Oder warum auch dieser Superstar verschwinden muss

Krisen, nichts als Krisen, wohin man schaut. Vermutlich leben wir im ersten Jahrzehnt der menschlichen Kulturgeschichte, das es schafft, zugleich krisengeschüttelt und sturzlangweilig zu sein. Jetzt hat die Krise auch die Pop-Musik erwischt, und wie wir es uns gerne einreden lassen: Krisen sind, wenn bestimmte Teile der Industrien, nebst ihren jeweiligen Kleine-Leute-Nutznießern unter sinkenden Profitraten leiden. Der Pop-Industrie geht es schlecht, der ganzen Kulturindustrie geht es schlecht, das muss unserem Katastrophengeschmack genügen. Und da helfen auch publizistische Ergebenheitsadressen wenig, wenn´s ums Geld geht. Klaus Doldinger erklärt zum Beispiel in der Süddeutschen Zeitung allen Ernstes, wozu er und seine Kollegen und Kolleginnen in Jazz, Rock und Pop „angetreten“ seien, nämlich „einen Beitrag zum Entstehen einer nationalen Unterhaltungskultur zu leisten“. Jetzt weiß ich wenigstens, warum mir das meiste davon so ganz und gar nicht gefällt.

Wenn´s ums Geld geht, will offensichtlich auch der Pop-Künstler schnell heim zu „seiner“ Industrie und gar zu „seiner“ Nation. Was aber, wenn die Pop-Krise viel tiefer geht und höchstens am Rand mit Copyright-Piraterie und Internet-Verfügbarkeit zu tun hat?

Was Pop anbelangt, haben wir es mit drei mehr oder weniger unlösbaren Problemen zu tun:

Erstens weiß jeder ungefähr was Pop ist, aber keiner weiß, was Pop „genau“ ist. So wird die Ungenauigkeit Teil jeder Pop-Theorie (von der Pop-Praxis ganz zu schweigen).

Zweitens kann man Pop leicht überschätzen. Nur zum Beispiel soll jedes Pop-Phänomen, sobald es den Zustand der Underground-Aspiration überschritten hat, stantepede den Zeitgeist erklären.

Zum Dritten aber kann man Pop auch genau so leicht unterschätzen. Als wäre es ein ökonomisch kontrolliertes kulturelles Nullsummenspiel, ein Zeichensystem, das sich beständig selber auffrisst. So verlässlich zyklisch wie Skandal und Langeweile im Fernsehen.

Wenn man nun all das zusammenfügt erhält man eine merkwürdige Gleichung: Pop und Postmoderne gehören offensichtlich zum gleichen Diskurs. „Bedeutung“ ist eine bewegliche Größe, so dass ein und dieselbe Äußerung höchst bedeutsam und ziemlich unbedeutend sein kann. Anders gesagt: Die Ernüchterung der Post-Postmoderne könnte man ebenso gut beschreiben auch als Ernüchterung im und über den Pop. Aber natürlich hat man zur gleichen Zeit auch die Pop-Version von Ernüchterung. Der Pop-Markt, das tut er gerne, droht mit seinem ökonomischen Zusammenbruch. Aus Gründen der Internet-Piraterie und der Semiotik. Es ist – und Achtung: Pop produziert unentwegt Kapitalismus-Bilder! – als habe sich der Mainstream zu Tode gesiegt. Als müssten die Entscheidungen für ihn oder gegen viel zu früh und viel zu bedingungslos erfolgen, um unser altes Drama zu spielen: das Auffressen der Rebellen-Kinder des Pop durch den Kommerz. Die Abschaffung des bürgerlichen Lebenszustandes „Jugend“ zugunsten einer Warenwelt „Jugendlichkeit“ kann ihren Einfluss auf die Pop-Kultur nicht mehr verbergen, und die postmoderne Mischung aus Intelligenz, Ironie und Naivität zweiten Grades scheint sich auch weitgehend verbraucht zu haben.

Einerseits hat das damit zu tun, dass die Rebellen-Kinder einfach nicht mehr so naiv und unschuldig sein können; der Pop-Nachwuchs ist schließlich nicht nur mit Musik, sondern auch mit den Simpsons aufgewachsen. Andererseits verliert die Macht-Glocke im Zentrum (von Pop und Kapital) beim Fall der Profitraten so verlässlich den Verstand, dass man die Untergangsuhr danach stellen kann: Sie sind bereit, um sich zu retten, den Markt selber (vorläufig) zu zerstören. Pop frisst nicht nur sich selbst, so weit so harmlos, Pop frisst im schlimmsten Fall sogar das Bedürfnis nach Pop. Unsere Idee, wir befänden uns in einem Spiel von Angebot und Nachfrage, das sich immer wieder aufeinander einstimmt, entpuppt sich als kindischer Euphemismus. Wir befinden uns stattdessen in einem System von Begierde und Profit, und diese beiden Kräfte sind keineswegs so fein zu synchronisieren (nicht obwohl, sondern weil sie einander so verwandt sind).

