Sofi Oksanen, © Teemu Rajala 2008

Diskurs in der feministischen Enge

Ein grandioser Roman und seine dumme Verpackung

Noch bevor man Sofi Oksanens Roman „Fegefeuer“ aufschlägt, duckt man sich am besten unter dem Tsunami der begleitenden Information hindurch. Denn an Auszeichnungen, Übersetzungen und Bestsellerei mangelt es dem Buch so wenig wie an Berichten über die Selbstinszenierung der feministischen Autorin. Auch in Deutschland fand Fegefeuer sofort tausende Leser. Und tatsächlich handelt es sich um ganz große Literatur. Ernsthafte Leser werden aber den lila Umschlag spätestens nach der Lektüre in einen Briefumschlag stecken und mit freundlichen Grüßen an den Verlag zurückschicken. Schließlich versucht er, sie mit dem Klappentext für dumm zu verkaufen.

Erzählt wird die tragische Geschichte der Bäuerin Aliide Truu aus West-Estland. Im Jahre 1992 ist diese eine alte Frau, die in ihrem Garten ein grün und blau geschlagenes russisches Mädchen in westlicher, dreckiger und zerrissener Kleidung mit rot lackierten Fingernägeln findet: Zara. Zu ihr kommen wir später.

Sehr langsam und detailliert erfährt man zunächst, dass Aliide Truus Leben von der unerwiderten Liebe zu Hans Eerikssohn Pekk bestimmt wurde. Hans ist auch Bauer, zudem mit Aliides von allen schon immer bevorzugten Schwester verheiratet. Das Drama beginnt mit Hans’ Einzug in das Haus der Truus und zieht sich über die wechselnden Besetzungen Estlands hin. Die Eltern sind verschollen, Hans ist im Widerstand und wird von der Polizei der russischen Besatzer gesucht. Er versteckt sich zunächst wie viele seiner Mitstreiter im Wald. Später wird das zu gefährlich, und er hockt sich in eine Kammer, die die beiden Schwestern hinterm Kleiderschrank für ihn bauen. Dabei bleibt es für ihn. Er wird nur noch einmal in ein anderes Versteck im Haus wechseln. Dem Wahnsinn nahe und immer noch auf Amerikaner und Engländer wartend, wird er dort viele Jahre später ersticken, denn Aliide hat die Belüftungsschlitze verklebt.

Man darf das ruhig verraten, obwohl der Roman einen sagenhaften Spannungsaufbau hat, dem man vielleicht eine seiner Pointen nimmt. Wer aber allein auf den Krimi aus ist, für den ist Fegefeuer sowieso nicht das richtige, dazu ist das Buch viel zu anspruchsvoll. Schon im Plot arbeitet dieser Roman grundsätzlich mit der Überforderung. Die Wechselhaftigkeit der verschränkten Schicksale ist atemberaubend und das Finale stellt jeden Tarantino in den Schatten. Dass Aliide den Mann tötet, der ihr Leben ist, muss aber klargestellt werden, denn der deutsche Klappentext schloß mit der Feststellung: „Egal welches politische System auch herrscht, Opfer sind immer die Frauen.“

Äh, stutzt man da: Hallo? Die Toten sind hier mal wieder die Männer, und Hans, die reine Seele, ist nicht der einzige Mann, den Aliide auf vierhundert Seiten umbringt. Zu erzählen, wie und weshalb das geschieht, ist die große Kunst der Sofi Oksanen. Dass sie kein Recht auf die Liebe, auf die Bevorzugung durch einen bestimmten Menschen hat, weiß auch Aliide. Ihr Fehler ist: Sie akzeptiert es nicht. Im Gemeindezentrum nach dem Verbleiben von Hans Pekk verhört, widersteht sie und läßt schließlich im Keller die zu ewartende, auch sexuelle Folter über sich ergehen. Oksanen geht hier nicht etwa zu nah heran. Weil sie über hochglaubwürdige Bilder aus dem Inneren des Opfers berichtet, versteht man, wie Aliide zu dem wird, was die Psychologen eine dissoziative Persönlichkeit nennen. Nur durch Abspaltung des Erlittenen, durch Delegation an eine abgespaltene zweite Persönlichkeit ist ein Weiterleben möglich: „Die Frau mit dem Sack über dem Kopf war eine Fremde, und Aliide war fort, ihr Herz mit kleinen Wurmbeinen in Spalten Löchern Furchen, verschmolz mit der Wurzel, die in der Erde unter dem Zimmer wuchs.“

