wesentlichen ist dies auch das Angebot, das Clarks Filme dem Mainstream machen, ein stellvertretendes „Hinuntergehen“, und auch in den Wendungen zwischen Arbeit und Biographie, die Clark selber mit einer Pose der besonderen toughness zu kommentieren pflegt (einschließlich des Selbstmords einer seiner Darsteller in KIDS), offenbart sich die vollständige Isolation dieser künstlerischen Position zwischen Mainstream und Subkultur, die stets von beiden Seiten her lesbare Bilder produzierte, Bilder, die das empörte, ewige „Diese Jugend von heute!“ ebenso bestätigen wie eine Störung des faulen Friedens der symbolischen Ordnung zwischen den Generationen. Da sich fatalerweise beide Lesarten gerade aneinander hochzuarbeiten pflegen schienen Larry Clarks Arbeiten den Widerspruch weniger zu bearbeiten als vielmehr genussvoll zu vertiefen. Und weil der Autor, wenigstens darin Pier Paolo Pasolini nicht unähnlich, sein sexuelles Interesse darin nie geleugnet hat, schien Clarks Bilderwelt in der Tat die Erfüllung von Johnny Rottens Vorwurf der „cheap holiday in other people’s misery“ – ein Zitat, das in den Internet-Foren zu Clarks Ausstellung „Punk Picasso“ (2003) häufig gebraucht wurde. Hier versuchte Clark, durch Collagen und durch TV-Loops seine Bildwelt in die Gesellschaft zurück zu projizieren, aber mehr als das schien diese Installation eine Art phallischer Schrein, vor dem das sexuelle Interesse den sozialen Kommentar auffressen musste.

Der Vorwurf, das Dokumentarische dieser Zeugenschaft wäre zumindest nahe eben jenem Voyeurismus, der die Grenze für den gesonderten Bereich der Jugend gegen den Zugriff der Mainstream-Kultur, in ausbeuterischer Absicht durchbricht, erhob sich hier zum wiederholten mal. Es sind Bilder, die weh tun sollen, denen man aber auch unterstellen kann, sie wollten sich selbst in diesem Schmerz erschöpfen. Roberta Smith fasste es in ihrer Kritik in der New York Times in einem Satz zusammen: „Mr. Clark hat mehr Leid erzeugt, als er erfahren hat, und noch weniger als er in Kunst verwandelt hat“.

Der Mainstream reagierte auf seine Bildbände mit der gewohnten Mischung aus Faszination und Empörung. Schon die Übertragung dieses Straßen-, Bett- und Disco-Realismus in das bürgerlichen Format von Ausstellung und in Coffee Table Books, übrigens mit einer rekordverdächtigen Diebstahl-Rate, hatte etwas durchaus Obszönes, eine Form der Enteignung, die Clark im Medium des Films zu überwinden hoffte. Als er die Kinos mit seinem Film KIDS 1995 aufzumischen versprach, hatte dieses Bild indes immer noch nicht den Protagonisten als Adressaten. Die einen waren dafür, die anderen dagegen, wie er seine jugendlichen Helden zeigte, aber zwei Worte fielen den Rezensenten immer ein: „schonungslos“ und „realistisch“. Als „einen geraden, trockenen Boxhieb in den Magen des saturierten Bürgertums, das darauf in den USA auch heftig reagierte und den zum Teil mit Laien gedrehten Film als ‚Skandal‘ brandmarken wollte“, bezeichnete es die Süddeutsche Zeitung (bei der TV-Aufführung des Films; 22:55 Uhr im Drittes Programm Südwest, damit keine falschen Eindrücke vom deutschem Fernsehen entstehen), und TV Spielfilm machte es knapper: „Ein Film wie ein Faustschlag“.

KIDS, entstanden nach einem Drehbuch des damals 19jährigen Harmony Korine (später selbst Filmemacher von höchst eigener Art) zeigt Sex, Drogen, Gewalt, Kriminalität und tut es ohne Romantik, ohne Rollenspiele, ohne die Narrative des Teenagerfilms, ohne den Mythos. Alle, vom Autor über die Darsteller bis hin zum Regisseur selber begreifen ihre Darstellung als autobiographische Geste, und die New Yorker Originalschauplätze verweigern sich noch in ihren Nachtszenen dem „Pittoresken“. (Man muss wohl immer auch den Ort, die Stadt mit einbeziehen, wenn man von Clarks Fotos und Filmen spricht.)

