Wallace Stevens (1879 – 1955), American Modernist poet

Wallace Stevens (1879 – 1955)
American Modernist poet

Die Schöpferkraft der Worte

Mit dem Lyriker Wallace Stevens lässt sich das Sehen der Welt neu erschließen. Ein Auswahlband versucht, den US-Klassiker endlich auch hierzulande durchzusetzen

Auf dem Weg zur Arbeit, den er zu Fuß zurückzulegen pflegte, konnten aufmerksame Beobachter den Dichter Wallace Stevens gelegentlich beim Dichten beobachten. Dann sah man ihn, der als stattlicher Herr mit Embonpoint beschrieben wird, ein paar Schritte rückwärts gehen, als müsse er einen verlorenen Faden wiederfinden, mal nach rechts, mal nach links ausscheren, um dann wieder in großen Schritt vorwärts zu stürmen. So fügte er im Gehen die Worte und die Verszeilen zusammen, bewegte sich in ihrem Rhythmus oder ließ sie aus der eigenen Geschwindigkeit und den Richtungswechseln entstehen. So beschrieb er selbst seine dichterische „Vorgehensweise“ als einen erschreitenden, ermessenden Wortfindungsprozess: Gehen als Form der Konzentration; Gehen als eine Art des Sehens und als fortgesetzter Umwandlungsprozess von Ding und Welt in Wort und Sprache.

Zwei Meilen lagen zwischen seinem Wohnhaus in Hartford, Connecticut, und der Versicherungsgesellschaft, bei der er seit 1916 als Jurist arbeitete und der er von 1934 bis zu seinem Tod im Jahr 1955 als Vizepräsident diente. Die meisten seiner Arbeitskollegen wussten nicht, dass sie es mit einem Dichter zu tun hatten. Er sprach nicht darüber und blieb lieber in Deckung. Sein Erfolg hielt sich bis kurz vor seinem Tod – als er für die „Collected Poems“ 1955 den Pulitzer-Preis erhielt – in überschaubaren Grenzen. Sein Debüt, der großartige, avancierte Gedichtband „Harmonium„, verkaufte sich im Erscheinungsjahr 1923 nur hundertmal. Da war ihm T. S. Eliot mit „The Waste Land“ zuvorgekommen und hatte die formalen Innovationsbedürfnisse des Publikums gesättigt.

Auch in Deutschland ist er bis heute nahezu unbekannt. Dabei gehört der 1879 geborene Wallace Stevens neben den etwas jüngeren und viel berühmteren Generationsgenossen Eliot, Ezra Pound und William Carlos Williams zu den bedeutendsten amerikanischen Lyrikern des 20. Jahrhunderts. Immer wieder gab es hierzulande Auswahlbände, aber noch keine Gesamtausgabe. Sein Leben war arm an äußeren Ereignissen, und er konnte es sich leisten, nur dann zu veröffentlichen, wenn er dazu gedrängt wurde. Finanziell war er nicht darauf angewiesen. Das Schreiben aber war eine Notwendigkeit. Das Leben musste in Sprache überführt werden, denn nur so, als Dichtung, war es wahr und wirklich und intensiv.

Wenn er in seinem Büro ankam, ordnete er die Notizen, die er sich unterwegs gemacht hatte. Manchmal ließ er sich etwas abtippen und warf, was er nicht brauchen konnte, in den Papierkorb, um nicht länger davon behelligt zu werden. Das war ein Ordnen, Sortieren, Weglassen und Zusammenstellen der Dinge, die ihm begegneten und die ihn inspirierten. Abends, zu Hause, besorgte er den Rest. Dieser Entstehungsprozess schreibt sich in die Gedichte ein. Sie haben immer etwas Zusammengestelltes. Die einzelnen Dinge sind aus vielen verschiedenen Wahrnehmungen gefügt, Einzelbilder aus wechselnden Perspektiven, die sich in einen Zusammenhang fügen. So zum Beispiel in den wunderbar leichthändigen „Dreizehn Anschauungen einer Amsel“. Da könnte wiederum eine einzelne Strophe fürs Ganze stehen: „Ich weiß nicht, was vorzuziehen ist: / Die Schönheit von Modulationen / Oder die Schönheit von Anspielungen, / Die Amsel beim Flöten / Oder gleich danach.“