Der Pop-Himmel ist voller Sterne, und gesund ist dieses System eigentlich nur, wenn entweder genau so viele Sterne verschwinden wie neue dazukommen, oder um es ökonomisch zu sagen wenn so viel an Konsumenten und Kaufkraft nachwächst wie Angebote steigen. Offensichtlich aber ist da eine Asynchronität entstanden: Einerseits durch ein quantitatives Überangebot, andererseits durch die Durchsetzung des Markts durch entropische Angebote (wir casten eine Band nach euren Wünschen!) und schließlich durch das gerade gegenteilige Konzept des „Superstars“, denen die Fähigkeit der Grenzüberschreitung und Verwandlung eingeschrieben war, wie bei Michael Jackson, David Bowie oder Madonna.

Was derzeit offensichtlich ganz und gar nicht funktioniert ist das Konzept dieses „Superstars“, also eines Sternes, der so hell leuchtet, dass er dieses und jenes überstrahlt, nicht zuletzt die fundamentalen Widersprüche zwischen Mann und Frau, arm und reich, weiß und schwarz, homosexuell und heterosexuell, Ghetto und Suburbia zum Beispiel. Vor diesen in Bilder und Töne übersetzten sozialen und sexuellen Beweglichkeit schreckt nun nicht mehr allein die Produktionsseite (nebst ihren politischen Verbündeten) zurück. Auch die Konsumenten, sowohl jene im Mainstream als auch die an der Peripherie, scheinen wieder mehr auf „Identität“ als auf Movement zu setzen. Vielleicht ist aber auch die Strahlkraft und Macht der Verführung durch die Superstars zu groß geworden, und die Objekte der Identifikation müssen in ihren Bewegungen feiner justiert sein, um über die Grenze purer fernsehtauglicher Nichtigkeit hinaus zu wirken.

Die Frage ist also, wie man Superstars los wird. Nicht alle können sich selbst das Gehirn wegpusten oder sich das entscheidende Quantum Drogen zu viel gönnen, und nicht alle können sich in den gesicherten Bereich der „Klassiker“ zurückziehen, von denen alles mögliche, nur keine Veränderung mehr verlangt wird. Michael Jackson wird zum Monster, sein Modell der Selbsterfindung wird zum wahlweise komischen oder gefährlichen Wahnsinn. Auch Madonna, auf eine ähnliche (und doch ganz andere) Weise als Superzeichen-System der Popkultur unterwegs, muss damit rechnen, dass da draußen eine Menge Leute lauern, die nichts anderes im Sinn haben als sie symbolisch zu opfern. Natürlich ist sie viel klüger als Michael Jackson, die Rückkehr zur puren „Normalität“ gehört immer zu ihren Rollenangeboten; mit Madonna konnte man mehr oder weniger erwachsen werden, mit Michael Jackson nicht. (Und ob er Kinder schändet, oder, anders herum, die Kindheit als gesellschaftlich kontrollierten Raum, ist noch die Frage.) Wenn jeder Star ein Glücksversprechen ist, dann muss er genau dann geopfert werden, wenn deutlich wird, dass diese Gesellschaft, die ihn in doppeltem Sinn gemacht hat (als Möglichkeit und als Defizit) sich restriktiv verändern muss, und offenkundig bedient sich die gute Gesellschaft da jeweils ihrer aktuell bedienbaren Hysterien.

Der Superstar, das ist allen klar, kann nur überleben, wenn er auf das „Super“ verzichtet und so viel als möglich eine biografische Authentizität rekonstruiert. Die Proll-Version bietet Ozzy Osbourne, der höchstselbst den Weg vom alten zum neuen Superstar macht. Wieder einmal scheint David Bowie derjenige der Superstars, der auf diese Situation am konsequentesten und am aristokratischsten reagiert. Er inszeniert den Abschied des menschlichen Künstlers von seinen Kreationen und seinen Masken. Und er tut das in Form eines Werbeclips für Mineralwasser. So viel Chuzpe ist schon wieder selber Kunst!