Der Plot besteht aus simplen Beziehungen, wie zufällig herausgelöst aus einem endlosen Netz: Telly steht darauf, mit Jungfrauen zu schlafen: „Jungfrauen sind geil. Und du kannst dir nichts holen“. Jennie ist das nächste Opfer; er kriegt sie bald rum, und dann will er sie abwimmeln. Telly und sein Freund Casper kaufen sich Dope mit Geld, das sie Tellys Mutter gestohlen haben. Einigermaßen zugedröhnt schlagen sie einen Afroamerikaner zusammen, der Casper aus Versehen angerempelt hat (nicht dass die beiden besonders rassistisch wären, sie reagieren nur sofort auf jemanden, der sich als Opfer anbietet). Unterdessen sitzen die Mädchen bei Ruby zusammen und reden über Sex. Was ist der Unterschied zwischen „making love“, „having sex“ oder „fucking“. Jennie erzählt, dass sie gerade ihre Jungfräulichkeit losgeworden ist. Als sie ihre Freundin Ruby zum AIDS-Test begleitet, erfährt Jennie, dass Telly sie mit dem HIV infiziert hat. Sie sucht nach Telly, der es gerade auf eine 13-Jährige abgesehen hat.

Sex ist keine große Sache; „Das war’s – was ist eigentlich passiert“; sie muss zum Fetisch werden, wo sie zum Mythos nicht mehr taugt. In den Peanuts-Comics kommen Erwachsene nur in Form dräuender und hilfloser Gestalten im off der panels vor. Ganz ähnlich ist die Welt der Kids bei Clark geschlossen; der Versuch von Jennie, mit ihrer Mutter zu sprechen, muss scheitern; sie kann sie nicht einmal erreichen. Von der Gesellschaft können sie weder Vor-Bilder noch Hilfe erwarten. Dass Telly das Ficken gleichsam zum Lebensinhalt macht, (dramatisch genug: „nimm mir das und mir bleibt nichts“) weist schon auf etwas fehlendes, auf das was der traditionelle Teenager-Film mit seinen kleinen und vor allem mit seinen großen Lügen füllt.  Der turn vom sozialen und biologischen Überfluss zum Verzweifelten enthält dieses Ende der Kindheit: Teenager, die sich in sexuelle Manie verstricken wie es an anderem Ort der populären Erzählung nur alte Tunten tun, oder eben in dieser Todesnähe, die in KEN PARK dann freilich in ganz anderem Licht gesehen wird.

Der Realismus der Fotos und der Film von Larry Clark musste im besten Fall von der Mainstream-Kultur als Gesellschaftskritik aufgenommen werden. Was an den Kids des Larry Clark sofort auffällt ist ein Mangel an Symbolik. Tribes und Trends spielen so gut wie keine Rolle, die Kultur wird ausschließlich durch den Ort bestimmt, New York oder Florida. Seine Jugendlichen gefallen sich weder in den Geschlechter-Erfindungen und dem sexuellen Rollenspiel, das für bestimmte tribes typisch ist, noch im Spiel mit dem Androgynen, das von Zeit zu Zeit die Mainstream-Kultur verwirrt. Sie verhalten sich zu bestimmten romantischen Konstruktionen reziprok.

