Die Guillotine und die Erhabenheit der Revolution

Jetzt“ – der Titel ist Programm: Karl-Heinz Bohrer legt den zweiten Teil seiner Lebenserinnerungen vor

Wenn ein großer deutscher Philosoph privat zu seinem 60. Geburtstag einlädt und in einem „bayerischen Wirtshaus alter Sorte“ ein illustrer Kreis von Freunden und Kollegen zusammensitzt, dann werden auch unter Intellektuellen nicht nur Nettigkeiten ausgetauscht. Dem Literaturkritiker Karl-Heinz Bohrer ist Jahrzehnte später noch die Empörung über die Attacke eines Bielefelder Soziologen anzumerken. Der wagte es, an einem Sommerabend 1989 als Gast von Jürgen Habermas, Bohrer frontal in seinem ästhetischen Selbstverständnis anzugehen. Claus Offe – um den handelt es sich hier – stellte seinem Gegenüber eine vermeintlich simple Frage: „Ist mein Eindruck richtig, dass Sie nur die Revolution interessiert, nicht aber das, worum es geht?“ Damit resümierte der Professor zugespitzt nur das, was Gastgeber Habermas eben noch in seiner Kurzvorstellung rühmend über Bohrer gesagt hatte. Trotzdem traf er bei seinem Kontrahenten einen empfindlichen Punkt. Bohrer Replik fiel damals patzig und kurz aus.

Im jüngst veröffentlichten zweiten Teil seiner Lebenserinnerungen mit dem programmatischen Titel „Jetzt“ holt der langjährige Herausgeber des „Merkur“ das damals Versäumte nach. Lang und ausführlich. Als Beispiel wählt er die Guillotine, die Hinrichtungsmaschine der Großen Französischen Revolution. Für Bohrer hat das monströse Fallbeil des jakobinischen Terrors etwas Erhabenes an sich. Sie ist ein Ausdruck des Schreckens, der bei ihm keinesfalls negativ konnotiert ist. Es ist eine Metapher für den „Schnitt zwischen Leben und Tod“. Ein Symbol, also etwas wie Bohrer triumphierend hinzusetzt, mit dem die Soziologie nichts anzufangen weiß. Ein letzter Dolchstoß, mit dem der alte Bielefelder Feind post festum erledigt wird. Zugleich zielt diese emphatische Interpretation der Guillotine aber auf jenen Teil der Geisteswissenschaften, die das Besondere von Kunst und Literatur, von Sprache und Alltag verkennt, weil sie es in Begriffe und Geschichte auflöst. Oder schlimmer noch „pädagogisiert“ – wie Bohrer es als Literaturwissenschaftler zu seinem Groll im eigenen Fach erlebt hat.

Karl-Heinz Bohrers lange Karriere ist von Missverständnissen nicht frei. Der promovierte Germanist, Jahrgang 1932, der in den 1960er Jahren von Springers „Welt“ ins Feuilleton der FAZ kam, galt in der eigenen Redaktion als Linker, wenn nicht gar als Linksradikaler. Dazu reichte schon, in der Frankfurter Redaktionskonferenz die Stimme zu erheben, und die Berichterstattung des eigenen Blatts über die Berliner Studentenunruhen als nur „moralisch“ zu kritisieren. Die älteren Herren des Herausgeberkreises reagierten auf diese vorlaute Kritik eines Neulings nicht etwa indigniert, sondern erfreut und machten Bohrer zu einer Art Sonderkorrespondenten für die Jugendrevolte. Dieser Teil der Erinnerung ist sehr farbig geschrieben, zugleich erscheint er etwas schönfärberisch. Das Feuilleton der FAZ erscheint wie ein geheimer Verbündeter der studentischen Rebellen, lauter verkappte oder erklärte Linksliberale sollen hier gearbeitet haben. Die Rolle der damals heftig intellektuell wie publizistisch konkurrierenden Frankfurter Rundschau wird auf ein Minimum eingedampft. Dieses „Zentralorgan der linken Bewegung“ hatte Bohrers erste große Buchveröffentlichung „Die gefährdete Phantasie“ in einem großen Rundumschlag versucht zu erledigen. Allein deswegen ist das „Regionalblatt“ nicht satisfaktionsfähig. Bohrers frühe Freundschaft mit Habermas, der im Buch meist ironisch-respektvoll nur „der Philosoph“ genannt wird, seine Kontakte mit der späteren Terroristin Ulrike Meinhof, die Freundschaft mit Suhrkamp-Verleger Unseld brachten ihm in der Szene den Ruf ein, zumindest ein Sympathisant der Bewegung, wenn nicht gar selbst ein Linker zu sein.

