Herren der Zeit, Kinder ihrer Zeit

Der Literaturwissenschaftler Peter Demetz begleitet fünf Diktatoren ins Kino, aber er beschränkt sich bei seiner Erklärung für ihre Film-Manie leider weitgehend auf Einzeldarstellungen.

„Ich war“, schreibt der 1922 geborene Peter Demetz, „ein früher Filmfan.“ Leicht wehmütig beschreibt der spätere Literaturwissenschaftler, dass die bewegten Bilder aus dem Kinematographen früher in sein Leben eintraten als die bedruckten Bücher, die später seinen Beruf bestimmen sollten. Demetz war noch keine zehn Jahre alt, als ihn sein tschechisches Kinderfräulein an Samstagnachmittagen mit in Vorstadtkinos schleppte. Auf dem Repertoire standen meist melodramatische Filme, oft mit nationaltschechischem Patriotismus und Folklore gewürzt. Filme, die Fräulein Luise regelmäßig zum Weinen brachten und mit einem Café-Besuch samt Limonade endeten. Die Kinovorstellungen wurden zum Ritual, das beibehalten wurde, als Demetz längst schon Gymnasiast war und die großen Innenstadt-Lichtspielhäuser der mährischen Hauptstadt allein besuchen durfte – Brünn hatte damals 38 Kinos. Das Programmangebot war jetzt international. Hollywood und natürlich der große Nachbar Deutschland hatten den tschechischen Kinomarkt auch entdeckt. Die Kinoketten waren aber nach einem eigenen Schema geordnet. Die Sokol-Kinos gehörten dem tschechischen Turnerverband und zeigten vorwiegend tschechische Produktionen, das Dopz mit seinem Biber-Kino gehörte der Gewerkschaft der Privatangestellten, war zugleich aber auch Versammlungsort exilierter deutscher und österreichischer Sozialisten.

Auf diesen einleitenden Seiten von Demetz’ Buch entfaltet sich ein kleiner Kino-Kosmos, der gespeist wird von lebhaften, autobiographischen Erinnerungen an eine Kulturlandschaft, die nur noch wenige Jahre von einem Miteinander von Tschechen, Deutschen, Juden geprägt sein sollte, bis dann deutsche Besetzung, Krieg und Deportation alles in Hass und Ressentiment verwandeln sollten.

Doch der autobiographische Erzähler Demetz tritt dann leider in den Hintergrund. Ein Mann versucht, seine frühen Erfahrungen mit dem Kino nicht „ins Andekdotische zu verdrängen“. Er will Allgemeingültiges aus dieser Blütezeit des Kinos ableiten. Ihm ist nämlich aufgefallen, dass auch ganz andere, ungleich mächtigere Zeitgenossen dem Kino verfallen waren. Auf die eine oder andere Weise, zu verschiedenen Zeiten, unter sehr verschiedenen Vorzeichen. Daraus ist dann ein filmhistorisches Buch mit dem Titel „Diktatoren im Kino“ geworden.

Ein Titel, der vielversprechend klingt, aber nicht so viel einlösen kann. Demetz nennt zwei Autorinnen als Referenzpunkte für sein Schreiben. Einmal den amerikanischen Filmhistoriker Robert Sklar, der den Aufstieg Hollywoods zur globalen Bewusstseinsindustrie soziologisch analysiert hat. Zum anderen die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger, die ihr Leben lang selbst eine eifrige Kinogängerin war und der es mit dem Film ähnlich ergangen sein wird wie Demetz. Beide waren sie nach rassistischer NS-Definition Halbjuden, beide haben sie den dunklen Raum des Kinos als Ort von Geborgenheit und Zufluchtsort vor der Unordnung zu einer streng reglementierten Welt empfunden.

Nur, was die Herren Lenin, Mussolini, Hitler, Goebbels, Stalin im Kino empfunden haben, was die Diktatoren verbindet, was sie trennt, bleibt auch nach 256 Seiten weitgehend unklar.

Sie haben gelacht. Über alle politischen Fronten und Grenzen hinweg haben Mussolini, Hitler und Stalin über Stan Laurel & Oliver Hardy gelacht. Sie haben über die anarchistischen Zerstörungsorgien der beiden amerikanischen Komiker einfach hinweg gelacht. Mussolinis Verehrung für „Dick und Doof“ ging so weit, dass er ihren Produzenten Hal Roach bei einem Besuch in Italien wie einen Staatsgast hofierte und ihm einen wertvollen Kamin in einem Palast abbrechen und nach Hollywood schicken ließ.