KIDS funktioniert zum einen als heftiger Ausdruck einer Methode des realistischen Filmens jenseits und gegen Hollywood, und dabei nicht zuletzt als Anti-Teenagerfilm. BULLY erscheint wie eine Fortsetzung der Strategien von KIDS und öffnet der Kritik wohl am ehesten Argumente gegen die Methode Clarks. Die Spekulation mit Sensation und Gewalt offenbarte sich etwa in dem Werbeslogan „Wissen Sie, was Ihre Kinder um vier Uhr morgens im Schilde führen?“. Damit lehnte sich der Film nicht nur an die Horrorfilme an, der Slogan definierte auch das Objekt im Zuschauerraum: der erwachsene Mensch, dem die Kids gleich ungeheuer, fremd und begehrenswert erscheinen müssen. Näher an der alten Form der sexploitation zwischen „Lolita“-Sex, „Schulmädchenreport“ und „Scream“. Diesmal führt freilich der Weg nicht in die Reihen der New Yorker Unterschichtkids, sondern in die des weißen Mittelstandes in Florida. Nun wird neben den Ficks und den Drogen in Cabrios gefahren. Aufhänger ist ein Mordfall, der sich zu Beginn der neunziger Jahre hier tatsächlich ereignet hat. Wieder nicht kommt der Mord aus einem dramatischen Überkonflikt: Marty Puccio, zwanzig Jahre alt, wird von  seinen Freund Bobby, der eine homosexuelle und sadomasochistische Ausrichtung aufweist als eine Art  menschliches Spielzeug gehalten. Mit seiner Freundin Lisa fasst Marty den Entschluss, sich gegen Bobbys Gewalt zur Wehr zu setze. Die, die sich von ihm unterdrückt fühlen, die er vergewaltigt hat, locken ihn in eine Kiesgrube, wo er ebenso barbarisch wie laienhaft zu Tode gebracht wird. Die Dummheit des Mordkomplotts ruft die Polizei auf den Plan, und so erfahren auch die ahnungslosen Eltern von den Verstrickungen ihrer Kinder.

Zwischendurch versuchte sich Larry Clark an einem veritablen Genrefilm, noch dazu ein, wenn auch schräges, Remake eines C-Filmes aus den frühen sechziger Jahren: TEENAGE CAVEMAN vereint dennoch die Clark-Motive (und nicht unbedingt mit der Absicht einer Selbst-Persiflage): Wieder einmal ist die Zivilisation mit einem Knall untergegangen und die Menschen auf das Niveau der Steinzeit-Kultur zurückgeworfen. In dem Stamm, um den es in der Handlung geht, ist Sex strikt verboten. Ein Schamane aber versucht, Davids Freundin Sarah zu verführen, und der bringt den alten Schwerenöter daraufhin um und flüchtet mit einer Gruppe von anderen Teenagern in die Wildnis. In den Ruinen einer gewaltigen Stadt finden sie andere Überlebende der Katastrophe. Mit zwei von ihnen, Neil und Judith freunden sich die Neo-Steinzeitkids auch an, und mit ihnen entdecken sie ein anderes Leben: Sex, Drugs & Technology! Fatalerweise aber sind diese postapokalyptischen Hedonisten keine wirklichen Menschen sondern Ergebnisse wüster genetischer Experimente und in Wahrheit schon über hundert Jahre alt. Doch was das Schlimmste ist: Der sexuelle Kontakt mit ihnen endet tödlich. Keine Selbstparodie, und dennoch ist TEENAGE CAVEMAN, nach einem Drehbuch von einem gewissen Christos N. Gage entstanden.

Clarks Gangsterfilm ANOTHER DAY IN PARADISE funktioniert wieder nach dem Prinzip des „schonungslosen Realismus“. In den siebziger Jahren im mittleren Westen der USA ist Heroin die Droge der Stunde. Bobbie und Rosie sind eins von vielen Junkie-Pärchen im Drogensumpf. Die beiden besorgen sich das Geld für den täglichen Schuss durch Automatenknacken. Dann aber macht ihnen ihr Dealer Mel (James Woods) das Angebot, zusammen mit seiner Partnerin Sid (Melanie Griffith) bei einem größeren Coup mitzumachen. Das Angebot scheint unwiderstehlich.

Es sind diese Charaktere, die Clarks Film so heftig macht: In den Junkies stecken immer noch die unfertigen Kinder, und in dem Gangster/Dealer und seiner Freundin stecken  auch so etwas wie Mutter und Vater. Der blutig verpatzte Coup ist nicht zuletzt ein Zerbrechen eines zweiten Familienromans.

