Der Glamour würdiger Verlierer. Was sind 3000 Euro wert? Thomas Melle prüft es an Anton und Denise. 

3000 Euro. Wahnsinnig viel Geld ist das eigentlich nicht. Die Summe liegt unter dem Bruttomonatslohn eines Durchschnittsverdieners. Anton aber fehlt sie. Irgendwie ist der ehemalige Jura-Student auf die schiefe Bahn gekommen. Und vegetiert in einer namenlosen Stadt als das vor sich hin, was man gern spöttisch-distanziert “urbaner Penner” nennt. Bis er auf Denise trifft. Die junge Kassiererin in einem Supermarkt hat das Geld. Anton weiß das freilich nicht.

Was die Eine zu viel hat, hat der Andere zu wenig. Über diesen stereotypen Leisten lässt sich Thomas Melles neuer Roman nicht nageln. Reich im landläufigen Sinn ist Denise nämlich nicht. Die titelgebende Summe hat sie sich bei einem Porno-Dreh verdient. Anders glaubte die alleinerziehende Mutter einer behinderten Tochter nicht mehr über die Runden zu kommen. Immerhin markiert die Summe die bipolare Personage gut, die auch den zweiten Roman des 1975 geborenen Berliner Autors und Übersetzers kennzeichnet. Schon in seinem Debüt “Sickster” (2011) standen sich paradigmatische Existenzen gegenüber: der idealistische, aber verkrachte Journalist und der Macho-Erfolgsmann, der seine Lebenszweifel mit einem exzessiven Nightlife kompensiert.

So spiegelbildlich bedingen sich die zwei Protagonisten von Melles neuem Werk nun nicht. Eher markieren Anton und Denise zwei Varianten einer sozialen und emotionalen Verwahrlosung. Während Anton vor dem Gefühl resigniert, dass es “keine Ereignisse” sondern “nur noch Folgen in meinem Leben” gibt, steigert sich Denise in eine panische Angst vor den “Pornoaugen”: Kunden, die sie im Internet gesehen haben könnten. Ob psychologische Soft- oder soziale Hardware: Melles Roman unterscheidet sich vom Mainstream der jüngeren deutschen Gegenwartsliteratur, weil er so unaufdringlich wie nachhaltig einen Zustand aufgreift, der um so konsequenter ästhetisch ausgeblendet wird, je mehr er um sich greift: Die prekäre Existenz, das Leben auf der Kippe, Menschen am Rand. Das soziologische Neutrum “Armutsrisiko” verwandelt sich bei Melle in Existenzen aus Fleisch und Blut.

Der Autor zügelt diesmal seinen Hang zum semantischen Experiment und waghalsigen Metaphern. Virtuos spielt er stattdessen eine Zusatzqualifikation aus: Dialoge. Melle führt seine Geschichte hart an die Grenze zum Sozialkitsch: Denise und Anton lernen sich beim Einlösen eines zerknitterten Pfandbons an der Kasse kennen. Nach Antons gescheitertem Schulden-Prozeß lässt er die beiden “mit dem Glamour der würdigen Verlierer von dannen” ziehen. Doch der Moment in der labilen Romanze, in dem Denise einen insgeheim gefassten Vorsatz bricht, wendet den Roman jäh von der literarischen Standard- zur Highclass-Ware mit Desillusionierungseffekt. Von einer Sekunde auf die andere schließt sich zwischen zwei Außenseitern ein Emotionsfenster, das sich gerade erst zu öffnen begonnen hatte. Spätestens da ist dieses “3000 Euro”-Opus seine lumpigen 19 Mäuse wert.

Ingo Arend

Dieser Text ist zuerst gekürzt erschienen in: Literaturen/Cicero No 113, Herbst 2014

 

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Thomas Melle: 3000 Euro

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