„Teile einer Welt“ heißt die jetzt in Übersetzungen von Rainer G. Schmidt erschienene Auswahl, die damit einen Stevens-Titel aus dem Jahr 1942 programmatisch zum Werk-Titel erhebt. Wie die Teile sich zum Ganzen fügen, ist eines der großen Themen all dieser Gedichte. „Es gibt viele Wahrheiten, / Aber sie sind nicht Teile einer Wahrheit“, heißt es in dem Gedicht „Auf der Straße nach Hause“. Und weiter, durchaus skeptisch: „Worte sind nicht Formen eines einzigen Wortes. / In der Summe der Teile gibt es nur die Teile. / Die Welt muss mit dem Auge ausgemessen werden.“

Gedichte wie Malerei

Stevens setzt auf die Schöpferkraft der Worte. Er benennt die Dinge, und schon sind sie in der Welt. Das klingt ganz leicht, und doch liegt darin die größte Kunst. Denn es setzt eine Form der Wahrnehmung voraus, die von allen Bewusstseinsinhalten und guten Absichten gereinigt ist. Das Sehen, das Hören als Ausgangspunkt: kein Wunder, dass Stevens-Gedichte so oft wie Malerei erscheinen, Bilder, die sich zwischen impressionistischem Flirren, kubistischer Zerlegung und symbolistischer Bedeutungssuche bewegen – nur dass Symbole bei ihm nicht auf etwas Höheres, sondern vielmehr zurück auf die Dinge selbst verweisen: „Eine Übung die Welt zu betrachten. / Blick auf das Motiv! Aber man schaut aufs Meer, / Während man auf dem Klavier improvisiert.“

Die aus sechs Absätzen bestehende „Studie einer Birne“ ist ein in Worte transformiertes Stillleben, eine Übung im Sehen, die die Oberfläche und Form der Früchte abtastet, um am Ende resigniert zu bemerken: „Die Birnen sind nicht so gesehen / Wie der Betrachter es will.“

Stevens‘ Gedichte sind ungemein sinnlich und direkt körperlich: Es gibt keinen anderen Ansatzpunkt als die leibliche Verankerung der Sprache. Zugleich sind sie aber immer auch Gedankenkonstrukte und schon so etwas wie eine Theorie der Wahrnehmung. Da spricht nicht mehr das schlichte dichterische Subjekt als ein Einzelner, Wahrnehmender, der der Welt gegenüberstünde. Das Sehen und Gesehenwerden sind selbst der eigentliche Gegenstand im Zentrum der Poesie. So kommt Stevens in „Sommertag“ zu dem alle Grenzen überschreitenden Resümee: „Natur ändern, nicht bloß Ideen ändern, / Dem Körper entkommen, um solche Gefühle / Zu verspüren, die der Körper übersieht, / Die Gefühle der Naturen rings um uns hier: / Wie ein Boot fühlt, wenn es blaues Wasser zerteilt.“ Dieses Über-sich-Hinausgehen ist eben nur in der Sprache möglich, in einem dichterischen Sprechakt, der nicht mehr willentlich gesteuert ist und Bedeutungen in schöne Worte verpackt, sondern der von den Dingen selbst herkommt. „Ein Gedicht ist ein natürlicher Gegenstand„, sagt Stevens. Und: „Als Text sollten wir geboren sein.“

Nicht zu Unrecht ist er philosophisch immer wieder in die Nähe der deutschen Phänomenologie gerückt worden, ein dichterischer Zeitgenosse von Husserl und Heidegger, dem das gegeben war, wovon Heidegger nur träumen konnte: die Sprache selbst fließen und sprechen zu lassen. Zu denken, ohne zu denken, hellwach, am Rande des Schlafs (oder, um es mit Stanley Kubrick zu sagen: eyes wide shut). Das ist ein meditativer Vorgang, ein Zur-Ruhe-Kommen und Zum-Schweigen-Finden. Das entlädt sich gelegentlich in einem geradezu rauschhaften, hymnischem Tonfall, um das Sein zu feiern und die Schönheit zu preisen.