Ein Missverständnis, das ein letztes Mal befeuert wurde, als der neue FAZ-Herausgeber Joachim C. Fest 1974 die Ablösung Bohrers als Leiter des „Literaturblatts“ betrieb. Es kam zu Protesten innerhalb wie außerhalb der Redaktion, so als würde ein politischer Richtungswechsel bevorstehen. Dabei war die Option für Reich-Ranicki eine publizistische Entscheidung. Die FAZ wollte und konnte es sich nicht mehr leisten, dass Literatur im eigenen Blatt „mit dem Rücken zum Publikum redigiert wurde“, wie später Reich-Ranicki spöttisch über seinen Vorgänger urteilte. Bohrers literarische Götter Robert Musil und Walter Benjamin mussten abdanken, stattdessen kamen Thomas Mann und die deutsche Klassik des 18. und 19. Jahrhunderts wieder zum Zug. Es spricht für die souveräne Haltung Karl-Heinz Bohrers, dass er die Operetten-Dramatik jener Tage zwar lebhaft wachruft, sich aber in keinem Moment nachträglich als Opfer stilisiert. Er fand sich damals übrigens schnell mit seinem Schicksal ab und begann stattdessen ein neues Leben als Kulturkorrespondent in London, wieder für die FAZ.

Dieser Wechsel in die Fremde fiel ihm umso leichter, da auf dem Kontinent die 68er Revolution ausgeblieben war, in Deutschland, aber auch in Frankreich. Der große Umbruch hatte nicht stattgefunden, die Studenten hatten die Straßen geräumt, die gegen de Gaulle in Algerien meuternden Fallschirmjäger waren nicht bis Montpellier gekommen. Dass Bohrer diesen beiden politisch so konträren Nicht-Ereignissen nachtrauert, ist bezeichnend für seine Vorstellung von Revolution. Ungefähr in der Mitte seines Buchs findet sich folgende erhellende Definition: „Die Revolution war das Ereignis der Moderne schlechthin. Sie war die plötzliche Unterbrechung des Absehbaren, sie müsste ein Potenzial innerhalb der Gegenwart bleiben. Deswegen ist sie etwas Unverzichtbares.“

Doch Bohrers Wahl des Zeit-Modus ist entlarvend. Er spricht in Vergangenheitsform. Die große Revolution, welcher Art auch immer, das war einmal. Dabei ist sie doch so überlebenswichtig. Fast beschwörend wählt der Autor hier das Konditional. Aus diesen Zeilen spricht eine Bitterkeit, der von Karl-Heinz Bohrers weitere Erzählung seiner Lebensstationen erfüllt wird. Er kommt zu der Erkenntnis, dass das Leben „unerheblich“ ist und keinen Stoff für eine Theorie der Phantasie mehr bereithält. Was bleibt, ist der Rückzug in eigene Phantasiewelten und Sprache. Am Ende von „Jetzt“ steht folgende Handlungsanweisung: „Schreibe einfach Sätze auf über das, was du siehst und denkst, ohne jede begriffliche Einordnung als Gesehenes und Gedachtes. Solch ein Satz, der darauf wartet, gefunden zu werden, nur der enthält wirklich das neue Jetzt.“

Ein letztes, verzweifeltes Bemühen, kulturelle Differenz gegen alle ästhetischen und politischen Einebnungen zu verteidigen. Eine Selbstbehauptungsstrategie, die nicht ohne Verluste abgeht. Das Deutschland der Bonner Republik war Bohrer schon zu Zeiten des Falkland-Krieges fremd geworden. Sarkastisch bezichtigte er die alte Heimat wegen ihrer Nichteinmischungspolitik des Provinzialismus – und geriet erstmals in den Ruf eines Konservativen. Jahre später – Balkankriege, 9/11 und Flüchtlingskrise haben sich mittlerweile ereignet und die deutsche Politik hat sich stark verändert – ist Bohrers Entfremdung noch stärker geworden. Über die von medialem Gutmenschentum getragene Verarbeitung der Kölner Silvesternacht 2015 urteilt er: „Ein Gesinnungsdiktat.“ Und Kanzlerin Merkel? „Sie führte das Wort ‚Globalisierung’ für alles im Munde“, hat aber „keinen Gedanken für die westliche Kultur, die den Fremden fremd bleiben würde.“

Bohrer lebt – nach langen Jahren in Paris und einem unglücklichen Intermezzo in Köln – wieder in London. Doch auch diese Metropole ist ihm fremd geworden: „Ein internationales Agglomerat.“ Und nicht mal der geliebte Fußball bietet Trost: An die Stelle des britischen Fußballs ist „das Unisono eines internationalen Stils getreten.“ Kulturpessimismus pur steht am Ende eines publizistisch anregenden, intellektuell aufregenden, zuweilen aber auch verstörenden Buchs.

Michael André

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Cover: © Suhrcamp

Karl Heinz Bohrer: Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie

Suhrkamp, Berlin 2017

542 S.

26 Euro