Für Michael Jackson dagegen scheint jeder Weg aus der Maske des Superstars zurück unmöglich. Er muss weg, weil seine getanzten und gesungenen Utopien über die Widersprüche von class, race, gender und generations der Bush-haft regenerierten genau so wie der grünlinken kleinbürgerlichen Moralisiergesellschaft nicht ins Konzept passen. Und Madonna muss weg, weil auch ihr Versprechen der offenen Modelle von Weiblichkeit und Selbstbestimmung nicht mehr ins soziale Konzept passt: Beide Gesellschaften nämlich, die fundamental reaktionäre Gesellschaft von Bush und die sich besser dünkende Gesellschaft der SPD-Grünen Heuchler, haben als tiefes inneres Bedürfnis eine Bekämpfung der Sowohl-als-auch-Erscheinungen, der Übergänge und Verschmelzungen, sie setzen stattdessen auf das klare Entweder-Oder: Entweder ihr seid Freunde oder ihr seid Feinde, entweder ihr macht den neoliberalen Weg mit, oder wir nehmen euch noch die letzten Lebensmöglichkeiten weg, entweder ihr seid Gewinner oder ihr seid Verlierer, also lasst euch nicht beim Flirten mit den Verliererkulturen erwischen. Dass die Gesellschaft wieder in klare Rollen-Zuordnungen zerfällt, das ist Grundlage der modernisierten Macht.

Zu dieser Neuordnung der Zeichen und der Verhältnisse gehört es auch, dass die Superstars verschwinden, die zwischen den musikalischen (und eben sozialen) Codes vermitteln und mit ihnen gleichsam Meta-Experimente durchführen. Der Superstar mag vielleicht als Künstler nie so interessant sein wie der tüftelnde Underground-Einzelgänger, aber er experimentiert eben nicht nur mit Verbindungen, er experimentiert auch mit möglichen Formen der Verbündungen.

Der Druck auf den Superstar kommt immer von zwei Seiten: Von „unten“ muss er ein „Verräter“ sein, von oben ein schwer zu kontrollierendes Produkt. Die Pop-Industrie in der Krise jammert nicht nur (natürlich um – wir haben ja von der Kapitalismus-Metapher schon gesprochen – zum einen nach gesellschaftlichem Einsatz zu verlangen – also wahlweise verdeckte Subvention und Einsatz von Polizei und Justiz gegen die Copyright-Piraten, und zum anderen um den Anteil der ersten Produzenten, nämlich der Künstler, am kleiner werdenden Kuchen zu schmälern), sie baut sich auch innerlich um. Sie nationalisiert ihr Angebot, sie erhöht den Druck auf die Struktur von Zentrum (Fernsehkultur) und Peripherie und sagt dabei dem Nomadischen (dem sie einen Großteil ihres Reichtums verdankt) den Kampf an. Die einzige profitträchtige Überlebensstrategie scheint es dieser Industrie, ein Verkleinern des Marktes in Kauf zu nehmen, diesen Restmarkt aber wesentlich stärker zu kontrollieren. Aus einem gigantischen Markt der Nachfrage soll ein überschaubarer Markt des Angebots werden. Ein Seitenstück dieses Markt-Umbaus ist es, Wesen und Reichweite der Stars neu zu definieren.

Stars für einen Tag

Der Fall der Superstars ist möglicherweise nicht zufällig mit den epidemischen Casting- und „Starmania“-Hysterien zeitgleich; es entsteht da der Stern, der nur für einen Augenblick glüht, und sich dann selbst entsorgt oder sich im Dschungel nebst den abgehalfterten Stars vergangener Zeiten zum Affen macht. Dabei darf der im Grunde entmachtete Verbraucher seinen Verlust kompensieren, indem er sich in eine sadistische Machtposition träumt. Die neue Variante von „Superstar“ ist nicht ein Mensch, zu dem man hinaufschaut, sondern einer, auf den man hinabschaut. Im Zentrum der Sinnproduktion entstehen keine Sterne mehr, es werden stattdessen Satelliten von begrenzter Haltbarkeit in Umlaufbahnen geschossen.

In den Casting Shows und in den Dschungelkriegen der Has-Beens wird vor allem dem Zuschauer die eigene Macht suggeriert, und im Dschungel wird die Opferung des Stars von einem symbolischen zu einem körperlichen Akt. Aus dem Stürzen der (als falsch erkannten) Götter ist das barbarische Menschenopfer geworden.

Der Sturz der Superstars und der Aufstieg der Stars für einen Tag (Götter, deren einzige Funktion das Gestürzt-Werden ist) ist nicht zuletzt eine Verlagerung der kulturellen Macht von den Fans auf die Medien. Nicht, dass es früher allzu viele Stars gegeben hätte, die ohne Manipulationen und Machinationen ihren Platz gefunden hätten. (Übrigens waren auch die alten Götter nie besonders fair, wenn es darum ging, die Gläubigen zu beeindrucken und auf den richtigen Weg zu bringen.) Aber im Star und dann noch mehr im Superstar begannen Bedeutungen und Projektionen immer ihr Eigenleben zu entwickeln. Das Großartige an Pop war nie das Authentische und das „Richtige“ (in Geschmack und Weltanschauung), es war das Unkontrollierbare, die Fähigkeit nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst zu überraschen.

