Vom Niedergang einer Familie und dem Aufstieg eines Erzählers

„Wie soll man leben“. Das ist die zentrale Frage im Debütroman des Literatur-Nobelpreisträgers Orhan Pamuk. Hier treffen sich Orient und hanseatischer Familienroman.

„Alles zerfällt“. Spätestens bei diesem Stoßseufzer auf Seite 545 dürfte auch dem letzten Leser die Ähnlichkeit auffallen. Der Kaufmann Osman denkt über sein Leben nach. Alt ist er geworden, sein Vater Cevdet lange tot. Dessen Eisenwarenhandel floriert zwar. Doch seine geliebte Familie ist keine mehr: Osman hält sich eine Geliebte. Sein Bruder Refik hat sich von seiner Frau getrennt und die Firma verlassen.

Aufstieg und Zerfall einer bürgerlichen Familie stehen im Mittelpunkt von Orhan Pamuks Erstling, der nun, 29 Jahre nach seinem Erscheinen in der Türkei im Jahr 1982, in der gewohnt makellosen Übersetzung von Gerhard Meier erscheint. Darin entfaltet der damals 30-jährige Pamuk ein beeindruckendes Geschichtspanorama: von den letzten Zuckungen des Osmanischen Reiches im Jahr des Sultan-Attentats 1905 über die Gründung der Republik bis zum zweiten Militärputsch 1970. Zu Beginn des Romans schaukelt der kleine Kaufmann Cevdet, als Muslim, Angehöriger einer Minderheit unter den Griechen, Armeniern und Juden, die das Metier dominieren, noch mit einer Leihkutsche in die Residenz von Sükrü Pasa nach Tesvikiye, um ihn um die Hand seiner Tochter Nigan zu bitten. Zum Schluss wohnt seine Großfamilie in einem Apartmenthaus im verkehrsdurchtosten Neureichenviertel Nisantasi. Und trägt inzwischen sogar einen Nachnamen – Isikci – Beleuchter.

Pamuk knüpft mit seiner Familiensaga an den Mythos der großen Familiendynastien in der türkischen Wirtschaft an, deren Aufstieg zur selben Zeit begann wie sein Roman. Doch wie in Thomas Manns Buddenbrooks, einem der Vorbilder für „Cevdet und seine Söhne“, verwandelt sich in seinem Debüt die Ökonomie in Kultur. Hatte Cevdet es noch mit Fleiß, Zähigkeit und jenem „unsichtbaren Panzer“, mit dem er seine sensible Psyche schützt, zum erfolgreichen Unternehmer gebracht, stehen am Ende der Drei-Generationen-Dynastie Möchtegern-Intellektuelle voller Selbstzweifel wie der Maler Ahmet, Refiks Sohn. Und schon der hatte seinem Heimatland statt Schrauben und Glühbirnen lieber das Licht der Aufklärung bringen wollen. Doch der Verlag, den Refik von seinem Erbteil gründet, scheitert. Und er stirbt an Krebs.

Der fehlende Lebens- und Kunstwillen, der Hanno Buddenbrooks Siechtum beschleunigt, ist nicht Ahmets Problem. Darüber streitet er zwar nächtelang mit seiner Freundin Ilknur in der Mansarde des Familienhauses. Doch der Prekarier avant la lettre dürfte den Weg des Durchschnittskünstlers gehen, wenn er nicht sowieso nach den Protesten gegen den bevorstehenden Staatsstreich im Gefängnis landet.

Liebhaber von Orhan Pamuks Romanen „Das Schwarze Buch“ (1990), „Das Neue Leben“ (1994) oder „Rot ist mein Name“ (1998) werden bei „Cevdet und seine Söhne“ nicht auf ihre Kosten kommen. Zu Beginn seiner „Karriere“ sucht Pamuk sein Heil in der europäischen Leitkultur. Das denkwürdige Kunststück, die Geschichte einer orientalischen Familie in einem Familienroman zu erzählen, gelingt perfekt. Doch statt verwirrender Identitätslabyrinthe, mystisch-romantisch kodierter Sinnsuchen durch Zeit und Raum, dem charakteristischen Netz aus intertextuellen Bezügen von Rumi bis Eco und tausendundeins Perspektivwechseln durchzieht den Roman leitmotivisch die Frage, die den Aussteiger Refik zermürbt: „Wie soll man leben?“. Sie hat auch seine Freunde befallen: den jungen Ömer, der sich nach der Rückkehr aus Frankreich zum „Eroberer“ berufen fühlt, am Ende als trunksüchtiger Bauer in der Provinz endet und den Dichter Muhittin, der den ausbleibenden Erfolg mit nationalistischer Kampfprosa kompensiert.

Eisern lässt Pamuk das Geschehen aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers Revue passieren, der jederzeit Zugang zu den quälenden Selbstreflektionen der Beteiligten hat, dem aber die gelassene Ironie seines Vorbilds fehlt. Allerdings eine Selbstsicherheit und einen Formwillen spürbar werden lässt, die in umgekehrtem Verhältnis zu dem nachlassenden Selbstbehauptungswillen der Protagonisten stehen, die er durch das 20. Jahrhundert führt. So markiert, wie bei dem Nobelpreis-Kollegen Thomas Mann, der Niedergang einer Familie den Aufstieg des Erzählers Orhan Pamuk.

Text: Ingo Arend

Orhan Pamuk: Cevdet und seine Söhne

Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier.

Hanser, München 2010, 672 S., 24, 90 EUR

bei amazon kaufen