KEN PARK (2003) zusammen mit Ed Lachmann inszeniert (der für Filme von Werner Herzog, Steven Soderberg und Todd Haynes die Kamera führte), verändert die Perspektive in doppelter Hinsicht. Von der objektiven Beobachtung aus dem sexuellen Interesse heraus führt der Weg zu einer subjektiven Teilhabe; und von der Preisgabe der Protagonisten (früher durchaus auch in der Kritik als Denunziation gelesen) geht der Weg zu einer fast zärtlichen Behütung und Teilhabe: die Erwachsenen werden nun sichtbar, und es ist nicht minder dämonisch, was da zu sehen ist. Mit dieser Öffnung verliert sich das, was man vordem als Moment der exploitation in Larry Clarks Filmen bezeichnen konnte; das sexuelle Interesse ist wie das pädagogische Interesse, wie das religiöse und schließlich wie das politische Interesse selber unter Anklage geraten. Von der Provokation, die von einem Film wie KIDS ausging, führte der Weg zu einer Trauer, wie sie sich auch in Filmen wie Todd Solondz‘ HAPPINESS findet: Jugend ist nicht mehr ein trostlos geiler Zustand in einer ignoranten Gesellschaften, sondern trostlose Geilheit in zahllosen Systemen trostloser Geilheit (oder geiler Trostlosigkeit, wenn man an die bigotten Impulse denkt).

Auch mit diesem Film (der nach einem frühen Script von Harmony Korine entstand) gab es natürlich Schwierigkeiten. „Es war eine harte Schlacht, aber wir geben den Kampf nicht auf, bis wir den Film in die amerikanischen Kinos bekommen haben“. In vielen Ländern kam der Film nur in zensurierten Fassungen heraus. In Australien wurde er noch im Jahr 2003 verboten. Und auf den heimischen US-Markt kam er erst über einen Umweg durch Europa, im Festival- und Arthouse-Gewand. Vielleicht schon zu sehr „Kunst“, als dass noch ein Skandal zu inszenieren war.

Zu dieser Zeit machte man, und diese Sprachregelung war durchaus neu, bereits einen Unterschied zwischen Hardcore-Szenen und Pornographie. Der Terminus des Pornographischen verschob sich noch einmal, diesmal vom Bild-Inhalt zur Bild-Intention. Das Pornographische einer Sequenz wurde nun ausschließlich aus dem Zusammenhang erklärt, und ein künstlerischer Film konnte unmöglich zugleich auch ein pornographischer Film sein. Nachdem also in den achtziger Jahren im Diskurs zwischen Mainstream und Hardcore die Hoffnung begraben werden mussten, der pornographische Film als Genre könne sich zu einer offenen Kunstform emanzipieren, folgte nun der umgekehrte Vorgang. Das Kunstwerk schluckte die Möglichkeiten der pornographischen Szenerien und verdammte zugleich den Rest der pornographischen Erzählweise als ästhetisch und moralisch minderwertig. Die Hardcore-, aber nicht pornographische Szene rechtfertigte sich in dieser Weise nicht nur kontextuell, sondern in gewisser Weise auch sozial. Es war die bürgerliche Geste des Cinematografischen, die die Hardcore-Szene in sich aufnahm, ohne zu fürchten, sich an ihr pornografisch zu infizieren: Ein sexueller Realismus, der – in der Tat im Gegensatz zur traditionellen Pornographie – von einer „erwachsenen“ Perspektive ausging, weder Akte der infantilen, perversen sexuellen Neugier noch eine Form der erotischen Phantasie, wie sie der Sexploitation Film suchte, sondern ein „Es-ist-wie-es-ist“. Aus dieser gewandelten Perspektive wurden auch die früheren Arbeiten von Larry Clark neu bewertet.

Die Veränderung der Haltung hat die Kritik aber auch dem Einfluss von Co-Regisseur Lachman zugeschrieben. Er habe, so heißt es beispielsweise in der Village Voice, die Zärtlichkeit in Larry Clarks toughen Blick gebracht.  Zunächst gibt es einen Fokus auf einen „Fall“, zum anderen ist der Tod von der Beiläufigkeit wieder in ein tragödisches Zentrum gerückt. Der Film beginnt mit dem Selbstmord von Ken Park. Er handelt davon, wie Tate seine Großeltern tötet, obwohl sie ihn nicht wirklich drangsalieren, wie Claude von seinem Vater, der mit seiner Männlichkeitsfixierung baden gehen muss, angegangen wird, er zeigt wie Peaches sich mit ihrem bigotten Vater zu arrangieren versucht, und wie schließlich doch die Fassade zusammenbricht, als sie beim Sex erwischt wird.