Kurzum: Die Pop-Industrie wird keineswegs von den abtrünnigen und zur Freibeuterei neigenden Fans zerstört, sie zerstört sich im Gegenteil systematisch selbst. Aber nur um einen Akt von mehr oder weniger freundlicher Übernahme vorzubereiten. Auch sie muss geopfert werden, damit das System des medialen Populismus reibungslos funktioniert. Die Einzelmärkte der Musik-tribes, der Musik-Stämme, dagegen sind als Zulieferer der Kulturwaren überaus nützlich, je „getrennter“ sie sind, desto mehr. Die Musik (und die harte Ware der CD) verlieren zwar an Bedeutung; die berüchtigte „Identitätsstiftung“ funktioniert nur noch in Zusammenspiel mit anderen Zeichensystemen: Musik plus Klamotten plus Lebensstil.

Für Normalverdiener wie dich und mich funktioniert Kultur außerhalb des Fernsehens als ökonomische Selbstzerstörung, als Schnäppchenjagd (so wie umgekehrt die Schnäppchenjagd zur Kultur wird) und als Vergnügen endloser Differenzierung und Zusammenführung (ohne das Bewusstsein des crossover, das im Superstar eine „Erzählung“ erhält). Der offensichtlich durchaus erwünschte Nebeneffekt: Pop verliert seine Funktion als gesellschaftliche „Sprache“, und die kulturelle (und eben sexuelle, moralische, politische, ästhetische und weiß der Teufel was) Pose, die aus Pop gewonnen werden kann, bleibt Selbstreferenz oder Stigma. Und das nicht nur, weil der Superstar als kulturelles Transportmittel zwischen Peripherie und Zentrum wegfällt, sondern auch, weil auf einem kulturellen Anbietermarkt das Prinzip der Subversion keine Daseinsberechtigung hat. Wie alle unsere so genannten Krisen ist auch die Pop-Krise die Maske eines ökonomisch-politischen Umbaus, an dessen Ende der Zocker-Kapitalismus hinter dem forcierten Medienpopulismus steht. Der Superstar muss entweder Ausdruck dieser neuen Machtverhältnisse werden (sei es als öffentlich zelebriertes Opfer, sei es als Schauspiel der Anpassung), oder er muss als unliebsamer Faktor verschwinden.

Stars machen, sagt Parker Tyler, „wie die Götter fortwährend Metamorphosen durch, verlieren aber nie ihre Identität“. Stars sind Antworten auf die Probleme ihrer Zeit. Sie sind sehr viel mehr als bloße Idole, denn in ihnen ist auch schon das Scheitern aufgehoben, schon das Unmögliche der Revolte. Stars verzeihen immer mehr als sie fordern – das macht sie zu industriell verbesserten Göttern. Und ein Star ist immer auch ein philosophisches Lebensmodell, das durch den Glamour schimmert.

Was aber ist ein Superstar? Er ist zunächst die Fortsetzung des Stars, noch eine weitere Steigerung von Präsenz und Entrückung. Ein Superstar mag aber auch, ganz im Sinne von Andy Warhol, jemand sein, der das Star-Sein mit besonderer Heftigkeit zelebriert und somit die „Unschuld“ des eigentlichen Stars verloren hat, der ja nie wirklich spielt, sondern immer ist. Ein Superstar ist ein von sich selbst entrückter Star, und wenn die Wirkung des Stars darin liegt, dass er in seiner widerspruchsvollen Erscheinung ein tiefes Geheimnis birgt, Versprechen und Drohung zugleich, so ist der Superstar reine Oberfläche, ein Schwamm, der alle Bedeutungen aufsaugt, um am Ende alles und nichts zu sagen wie der Gott einer Religion, die sich zu Tode theologisiert hat. Wenn der Star uns etwas zu sagen hat, dann ist der Superstar eine ganze Sprache.

Der Superstar wird freilich notwendig in einer Zeit, da das mediale Spiel mit dem Star einen bizarren Grad an Entfremdung erreicht hat. Der Star-Kult der Postmoderne unterscheidet sich von dem der früheren Generationen dadurch, dass wir unsere Stars zugleich lieben und durchschauen. Noch in der aufgeblähtesten und korruptesten Teenie-Konsum-Presse ist es notwendig, nicht nur Stars aufzubauen und wieder abstürzen zu lassen, sondern auch sozusagen psychisch zu demontieren. In der schönen neuen Medienwelt hat der Zuschauer sich über den Star erhoben: Wir machen uns nicht mehr für ihn zum Narren; er muss sich für uns zum Narren machen. Und so wie es einst die einzige Chance des Verlierers gewesen ist, zum Star zu werden, so ist nun die einzige Chance des Stars zum Superstar zu werden, um dem beschleunigten Spiel von Aufbauen und Fallenlassen zu entkommen. Eine Entrückung, meinethalben.

