Mit einem Mal scheint da, wie man so sagt, ein Damm gebrochen. Es ist nicht ein skandalöser Fall von Missbrauch, nicht eine Institution, nicht eine einzelne pädagogische Kultur – wir wären kurz davor, den Missbrauch als Wesen unseres pädagogischen Systems zu erkennen. Aber dann: Ja, das war damals, in den finsteren Jahren des Wirtschaftswunders, als unsere Pädagogik noch schwarz war und wir ans Schweigen und Wegsehen noch gewohnt. So scheint das alles vor allem ein Projekt der psychosozialen Vergangenheitsbewältigung.
Der Pädophile, so haben wir nun die Botschaft aus der Wissenschaft vom Menschen und seiner Monstrosität empfangen, ist kein Sünder, der einer Versuchung unterliegt oder ein isoliertes Verbrechen begeht. Er kann offenbar nicht anders. Er ist eine lebende Zeitbombe, der wir abverlangen, wovon wir den sexuellen Mainstream weitgehend befreit haben: Repression, Verdrängung, Kontrolle, vielleicht, wenn es mit dem Kopf allein nicht geht, mit Einsatz von Skalpellen oder Chemikalien.
Illusionslose Therapie-Angebote, wie sie die Berliner Charité anbietet, sind eine notwendige pragmatische Maßnahme. Nicht Heilung, nur Kontrolle können sie anbieten. Jedes einzelne Kind, das vor dem pädophilen Übergriff bewahrt wird, ist noch jede noch so mühsame und langwierige Arbeit mit dem potenziellen Täter wert. Aber das ändert nichts daran, dass der Pädophile eine fundamentale Frage an die Gesellschaft stellt. Sie hat zwei Seiten. Erstens: Was ist dieses Monster? Ein Kranker? Ein Verbrecher? Und zweitens: Wie und warum gelingt es der Verbindung von Sexualität und Gewalt dem Kind gegenüber immer wieder, sich sozial zu institutionalisieren? In der Maskerade der schwarzen Pädagogik hier, in der der Fürsorge dort. Als perfekte Rechtfertigung hier, als perfektes Vertuschen dort.
Die Schule ist der Ort, an dem Kinder keine Chance zur Flucht haben. Und natürlich verschärfen das Internat, ob als Privileg oder Strafe, das Heim und jedes andere geschlossene pädagogische System diese Situation. Der pädophile Pädagoge der alten Art benutzte das System. Seine Gier und seine Gewalt waren Teil der Hierarchie, die auch außerhalb der Institution fraglos akzeptiert wurde. Eine Schule ist kein demokratischer Ort, nicht wahr, also auch kein Ort der sozialen Kontrolle.
Der pädophile Pädagoge der neuen Art bietet ein anderes Muster. Er ist eher der nette, der verständnisvolle, der für Moden und Jargons Auge und Ohr hat. Er ist in der richtigen Partei, in den richtigen Vereinen und engagiert in den richtigen Events von Wohltätigkeit und Nachbarschaftlichkeit. Damit erweitert er nicht nur den Raum seiner Macht gegenüber dem Opfer, sondern vor allem auch die Macht zum Vertuschen und Verschweigen, er erweitert auch sein Jagdrevier.
Das Beuteschema des Monsters ist klar: Es ist das isolierte, unsichere Kind, das auf der Suche nach etwas ist, was es woanders, zuhause zum Beispiel, nicht bekommt: Zuwendung, Geborgenheit, Aufmunterung.
Besorgte Eltern, die die Gerüchte um das Monster auffangen, versuchen nun Aufklärung zu erlangen, versuchen ihre Kinder zu schützen, versuchen zu warnen, und wenn die Übergriffe des Monsters offensichtlich sind, versuchen die mutigsten von ihnen sogar, das Monster anzugreifen. Und nun geschieht etwas, was beinahe so grauenvoll ist wie der Missbrauch selber: Ein Schutzwall entsteht um das Monster, gebildet aus seinen politischen und institutionellen Verbündeten, aus Einschüchterungen gegenüber den Opfern. Aber der Schutzwall um das Monster besteht auch aus einer anderen Fraktion der Eltern, die sich gegen die Störung, gegen die „Nestbeschmutzer“, gegen die Opfer schließlich richten.
Das Monster, wie gesagt, ist es erst durch die Sichtbarkeit. In dieser Phase kann das Monster seine Untaten gleichsam als offenes Geheimnis begehen. Der Minderheitsfraktion, die sich zum Schutz der Opfer fand, bleibt nur der Rückzug: die eigenen Kinder in Sicherheit bringen. Das System sich selbst überlassen. Schweigen. Wir arbeiten gerade so vehement an einer vergangenen Form der institutionalisierten Gewalt-Pädophilie. Sie war verbunden mit einem alten System im neuen, und in einer Gesellschaft, die sich gerade „aufbaute“, war ein Blick in diesen Abgrund nur lästig.
Gewiss: Der Horrorvorstellung vom Missbrauch steht die Gegen-Horrorvorstellung des Missbrauchs des Missbrauchs gegenüber. Ebenso wahrscheinlich, wie es ist, dass ein pädophiler Pädagoge jahrzehntelang entweder unerkannt oder aber gar als „offenes Geheimnis“ sein Unwesen treibt, so wahrscheinlich ist es, dass ein missliebiger, querulatorischer oder sonst wie lästiger Pädagoge durch das gezielte Streuen eines Pädophilie-Gerüchtes verjagt oder ruiniert werden kann. Beide Horrorvorstellungen sind Teil desselben Systems, nämlich der Organisation von Machtbeziehungen in einem ausweglosen Raum.
Zwischen dem alten und dem neuen Diskurs des Missbrauchs und der Misshandlung liegt eine mythische Zäsur, eine kurze Zeit, in der man von „antiautoritärer“ Erziehung träumte. Sosehr man sich von der Verbindung von Gewalt und Sexualität graut, die sich institutionell entfalten kann, so sehr hat man sich an die Verachtung dieses Impulses zur fundamentalen Veränderung, gar der Demokratisierung der Schulen gewöhnt. War das nicht jene Pädagogik, die Kindern alles „durchgehen“ ließ und für alles Verständnis zeigte – die statt die Kinder durch die Lehrer die Lehrer durch die Kinder terrorisieren ließ?
Fort die Erinnerung, dass es nicht um eine bloße Neuverteilung von Macht und Ohnmacht ging, sondern von der Arbeit an Beziehungen ohne Macht. Das war ja nicht ohne Konflikte zu haben. Antiautoritäre Erziehung war nichts für Feiglinge, auf beiden Seiten, und mit einem Laisser-faire hatte sie nichts zu tun. Wir haben beschlossen, diese Experimente einzustellen oder sie ein paar elitären oder esoterischen Nischen zu überlassen (wo man vor dem Missbrauch und der Misshandlung nicht sicher ist). Die Mittel zur Verteilung von Macht und Ohnmacht in der Schule haben sich geändert, man quält einander mit anderen Mitteln. Das ist alles.
Text: Georg Seeßlen
Text erschienen: 09.03.2010 , taz
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