Es besteht dann die Gefahr, dass diese zweite, fremde Person die Regie übernimmt. Und so kommt es auch. Lesend wird man Zeuge der Verwandlung. Aliide heiratet einen angeblich treuen Funktionär, denunziert ihre Schwester, die daraufhin nach Wladiwostok verbannt wird, und zieht mit ihrem Mann wieder in das Haus der Familie, zu Hans. Ihm gibt sie beruhigende Briefe von ihrer Schwester, die sie freilich selber geschrieben hat. Aliide ist jetzt ein funktionierendes Rädchen im Getriebe des Lügenregimes und der Angst. Am Ende des langen Tanzes um Hans, in dem auch seine Tochter genital gefoltert wurde, scheint Hans in seiner Isolation der einzige, der noch den Versuch macht, bei sich zu bleiben. Sein Tagebuch eröffnet den Roman: „Ich muss versuchen, ein paar Worte zu schreiben, damit ich nicht den Verstand verliere. Dies ist kein Leben für einen Mann. Liide macht dauernd Annäherungsversuche. Sie stinkt nach Zwiebel.“

Draußen haben wir es mit einem vollständig dissoziierten Personal zu tun. Der englische Klappentext spricht denn auch richtig von einem überwältigenden Roman darüber, was wir um des reinen Überlebens willen zu akzeptieren bereit sind, und welches Vermächtnis die schlimmsten Erfahrungen haben. Wir sind nämlich noch gar nicht am Ende. Die Geschichte der sexuellen Gewalt wird bis nach Berlin im Jahr 1992 extrapoliert: Zara, die zum Auftakt in Aliides Garten lag, ist die Enkelin von Aliides verratener Schwester und Hans. Sie hat in Wladiwostok von einem Leben im Westen geträumt: Strumpfhosen, Autos, ein Studium. Gelandet ist sie in der Zwangsprostitution, bei deren Beschreibung Oksanen keinerlei Abstand mehr wahrt. Mit Sperma vom Vortag im Haar muss sie Kunden und ihre Perversionen ertragen, bis sie das nächste Mal zugenäht wird.

Diese Fortführung ist das große Wagnis des Romans. Was mit diesen Kunden los ist, erzählt er nicht mehr. War vorher jeder Akt in der Logik des kranken, diktatorischen Systems und seiner Technik der Enteignung verstehbar, so bleibt man jetzt ratlos vor der Frage, was diese Freier zu ihrem Hass und ihrer Kriminalität treibt. Als ob es keine politische Entwicklung gegeben hätte, sind sie offenbar ebenso außer sich wie Aliide. Aber wieso? Fragen darf ein Roman stellen, und diese allemal. Sie ist längst überfällig. Man sollte wirklich nicht von ihr ablenken.

Auf ihrer Lesung in Berlin hat sich Sofi Oksanen dem Publikum gegenüber aber leider eine Unhöflichkeit geleistet, die es nicht vermied, hochmütig zu wirken. In der kurzen Diskussion zur Prostitution gab sie nur eine Banalität von sich. Interesse war nicht zu erkennen. Vielleicht wähnt sie sich, ganz wie ihr Verlag, bei den Frauen einfach schon auf der richtigen Seite. Das hätte mit Kunst nichts zu tun, mit Schäbigkeit viel. Der Versuch, hier wohlfeilen, uralten Männerhass und die ewige Opferrolle der Frau verkaufsfördernd in den Vordergrund zu stellen, ist empörend. Aber der Feminismus ist eben längst selbst eine Ideologie, die nur noch um ihr eigenes Überleben kämpft, dazu einen Gegner braucht und den Menschen aus den Augen verloren hat.

Zum Glück lässt der Roman diese Vereinnahmung gar nicht zu. „Fegefeuer“ ist ein kühner, grandios geschriebener und auch perfekt übersetzter Roman zur rechten Zeit. Man kann ihn neben Imre Kertész ins Regal stellen. Dass Verlag und Autorin ihrem Publikum nicht zutrauen, das zu erkennen, ist echt dämlich.

Text: Ralf Bönt

Mehr von und über Ralf Bönt  finden Sie auf seiner website ralf-boent.de

Text erschienen in Frankfurter Rundschau, 18.10.2010


 

 

Sofi Oksanen: Fegefeuer

Roman. Aus dem Finnischen von Angela Plöge. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010,

400 Seiten, 19,95 Euro

 

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