„Wir sind“, sagt Ernst Bloch, „aber wir haben uns nicht. Darum werden wir erst“. Madonna und einige ihrer Zeitgenossen scheinen diese Aussage auf den Kopf zu stellen. Das Ergebnis ihrer Arbeit und ihrer Lust an sich selbst ist, dass sie sich haben (sie heben dabei sozusagen den Kapitalismus auf die zugleich höchste und farcenhafteste Stufe: ein vollkommenes System, das zugleich Subjekt und Objekt der Ausbeutung ist; Kapital und Arbeit in einem schimmernden Körper vereint). Dabei aber, so scheint es, geht das Sein verloren. Und nichts kann mehr werden: der Superstar ist die Aufhebung des Utopischen, das noch in jedem Star steckt. Der Superstar ist, ganz wörtlich, alles Mögliche. Früher oder später aber will er wieder Mensch sein.

So ist Madonna, unter anderem, eine Art getanzte Darstellung einer philosophischen Fragestellung: Was bedeutet der Körper in einer Zeit, in der, was ihn einst so sinn- voll machte, verschwindet: die Arbeit? Er ist zunächst das „Kapital“, das eingesetzt werden muss, nicht so sehr im Sinne einer Art medialer Prostitution wie bei den herkömmlichen Sex-Stars, sondern als notwendiger Wirklichkeitsrest im Mythos, als Beleg wahrer und letzter Authentizität. Der Körper ist Sprache. Dabei entstand rund um Madonnas Körper eine paradoxe Situation. Er ist zum einen fast schon totfotografiert; jede Pore ist ausgeleuchtet, jede Pose eingenommen, jede erotische Obsession inszeniert. Und dennoch muss der Superstar wie manisch immer wieder zu einer „Offenbarung“ seines Körpers zurückkehren, als wäre da immer noch ein Schleier zu lüften, ein Geheimnis preiszugeben. In der Tat ist diese Reduktion auf den eigenen Körper die einzige Chance des Superstars, immer wieder Authentizität zu gewinnen, im Spiel der Verkleidungen nicht vollends trivial zu werden. Die Maske wird in gewisser Weise in den Körper eingeschrieben. Das Verhältnis von Distanz und Nähe, das den Star ausmacht, ist im Superstar absurd geworden: Madonna ist ein durch und durch synthetisches Produkt, oder, anders, mit den Worten der Regisseurin Susan Seidelmann gesagt: „Sie hat ein Gesicht, das man ständig stark vergrößert anschauen möchte“. (Übrigens erklärt sie damit wohl schon, warum die Film-Schauspielerin Madonna so wenig funktioniert, dass nicht einmal ihre treuesten Fans ihre Filme ansehen wollen.) Und sie ist zugleich, vermittelt durch eine Art lärmigen Exhibitionismus ein Mensch, der nicht müde wird, Allerintimstes, das Einzigartige, was an einem Menschen dran ist, nach außen zu kehren.

Madonna ist das Produkt der Postmoderne und ein Kommentar zu ihr, insofern sie die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen negiert. Ebenso wie sie die Intimität ihres Seelen-, Familien- und Sexlebens veröffentlicht, so privatisiert sie auch die Öffentlichkeit etwa eines Konzertes. Jede ihrer Performances ist auch und überdeutlich, ein Stück magischer Autobiographie, in der nicht bloß hinter dem technischen und ästhetischen Aufwand das Peinliche und Lächerliche eines solchen Unternehmens verschwindet, sondern auch hinter der schieren Evidenz des Mythos. Madonna zeigt, dass man so „tief“ gehen mag, wie man will, es existiert in einem Menschenleben nichts anderes als das Offensichtliche und das Erfundene. Alles andere ist gelogen.

Madonna gehört als Superstar zu einer multikulturellen Gesellschaft, in der sich der Mainstream der Kultur aus vielen Seitenflüssen nährt. Genau besehen ist die Entwicklung ihrer Karriere nichts anderes als die Nachzeichnung einer Art kultureller Pubertät; Madonna Ciccione spielt den Familienroman der nachpatriarchalen Gesellschaft; sie ist die Frau, die ihre Identität finden muss jenseits der Organisation einer verlässlichen Familie (aber nicht unbedingt gegen sie, wie der traditionelle „ödipale“ Rebell).

