Goethe im Tausch gegen Eier

Der Soziologe Oskar Negt geht auf autobiographische Spurensuche und schildert seine Erlebnisse als ein ostpreußisches Flüchtlingskind, das Überlebensstrategien entwickelte und ein Leben lang Glücksmomente erlebte.

Filme lassen zuweilen innere Wunden aufbrechen. Erst recht, wenn es sich um historische Filme handelt, deren Stoff tief in die biographischen Erlebnisse seiner Zuschauer ragt. Im Jahr 2007, nach Ausstrahlung des Fernseh-Zweiteilers „Die Flucht“ über den Exodus der Deutschen aus Ostpreußen zu Ende des Krieges, landeten auf meinem Dramaturgen-Schreibtisch im WDR eine Reihe von Briefen, in denen – wortreich und oft schon mit zittriger Hand geschrieben – autobiographische Erlebnisse aus dem Winter 1944 / 45 geschildert wurden. Regelmäßig stand am Ende die Frage, wenn nicht gar Forderung, jetzt auch diesen Stoff zu verfilmen. Was an diesen Briefen erschütterte, waren weniger die tragischen Erlebnisse als die Tatsache, dass keiner der Briefschreiber je sein Kindheitstrauma hat überwinden können. Das Unglück blieb so groß, dass es ihr weiteres Leben verschattet hat. Über die Rolle eines sich selbst bemitleidenden, mitleidheischenden Opfers sind diese Briefschreiber nicht hinausgekommen.

Auch der nun 82-jährige Soziologe Oskar Negt war Flüchtling. Er ist auf einem Bauernhof in Ostpreußen aufgewachsen und hat als kleiner Junge am eigenen Leib die Flucht ins „Totenhaus“ Königsberg und weiter über die verminte Ostsee nach Dänemark mitgemacht. Dazu kommt noch eine lange Zeit der Internierung nach Kriegsende in einem dänischen Lager. Doch aus seinen Lebenserinnerungen spricht keine Opfer-Sprache. Negt hat Unglück als handfeste Gegenstandserfahrung erlebt. Aber diese Tragik hat ihn nicht lebenslang aus der Bahn geworfen. Was schwerer wog und was für seine Biographie mehr zählte, war ein stabiles Elternhaus und frühkindliche Geborgenheit. Dazu ältere Schwestern, die ihm auf der Flucht Vater und Mutter ersetzten, ihn niemals im Stich gelassen haben und mit denen er selbst im hohen Alter noch ein inniges Verhältnis pflegt. Hier hat einer nicht nur überlebt, er hat aus eigener Kraft auch kleine und große Überlebensstrategien entwickelt, die ihn zufrieden auf ein gelebtes Leben zurückblicken lassen. Der Titel „Überlebensglück“ erscheint da nur angemessen.

Als Geisteswissenschaftler von Rang und Geltung widersteht Negt souverän der Versuchung, eine Autobiographie in chronologischer Ordnung von Alpha bis Omega zu erzählen. Mit der Ankunft bei Adorno und Horkheimer in Frankfurt sowie einer ersten Lektüre einer Sammlung der Frühschriften von Karl Marx bricht die „autobiographische Spurensuche“ ab: „Diese Texte wirkten wie eine Erleuchtung; sie öffneten mir Theoriewege.“ Was danach von Oskar Negt kam, seine Bücher, seine öffentlichen Auftritte, seine Rolle in der Studentenbewegung, seine Zusammenarbeit mit Alexander Kluge, all das ist hinlänglich bekannt und dokumentiert. Diese Lebenskapitel – und damit auch die Gefahr, eitel zu wirken – erspart sich der Autor.

Mit dem Medizinsoziologen Aaron Antonovsky hat Oskar Negt einen Gewährsmann an der Hand, der ihm das theoretische Rüstzeug für die Erklärung seines Werdegangs liefert. Wo verlässliche Eltern-Kind-Beziehungen, Vertrauen zwischen den Generationen und Gruppen herrschen, da müssen selbst schreckliche Erlebnisse die Seele nicht unrettbar ramponieren. Der 1994 verstorbene Antonovsky konnte in seiner „Salutogenese“ an alte Untersuchungen von Anna Freud bei Kriegskindern anknüpfen. Er beschäftigte sich mit den Überlebenden aus Konzentrationslagern, die trotz der erlittenen Torturen in einer überraschend guten mentalen Verfassung waren. Antonowsky drehte die klassische medizinische Fragestellung um. Er wollte nicht die Genese der Krankheit erforschen, sondern die der Gesundheit. Sein frappierender Befund: Die Chancen auf ein mental gesundes Weiterleben steigen, wenn Menschen selbst in widersinnigen Momenten noch Sinnhaftigkeit erkennen können.