Doch Pathos ist Stevens fremd. Auch seine Hymnen bleiben sachlich und kontrolliert und immer in strenger Form. Eine Vorliebe für romantische Metaphern – Sonne, Mond, Wolken und Wind, Vögel, Felsen, Nacht und Dämmerlicht – ist unverkennbar, und doch sind diese Motive transformiert in eine strenge Ordnung und, wie Gedichte von Gottfried Benn, mit fast schon theoretischem Sprachmaterial ernüchtert. Stevens nannte das „Ideen der Ordnung“. „Anatomie der Monotonie“ heißt ein Gedicht, „Metapher als Niedergang„ ein anderes, und wenn der Mond scheint, dann in einer kühlen „Notiz zum Mondlicht“, deren erste Strophe so klingt: „Das einzige Mondlicht in der einfach gefärbten Nacht / Scheint, wie ein schlichter Dichter, der über / Die Gleichheit seines mannigfachen Alls nachdenkt, / Auf die bloße Dinghaftigkeit von Dingen.“

Es ist schwer bis unmöglich, Stevens angemessen ins Deutsche zu übersetzen, weil seine Lyrik voller Anspielungen und die Worte, wie er sie einsetzt, reich an sich überlagernden Bedeutungen sind – ganz abgesehen davon, dass seine Melodik und Rhythmik sich nicht erreichen lassen. Rainer G. Schmidt hat da Großes geleistet. Er bleibt nah am Original, gelegentlich fast wie eine Interlinearübersetzung, doch mit aller Freiheit, die nötig ist, um genau zu bleiben. Nicht immer sind all seine Entscheidungen nachvollziehbar, von Begrifflichkeiten ohne Not abzuweichen oder eher unwichtige Reime nachzubilden (die bei Stevens selten genug vorkommen). Aber das sind (unlösbare) Probleme jeglicher Lyrikübertragung, die immer unbefriedigend ist und immer nur eine Notlösung sein kann. Umso höher ist da der Mut zu veranschlagen, es dennoch und aller Aussichtslosigkeit zum Trotz zu tun. Zweisprachige Ausgaben – so wie diese – sollten deshalb die Regel sein. Schade aber, dass dieser Band voller Druckfehler ist; bei Gedichten ist das besonders ärgerlich.

Mann mit blauer Gitarre

„Teile einer Welt“ ist die umfangreichste Stevens-Sammlung in deutscher Sprache, eine Auswahl, die quer durch alle Schaffensepochen von „Harmonium“ bis zu nachgelassenen Gedichten reicht. Sie orientiert sich auch an dem, was bereits vorlag, indem sie Lücken füllt. Zu nennen wäre da vor allem der von Joachim Sartorius herausgegebene Band „Hellwach, am Rande des Schlafs“ (wo neben Sartorius auch Übersetzungen von Karin Graf, Durs Grünbein, Hans Magnus Enzensberger und anderen zu finden sind). Auch das 1995 erschienene Langgedicht „Der Mann mit der blauen Gitarre“, vielleicht Stevens berühmtestes Werk, kann in der neuen Sammlung deshalb fehlen.

Noch keine der bisherigen Ausgaben hat es vermocht, ihn hierzulande durchzusetzen. Das wird wohl auch mit „Teile der Welt“ nicht gelingen. Das ist bedauerlich, denn Wallace Stevens ist ein Dichter, mit dem man sich die Welt, oder jedenfalls das Sehen der Welt, ganz neu erschließen kann. Er brauchte dafür nur den Weg ins Büro und wieder nach Hause.

Jörg Magenau, taz 14-07-2014

 

 

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Wallace Stevens: Teile einer Welt. Ausgewählte Gedichte

Aus dem amerikanischen Englisch von Rainer G. Schmidt

Jung und Jung, Salzburg und Wien 2014

632 Seiten, 45 Euro

 

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