Madonna hat sich selbst in ihren Interviews als eine weibliche Antwort auf die Superstars Michael Jackson und David Bowie gesehen, und sie hat stets sehr genau gewusst, dass damit eben nicht nur eine erotisch-moralische Strategie verbunden ist, sondern dass sie immer, bei aller Frivolität der Zeichen, ein politisches Statement ist. Zwei Dinge nun sind es, die das Verglühen des Superstars begleiten, zum einen der große Friedensschluss mit der Institution der Familie (etwas hilflos vielleicht gar ein Versuch, die eigene, offensichtlich ausgesprochen traditionell funktionierende Familie als „Super-Familie“ in der Öffentlichkeit zu inszenieren) und zum anderen ein erschrecktes Gewahrwerden der politischen Ebene. Die Geschichte um das Zurückziehen ihres kritischen Videos, Pose und Texte der letzten Platte sprechen wohl für manchen von einer Mainstream-Feigheit, aber möglicherweise ist das Erschrecken viel tiefer als eine Angst, etwas falsches zu sagen: Nachdem der Superstar sich entschließen musste, als Mensch (und vielleicht als Künstler, aber nicht um jeden Preis) zu überleben, muss er sich zugleich von der Maske und vom Spiegel befreien. Madonnas letzte Platte handelt von nichts anderem als von dieser (vielleicht letzten) Häutung.

Am Beginn ihrer Weltkarriere ist eine Hauptbotschaft von Madonnas Auftritten die wundersame Verquickung von Religion und Sexualität. Immer hat sie ein Kreuz auf ihrer Kleidung im „ironisch nachempfundenen Nuttenstil“ (Madonna), trägt den Rosenkranz und auf ihrem Gürtel unter dem freien Bauchnabel prangt die Schrift „Boy Toy“. In ihrer Erscheinung gibt es eine Art Inflation der Zeichen, es ist eine Art Middleclass-Punk: man kann aus allem etwas machen, die alten Kleidertruhen der Eltern plündern und sich in einem endlosen Karneval fühlen. Die fingerlosen Handschuhe gehören dazu wie die etwas überdimensionierten spitzen Büstenhalter in der Art der fünfziger Jahre: auch das ist ein kleines (autobiographisches) Theater – das Mädchen verkleidet sich mit dem Büstenhalter der Mutter zur Frau. Und zugleich vollzieht sich eine Aufhebung der Zeit und der Kulturgeschichte: Mit Madonna kehrt eben jener Büstenhalter als lustvolles Element zurück, das keine zehn Jahre vorher als Folterinstrumen der patriarchalen Unterdrückung verbrannt worden war. Amerikanische Kaufhäuser nannten ihre Mieder-Abteilungen „Madonnaland“ und verdreifachten ihre Umsätze. Als Mutter und Mensch funktioniert das alles nicht mehr, aber es hätte auch nicht mehr funktioniert, wenn Madonna nicht, nun ja, „bürgerlich“ hätte werden wollen. Courtney Love gibt die Schlampe, die weiß, dass man für einen gewissen Lebensstil bestraft wird, von innen und von außen. Und auch das Spiel mit den sexuellen Identitäten im Pop ist „härter“ geworden. Jedenfalls ist es in einem Stadium (und nicht mehr unbedingt fernsehtauglich), wo man es nicht einfach mit Ironie wieder umkehren kann.

Mit Like A Virgin begann die Serie der Madonna-Hits, die mit diesem Image der Klosterschülerin in der Revolte spielte. Das kleine italienische Mädchen, das immer wieder aus der blonden Diva hervortrat, und der gestylte Superstar, in den sich die Göre immer wieder verwandeln konnte, machte Madonna zu einer bizarren Botschaft insbesondere in katholischen Ländern, und mit Isla Bonita lieferte sie der südamerikanischen Welt das Opfer der puritanischen Arroganz: Sie ist es, die von Don Pedro träumt, und nicht umgekehrt. Sie ist die (sich) träumende Frau und nicht das Traum-Objekt, aber ihre Performance dazu funktioniert nur solange sie gleichsam eine lineare Geschichte dazu spielt. Und nun hat sie das Stadium einer reifen Frau erreicht, die gar nicht ohne Verzweiflung fragt, was sie aus ihrem Leben und aus ihrer Kunst gemacht hat.

Von dem ursprünglichen Image einer Mischung aus Klosterschülerin und Riot Girl hat sich Madonna so weit entfernt; sie ist nun die Frau, die buchstäblich alle Rollen übernehmen kann, die die populäre Kultur geschaffen hat; sie ist Marilyn Monroe, sie ist Domina, sie ist fünfziger Jahre und sie ist Zukunftstraum, sie ist, wie in David Lynchs Film Dune oder in den Comics von Moebius ein erotisches Wesen, das in eine laszive Symbiose mit technischem Gerät verwoben ist, und sie ist das Naturkind im geblümten Kleid.