Anders als KIDS und BULLY sucht KEN PARK nach einer moralischen Perspektive und geht von der Pose des sexuellen Interesses zu einem wirklichen Mitleiden mit seinen Teenager-Underdogs. Der Junge, der jeden Morgen die Mutter seiner Freundin bedient, der Knabe auf dem Skateboard, der von seinem Vater missbraucht wird, die jugendliche Bondage Queen, die von ihrem Bibeltreuen Vater gepeinigt wird, der autistische Würger (der dem Film seinen money-shot beisteuert), alles das mag ein System der Abhängigkeit eher herstellen als eines der Lust, und doch erscheint hier Sexualität zum ersten mal auch als sanftes Heilmittel, bis hin zu der ikonischen Sequenz der ménage à trois, der nichts Denunziatorisches mehr zu eigen scheint. Noch einmal scheint hier die Zeit zu verschwinden, die Clark mit der Rückwendung des Blicks auf den Einfluss und den Eingriff der Erwachsenen wieder in seine Bildwelt eingeführt hat. Trotz seines offenkundigen Flirts mit dem Skandal der Hardcore-Szenen ist KEN PARK der Film von Larry Clark, der in all seiner Tristesse nach einer Erlösung sucht. Vielleicht kann man sie sogar Liebe nennen. (Und dann beginnt ohnehin alles wieder von vorn.)

KEN PARK ist insofern ein Gegenentwurf zu KIDS, der eine mehr oder weniger trostlose und triviale Realität abbildet, während KEN PARK ein beinahe transzendentales Bild erzeugt: So wird es nicht weitergehen, auch nicht wie in ANOTHER DAY IN PARADISE. In KEN PARK kommen nicht nur die Erwachsenen vor, die in KIDS ausgespart sind, in BULLY zu absurden Statisten degradiert waren und in ANOTHER DAY IN PARADISE zum blutigen Abbild der alten Rollen wie Vater und Mutter wurden. Die Übergriffe zwischen ihrer und der Welt der Kids werden zu einem bedeutenden Nebenthema. Der Tabuverstoß innerhalb der Familien und zwischen den Generationen scheint für viele der Personen sogar ein kleiner Ausweg; die kunstlose Gewalt, die in KIDS die sexuellen Beziehungen bestimmten, sind in diesem Crossing noch am ehesten „erfolgreich“.

Obwohl es in KEN PARK jenen cum shot gibt, der im pornographischen Film als rhetorischer Ausweis der „Echtheit“ eingesetzt wird, ist er weniger pornographisch als einige der europäischen „transgressiven“ Filme wie zum Beispiel BAISE-MOI oder NINE SONGS. Die sexuelle Offenheit ist eine zentrale Position in der „Authentisierung“ bei Clark, die auch wieder eine Form von Ausschluss darstellt, nicht nur, weil der Film nun wieder paradoxerweise in weiten Teilen für jene verboten ist, von denen er handelt.

„That’s the way kids are“ betonte Clark noch bei KIDS; und in KEN PARK müsste sich das weiten zu „That’s the way we are“. Der Selbstmord von Ken Park ist, wie man am Schluß erfährt, ein anderes Ende des „paradise“: Kens Freundin ist schwanger und weigert sich, eine Abtreibung vorzunehmen. Er kann das nicht akzeptieren. „Mit seiner Tat will er das Nichts wiederherstellen und vor laufender Kamera die eigene Geburt widerrufen“ (Manfred Hermes).