Sie waren prüde. „Betreiben Sie ein Bordell, Bolschakow?“, fragte Stalin einmal seinen Filmminister nach einer Privatvorführung, nur weil eine nackte Tänzerin über die Bildfläche eilte und ein andermal dauerte ihm ein Kuss auf der Leinwand viel zu lange. Damit löste der Generalsekretär der mächtigen Kommunistischen Partei eine wahre Kuss-Phobie im sowjetischen Film aus. Mussolini stand Stalin hier kaum nach. Er hatte eine besondere Abneigung gegen Filme mit langen Küssen, weil sie „den guten Geschmack beleidigen“. Und Hollywoods Gangsterfilme hatten bei den Diktatoren auch keine Chance. Politische Verbrecher mögen keine Verbrecher-Helden. Sie könnten ihnen die Schau stehlen.

Aber solch grenzüberschreitende Sym- und Antipathien reichen natürlich nicht aus, um die Faszination von Diktatoren des 20. Jahrhunderts für den Film als die revolutionäre Kunst jener Zeit zu erklären. Demetz fehlt das methodologische Rüstzeug, um Licht in dieses Durcheinander von volkswirtschaftlicher Aufklärung, parteilicher Propaganda, zweckrationalen Überlegungen, industriewirtschaftlicher Entwicklung, widersprüchlichen privaten Interessen, persönlichen Neigungen, gar frühkindlichen Prägungen zu bringen.

Statt nach tieferen Gemeinsamkeiten zu suchen und Synthesen zu unternehmen, bleibt es bei Demetz bei Einzeldarstellungen seiner fünf Protagonisten und deren Entourage. Wobei allein die Auswahl der Figuren zu Fragen Anlass gibt. Warum ist ein Mann wie Goebbels mit einem eigenen Kapitel vertreten? Ein Mann, der selbst immer nur Vasall seines Herrn und Meisters Hitler gewesen ist und nie eigene, uneingeschränkte Macht ausgeübt hat.

Umgekehrt gefragt: Warum fehlt ein vergleichsweise spätgeborener Diktator wie Nordkoreas Kim Jong II? Ein Mann, der sich in den Kopf gesetzt hatte, eine eigene imperiale Filmindustrie aufzubauen, der ein Verehrer eines „Supernumerators“ wie James Bond war und nicht davor zurückschreckte, fremde Filmstars in sein Reich zu entführen.

Dagegen nimmt sich das Verhältnis eines Lenin am Kino geradezu elevenhaft aus. Der betonte zwar verschiedentlich die Wichtigkeit von Kino, meinte aber damit das Kino als didaktische Lehranstalt in einem Land mit einem hohen Prozentsatz von Analphabeten. Lenin war auch auffällig bescheiden in seiner filmischen Selbstdarstellung. Der Lenin-Kult setzte erst unter seinem Nachfolger Stalin an, der sich dadurch selbst übergroße Bedeutung verschaffte. Lenin handelte jedenfalls anders als der „Duce“, der nach seinem Machtantritt sehr schnell die Film-Industrie als Mittel neuer Massenbeeinflussung erkannte und fortan eigentlich nur einen Hauptdarsteller kannte: sich selbst als römischer Muskelprotz, möglichst vom gleichen Kameramann in der immer gleichen Pose für die Wochenschau aufgenommen.

So schaurig-amüsant diese Anekdoten und Details auch sind: Sie sind auch an anderer Stelle häufiger beschrieben worden und es hilft nicht viel weiter, die unselige Geschichte von Goebbels, seiner Geliebten Baarová und seiner Ehefrau Magda wieder auszubreiten. Mit falschen Entdeckerstolz. Was nötig wäre, ist eine Zusammenführung dieser internationalen Geschichten und Schicksale. Wie weit sie unsere Wahrnehmung von Filmwerken, von Geschichte, von den jeweiligen nationalen Dämonen vorbestimmt haben.

Halten wir resümierend fest: Die Diktatoren waren nicht nur Herren ihrer Zeit, sondern auch Kinder der Zeit. Sie entdeckten das Kino als zeitgenössische Massenkunst und zugleich als Ort lustvoller Regression. Jeder Vergleich mit den Demagogen der Gegenwart verbietet sich: Die Trumps dieser Welt twittern, was das Zeug hält und versichern sich über Social Media ihrer Massenbasis. Eine Institution wie Kino mit ihrem leicht ranzigen Glamour gilt ihnen als eine zu vernachlässigende Größe: zu umständlich, zu aufwändig.

Michael André

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Peter Demetz: Diktatoren im Kino | Lenin – Mussolini – Hitler – Goebbels – Stalin

Zsolnay Verlag, Wien 2019 | 254 Seiten | 24 Euro

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Bild: Hitler und Mussolini (München, Juni 1940) Author: Eva Braun | Part of Eva Braun’s Photo Albums, ca. 1913 – ca. 1944, seized by the U.S. government. According to NARA: Access Restrictions: Unrestricted
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