Aber die endlose Verwandlung verdeckt nicht die erste Krise dieses Superstars schon zu Beginn der neunziger Jahre. 1993 ist einerseits ein Madonna-Jahr, andrerseits aber auch ein Jahr der Verdammnis für sie. Das Album Erotica verkauft sich gut, aber eben nur gut, ihr Film Body of Evidence will alles zugleich sein: ein Basic Instinct-Abklatsch, ein Courtroom-Drama eher mittelprächtiger Machart, ein Erotica-Promotion Clip und einmal mehr Ausweis von Madonnas kalter Lüsternheit und ihrer gleichzeitigen Unschuld. Jeder Film mit Madonna nach dem Debüt Desperately Seeking Susann ist eine Enttäuschung; der Verdacht steht bald fest (mal abgesehen von den gewiss nicht unberechtigten kritischen Spitzen zu ihren limitierten Schauspielkünsten – aber was ist mit Arnold Schwarzenegger?): Es gibt keine Rolle für dieses Image. Madonnas erotische Skandale und Selbstentäußerungen sind keine Nachrichten mehr. Sie werden monströs wie Michael Jacksons ewige Kindheit und die sexuelle Gefährlichkeit darin, und seine Obsession der chirurgischen Selbstverwandlung. Auf die neue wirtschaftliche und nicht zuletzt kulturelle Krise hat sie keine Antwort. Madonna ist nahe dran, ihr einstiges Vorbild Michael Jackson auch in diesem Punkt zu erreichen: Alle Widersprüche zwischen den Rassen und Klassen, den Generationen und Kulturen sind angesprochen und zitiert, in einem Erscheinungsbild auch aufgehoben, aber nicht gelöst worden. Jetzt brechen sie genau an diesem Bild der Überschreitung wieder auf. Und die erste Generation von „Wannabes“, der Mädchen, die Madonnas Strategien sozusagen wörtlich übernehmen wollten, sieht sich bereits in ihren Hoffnungen betrogen, das System der Ausbeutung mit den eigenen Waffen zu schlagen.

„Madonna“ funktioniert nur in einer Welt, die sich bis zu einem gewissen Grad leisten kann, verkehrt zu sein. Die schwangere Whitney Houston, sozusagen das brave und schwarze Gegenbild zu ihr, erklärt in der Öffentlichkeit, sie werde ihr Kind umbringen, wenn es auch nur die geringste Ähnlichkeit mit Madonna habe. Fauch! Madonna ist, auch wenn sich ihre Medienerscheinungen allmählich erschöpfen, immer noch eine Heilige der weißen Riot Girls. Sie verkündet einen totalen Anspruch: „Ich möchte die Welt regieren. Jedesmal, wenn ich einen neuen Gipfel erreicht habe, sehe ich schon den nächsten, auf den ich klettern möchte. Vielleicht sollte ich mich ausruhen und die Aussicht genießen, aber ich kann es nicht. Ich weiß nicht, was mich motiviert. Ich weiß nur, dass ich weitermachen muss.“

So ist sie zugleich die „Göre“, die nach der Weltherrschaft strebt, die Urahnin aller Riot Girls, sie ist die Kluge, die das Dummchen nur als Karikatur zitiert, und die Frau, die immer wieder aus der Asche aufsteigt. In einem Konzert sieht man hinter ihr auf einer gewaltigen Projektion das Gesicht des Superstars Madonna langsam verblassen, während im Vordergrund die leibhaftige Madonna am Bühnenrand langsam in sich zusammensinkt und schließlich auf dem Boden liegt. Ein Moment des Schweigens. Und dann springt sie triumphierend auf, ein neues Madonna-Bild erscheint hinter ihr. „Ich bin alles das, was man den Kids zu sein verboten hat“, ruft sie. Das ist nicht wahr, aber schön erfunden. Und nun ist sie Mutter und stiftet fünf Millionen für ein Glaubenszentrum in London und veröffentlicht ein Kinderbuch, das ungefähr so zeitgemäß ist wie der Tischschmuck von Homer Simpsons gutmenschlichem Nachbarn: Die englischen Rosen. Der deutsche Verlag (Hanser) warnt uns schon mal: „Es handelt sich um moralisch angehauchte Geschichten.“ Moralisch angehaucht ist gut!