Die Isolation, die man noch in KIDS als eine der Generation (miss-) verstehen konnte, wird spätestens in KEN PARK auch als Isolation einer Klasse deutlich. Der Aspekt der Gefangenschaft weitet sich ins Endlose; die Kamera verlässt nun kaum noch die Innenräume dieser vergessenen Kleinstbürgerklasse, der öffentliche Raum, den die KIDS wenigstens noch als Störenfriede besetzen konnten kommt nicht mehr vor; der Aufbruch der Revolte, den es in ANOTHER DAY IN PARADISE wenigstens noch als Aussicht eines kriminellen Coups gab, ist nicht einmal mehr denkbar. Der Körper, deshalb ist bei Clark das Sexuelle immer noch so politisch, wird daher zum Mittel und zum Ziel zugleich; die Kontinuität ist endlich gebrochen: Immer wieder sehen wir in KEN PARK Familienfotos wie fossile Fundstücke die von einer verlorenen Beziehung zwischen dem Subjekt und seinen gesellschaftlichen Strukturen handelten. Auch dies ist ein Element jener Selbstüberschreitung, in der der Moment-Fotograf Clark die Zeit entdeckt und das Subjekt nicht mehr nur als flash des Selbstausdrucks, sondern auch als Ausdruck seiner Geschichte sieht. Als letzte Geste ist das Skaten geblieben, das schon in KIDS lebte, eine Bewegung, die elegant und sensibel sein mag, die aber nur eine Performance am Ort ist, im deutlichsten Fall eine Bewegung im Kreis. Nicht nur darin erkennt KEN PARK wieder an, was KIDS so vehement ausschloss: die Kraft des Symbols. Der Selbstmord des Protagonisten ist in der Tat keine letzte tragische Wendung, kein Fanal der Zukunft, sondern die größtmögliche symbolische Geste.

3

Der Impetus von Larry Clark ist der einer offenen Autobiographie. „Als 15-Jähriger war ich selbst in der Gosse. Ich war Junkie, ich hab‘ geklaut. Ich bin sehr vertraut mit dieser Welt und wollte endlich einen realistischen Film darüber machen.“  Die Glaubwürdigkeit dieser Geste entsteht also in der Gleichzeitigkeit von sozialer Reportage und künstlerischer Selbst-Gewinnung. Larry Clark sucht in seinen Teenage-Filmen nicht zuletzt auch immer sich selbst, und wenn man seine Entwicklung im Überblick sieht, kann man wohl annehmen, dass da jemand nach einem langen Weg und Umweg die dunkle Seite von sich selbst zu akzeptieren beginnt.

Dazu gibt es eine Methode des Bildermachers Clark. Er lässt die Figuren und ihre Darsteller förmlich miteinander verschmelzen, lässt seine Schauspieler aus ihren Rollen nicht mehr heraus, auch wenn die Kamera nicht eingeschaltet ist, und er setzt die Beteiligten unter Druck; verunsichert und peinigt sie gar. Vermutlich gibt es niemanden, mit dem Clark bei Dreharbeiten nicht Streit anfängt. Die einen verstehen es hinterher als, zugegeben, etwas heftige, inszenatorische Methode, die anderen tun’s nicht und lassen eine weitere Zusammenarbeit mit einem Kerl sein, bei dem „Arschloch“ noch eine der netteren Bezeichnungen für seine Mitmenschen ist. „Ich kreiere eine Atmosphäre, die alle Mitwirkenden ein bisschen verrückt macht. Und ich sitze mittendrin und lache mir eins, denn das ist das Beste, was mir für den Film passieren kann“.

Das zweite entscheidende Element der „Methode Clark“ ist ein fotografisches Vorgehen, das am Set eine authentische Atmosphäre, die er geschaffen hat, durch ein „gegenwärtiges Licht“ bestimmt. Er verbietet seinen Kameraleuten, etwa durch Spotlights seine Figuren zu modellieren, er widersetzt sich allem, was zum einen Glamour erzeugt, und was zum anderen eine besonders grafische Erzählung erzeugt. Die Gesichter seiner Protagonisten wirken auf diese Weise stets ein wenig willkürlich, zwischen teigig und über-hart, und es gibt keinen grafischen Kontrast zwischen den Bild-Ebenen. Man kann sagen: In Clarks Filmen wird das Subjekt in einer Beziehung mit seiner Umwelt gezeigt, ohne hervorgehoben zu werden. (Denn die klassische Hollywood-Ausleuchtung besagt ja nicht nur, dass eine besondere Weise der „Schönheit“ oder des Markanten erzeugt wird, sie definiert eine heroische Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft.) Larry Clark lässt seine Kids also buchstäblich aus ihrer Umwelt heraus entstehen, ohne dass sie diese durchdringen oder verändern. Sie verhalten sich ihrem Umfeld gegenüber „natürlich“ angepasst.