Negt lässt uns sinnlich-anschaulich teilhaben an den Stationen seiner Kindheit. An dem Leben als sechstes und jüngstes Kind auf einem Bauernhof in Kapkeim, aber er bleibt dabei nicht auf der anekdotischen Erinnerungsebene. Er legt seine Quellen offen, wenn er lange Interviewpassagen aus Gesprächen mit seinen Schwestern einblendet, er stellt die Geschichte Ostpreußens in jedem Moment in größere historische Zusammenhänge, er hat sich mehrmals auf Spurensuche nach Ostpreußen begeben, ohne sich dabei von nostalgischen Heimatgefühlen überwältigen zu lassen. Adorno hat in seinen Augen nicht recht, wenn er Glück und frühe Kindheit untrennbar miteinander verkettet. Für Negt gilt: „Glückserfahrungen verteilen sich über das ganze Leben.“

Dazu gehört auch die Geschichte, wie er an Goethe und die Lektüre einer vierzigbändigen Werkausgabe gekommen ist. Durch Tauschgeschäfte. In der Nachkriegszeit, als seine Eltern in der DDR einen neuen Hof bekommen hatten, verfügte der Bauernsohn Negt über eine begehrte Währung. Naturalien, in diesem Fall Hühnereier, die als Leihgebühr für die entliehenen Goethe-Bände eingesetzt werden konnten. Die Eltern eines Klassenkameraden besaßen als Lehrer zwar eine umfangreiche Klassiker-Bibliothek, hatten aber viel zu wenig zu essen. So wurde der Weimarer Dichterfürst neben dem Königsberger Philosophen Immanuel Kant zum frühen Säulenheiligen des jungen Oskar Negt. Längst bevor Marx und die Frankfurter Schule in sein Leben traten.

In seiner Mischung aus persönlicher Erinnerung und Reflexion ähnelt Negts Buch an Didier Eribons „Reise nach Reims“. Dabei hat Negt, anders als sein französischer Kollege, keinen Anlass, mit einer Familie zu hadern, die eine politische Wanderung von links nach rechts hinter sich hat. Aber auch so schaut Negt sorgenvoll in die Zukunft. Das Flüchtlingskind Negt ergreift engagiert und radikal Partei für die Fremden, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind. Er zieht enge Parallelen zwischen Gestern und Heute und kommt zu einem pessimistischen Ergebnis: „Mittlerweile zeichnet sich in Deutschland eine alptraumhafte Entwicklungslinie ab, die durch eine bedrohlich herabgesetzte Hemmungsschwelle für das Töten gekennzeichnet ist.“ Wer so stark das Heraufziehen einer neuen Barbarei befürchtet und überall enthemmten Fremdenhass wittert, ignoriert leicht die Unterschiede zwischen 1945 und 2015. Die Flüchtlinge aus Ostpreußen oder anderswo wurden in den Westzonen zwar mit scheelen Augen hochmütig angesehen, aber sie waren Landsleute mit der gleichen Sprache, der gleichen christlichen Religion und der gleichen Geschichte. Letztlich doch Schicksalsgenossen und nicht Fremde mit anderer Sprache, anderer Religion und anderer Kultur.

Negt will bei der Frage von Migration aktuell sein. Aber sein Appell: „So müssen Auswege geschaffen werden – massenhafte Auswege für die, die von Krieg und Elend bedroht sind und sich nicht mehr selbst zu helfen wissen“, bleibt abstrakt. Ein schwacher Ausklang eines starken Buches.

Michael André

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Cover Steidl

Oskar Negt: Überlebensglück.

Eine autobiographische Spurensuche

Steidl-Verlag, Göttingen 2016

320 Seiten

24 Euro