Vielleicht so versteht man, warum Madonnas letztes Album, nachdem alle Magister-Arbeiten geschrieben, alle Diskurse des freien role modeling abgeschritten sind, mit so viel mürrischer Apathie aufgenommen wurde (obwohl man zuzugeben bereit ist, dass American Life nicht wirklich schlecht ist). Es beschreibt die aktuelle Phase, die man als eine Art Selbstbeschränkung eines Stars ansehen könnte, der vor sechs Jahren noch verkündete: „Ich höre erst auf, wenn ich so berühmt bin wie Gott“. Wahrscheinlich ist sie ihm oder ihr begegnet, und sie hat in ihrer ewigen Weisheit das einzige Wahre zu diesem Ansinnen gesagt: „Na und?“. Jedenfalls ist Madonna seitdem auf dem Weg zurück zu sich selbst, und das ist ein verdammt langer Weg.

Sie singt davon, dass sie glücklich in ihrer Familie ist, dass sie nicht fernsieht (kann man leicht sagen, wenn man glücklich ist), dass sie Yoga macht. „Me, Myself, I“ – und alle drei sind einigermaßen zufrieden. Ein Rockstar ist nicht nur ein Fenster, sondern auch ein Spiegel, Narzissmus ist nicht unbedingt Selbstfixiertheit, ein Rockstar sagt etwas über die, die ihn hören und sehen. Hören wir nicht in dieser Betonung der eigenen Menschlichkeit, des Rechts aufs eigene überschaubare Glück, die Vorboten eines hysterischen Schubs?

Der Weg zurück zu sich eines amerikanischen material girl führt offensichtlich immer dazu, eine eifernde, moralische Predigerin zu werden. Ihre Kinder, verkündet sie, dürfen weder Fernsehen noch ins Internet. „Ich will nicht mehr, dass sich die Leute kleiden wie ich. Kleidet euch wie Britney Spears. Denkt wie ich und alles wird gut.“ Die heimgekehrte Madonna, endlich selber Mutter einer neuen heiligen Familie, der zu entkommen doch alle ihre Rollen zumindest unter anderem dienten? Vielleicht hat Madonna einfach nur im Schnelldurchlauf die Geschichte aller Dissidenz durchgespielt. Vielleicht muss man aber auch den Titel des Albums sehr ernst nehmen. Teils als Schmerzensschrei, und teils als Symptom der Nationalisierung von Pop.

Das Ehepaar Madonna (die postfeministische Rollenspielerin) und Guy Ritchie (der leicht größenwahnsinnige Sarkastiker) kommen gemeinsam zur Ruhe; „auch er versteht, dass es im Universum Gesetze gibt, nach denen man leben sollte“ (Madonna). Wenn es das ist, was er versteht, sollte er es uns mal erklären. Der gemeinsame Film jedenfalls, ausgerechnet nach einer ganz bestimmt nicht verstandenen Vorlage von Lina Wertmüller, ist nicht nur als Film ein Fiasko, sondern auch als Statement zur Lage der magischen Biographie: „Geld lässt die Menschen ihre Prinzipien vergessen“. Man könnte auch sagen: Es ist auf der Bank besser aufgehoben als beim Kokshändler. Eine glückliche Madonna ist unerträglich, und nur noch unerträglicher kann eine Madonna sein, die ihr Glück auch noch mitteilen muss. Deswegen weiß man noch nicht genau, ob American Life nicht doch eine gute Platte ist, weil sie viel unglücklicher ist, als man bei der öffentlichen Selbstdemontage der Madonna vom Superstar zur bigotten Vorstandmutter vermuten möchte.

Damit sind wir wieder beim Wesen von Pop in der Post-Postmoderne: „Ich wäre nicht, was ich bin, wenn es nicht die vielen katholischen und bürgerlichen Werte in meinem Leben gegeben hätte, gegen die ich rebellieren musste“. Und die nun, in modifizierter Form (vielleicht doch mehr demokratisch als republikanisch) wieder hergestellt sind.

Die drei Modelle des Verschwindens der Superstars scheinen perfekt aufeinander abgestimmt, in einer sozialen, kulturellen und immer noch sexuellen Hierarchie: Der radikalen Opferung wird der schwarze, unerwachsene Michael Jackson unterzogen; er muss zum Monster werden. Der europäisch-aristokratische David Bowie darf sich in selbstironischer Rückschau von seinen Abenteuern im Zeichenland der Geschlechter verabschieden und sich auf ein gewiss respektvoll aufgenommenes Spätwerk vorbereiten. Aber die blasphemisch-naive Vorstadtgöre Madonna muss ins Zentrum einer kleinbürgerlichen Idylle gezwängt, dem patriotischen Geist untergeordnet und zum Zeichen der post-postmodernen Versöhnung werden. Ob sie damit glücklich wird oder nicht – die Pop-Industrie hat ihre Religionsgeschichte umgeschrieben. Die Zeiten werden härter.

Autor: Georg Seesslen

Text veröffentlich in Freitag 16.04.2004