Die Kamera ist stets dort, wo ein Fotograf die seine platzieren würde; das Bild ist kontrolliert, während die Bewegung der Kamera auf keine Bewegungsharmonie hinaus will. Die Montagelosigkeit, von der sich Clark schon in TEENAGE CAVEMAN, spätestens aber in KEN PARK verabschiedet, macht aus seinen frühen Filmen eher bewegte Fotografien, und es entsteht eine Art der Zeitlosigkeit. Es ist nicht so sehr „Und-dann“, als vielmehr immer „Jetzt“. Clark bewegt die Kamera freilich auch in einem Pseudo-Dokumentarismus mit verwackelten Aufnahmen eines Mittendrin und mit einer definitiven Vorliebe für Nahaufnahmen. Es gibt keinen Fünfakte-Plot, sondern locker miteinander verbundenen Episoden in einer radikalen Einheit der Zeit: 24 Stunden beschreibt KIDS; ANOTHER DAY IN PARADISE signalisiert schon im Titel seine Zeit-Struktur.

Man kann von dieser Methode Clark halten, was man will. Sie widersteht dem Analytischen; sie zeigt Menschen und Verhältnisse in allem möglichen, nur nicht in dem, was man früher so gern die „Gewordenheit“ nannte. Aber es ist eine Methode. Die Abbildbarkeit der Kindheit und der Jugend wird durch eine solche Geste in den Kontext des Subjekts überführt. Übrigens entspricht dies durchaus auch dem musikalischen Vorgehen von Dinosaur jr., deren Bassist Lou Barlow den Soundtrack von KIDS produzierte: Das ursprüngliche Trio übersprang in der Mitte der achtziger Jahre nicht nur mühelos die damals so ernsthaft gezogenen Grenzen zwischen Mainstream- und Independent-Musik. Dinosaur jr. (die es nicht zum Ruhm von Nirvana brachten, die ohne sie undenkbar wären) setzten auch in der Zeit der großen Tribes, des Glam Rock und der Bühnen-Posen eine „Komm-wie-du-bist“-Performance. Die Codelosigkeit als Meta-Code. Oder anders gesagt: Das Subjekt verweigert sich der gesellschaftlichen Konstruktion von „Jugend“, und ihre Sprache wird individuell und körperlich.

„Immer schon wollte ich einen Teenage-Film drehen, den Amerika noch nicht gesehen hat. Den großen amerikanischen Teenage-Film, so wie es den großen amerikanischen Roman gibt“. Das freilich ist ein wenig allzu ehrgeizig, wie ja auch der große amerikanische Roman nie wirklich geschrieben wird; aber immerhin ist gelungen zu verhindern, dass die Kids wie in den Teenager-Filmen der Multiplexe „wirken wie kindische Erwachsene“ (Clark).

Gus van Sant, der ähnliche Motive aufgriff und mit Eric Edwards in MY OWN PRIVATE IDAHO auch den gleichen Kameramann wie KIDS hat, entwarf durch die ironische Distanz und durch ein Geheimnis, das er seinen Protagonisten lässt, gleichsam das Gegenbild der Jugend: Nicht ein Zustand, der sich unter dem Druck der Verhältnisse trivialisiert, sondern einer, der sich gar verflüchtigt: Smells like Teen Spirit. Wie bei David Lynch in BLUE VELVET oder TWIN PEAKS wird da Entfremdung selber zum Motor, das frühe Subjekt-Werden führt zu einer speziellen Form der Entwirklichung. In ELEPHANT sind die Kids allein gelassen wie bei Clark, aber nicht so sehr von einem sexuellen Interesse deformiert. Es gibt kein „schwarzes Herz“, in das der Film zu blicken hätte, es gibt keine Dekonstruktion der Intimität. Aber gerade dieses macht die Hässlichkeit des Schönen und die Schönheit des Hässlichen erst erfahrbar (kein Mensch hat je die Fotografien und Filme von Larry Clark ästhetisch oder erotisch angenehm empfunden), die Einzigartigkeit des Nicht-Besonderen, und die Nicht-Besonderheit des Einzigartigen. Es ist wahr: Larry Clarks Bild der Jugend konnte vom Mainstream nie wirklich geschluckt werden.

Georg Seesslen

Text geschrieben: 1996