Die BERLINALE Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ umfasste dieses Jahr vier Spiel- und vier Dokumentarfilme aus insgesamt über 200 angemeldeten Arbeiten. Sechs der acht ausgesuchten Debutfilme wurden von Frauen inszeniert. Das ist toll, ebenso wie die Tatsache, dass diese Filme erstmalig auch in einem festlicheren Rahmen präsentiert wurden, im wohl schönsten Kino der BERLINALE, im INTERNATIONAL.
„Garagenvolk“ ein Dokumentarfilm von Natalija Yefimkina erhielt jetzt den in dieser Sektion mit 5.000 Euro dotierten Heiner-Carow-Preis.
„Garagenvolk“, der Titel klingt schon befremdlich. Irgendwo in der Nähe eines Bergarbeiter-Ortes im Norden von Russland befindet sich eine riesige Ansammlung sauber aufgereihter Garagen. Allerdings, und das ist das Irritierende, steht hinter keiner der rostigen Türen ein Auto. Sondern jede der einzelnen Garagen ist eine Art „Wunschbehälter“ bzw. ein Refugium. Hier leben russische Männer mit viel Erfindergeist und Zähigkeit ihre großen und kleinen Träume.
Wir lernen zum Beispiel Pawel kennen, der Heiligenfiguren und Ikonen schnitzt. Dann und wann erhält er Aufträge bzw. Besuche des Popen, der ihm bei der Gelegenheit auch gleich die Gretchenfrage stellt. Oder Roman, der eine Wachtelzucht in seiner Garage unterhält. Er ist genau so skurill wie Viktor, der sich nun schon in der zweiten Generation Etage um Etage nach unten ins Erdreich buddelt, vollkommen sinnfrei, aber mit großer Emphase. Und so beinhaltet jede der Garagen ein Leben, eine eigene Welt, ein kleines privates Universum.
Ähnlich wie hierzulande vielleicht in Kleingartenkolonien, wird auch hier zusammen gesessen, diskutiert, gegessen und vor allem getrunken. Dann erzählt man sich von den großen und kleinen Sorgen, Sehnsüchten und Träumen, von Liebe, Krankheit, Freundschaft.
Die Regisseurin Natalija Yefimkina sammelt Eindrücke, lässt ihre Protagonisten frei erzählen, montiert Geschichte an Geschichte. Ein verborgener, ungewöhnlicher, zuweilen irritierender Mikrokosmos wird hier vorgestellt. Ein Film, der auf jeden Fall in Erinnerung bleibt.
Der Eröffnungsfilm der Reihe war ein Spielfilm, „Kids Run“ von Barbara Ott. Erzählt wird die Geschichte eines Mannes, Andi, dessen desolate Situation mit dem Leben dreier Kinder und zweier Frauen verknüpft ist. Andi arbeitet als Tagelöhner auf dem Bau, wird dort jedoch entlassen, weil er nie pünktlich zur Arbeit kommt. So hofft er als Preisboxer zu Geld zu kommen. Er schuldet seinem Vermieter viel Geld und auch seine verflossene Liebe würde er gerne zurückgewinnen. Beeindruckend sind die Schauspieler, allen voran Jannis Niewöhner. Der Wechsel zwischen brutalen und zarten Szenen gibt dem Film anfänglich durchaus seinen Reiz. Nur beginnt alles leider immer wieder von vorne. Dem Film fehlt eindeutig eine durchdachte Dramaturgie. Ohne eigentliche Höhepunkte, ohne Verdichtungen, stolpert der Held von einem Ungemach ins Nächste. Ein bisschen Milieu „Systemsprenger“, ein bisschen „Raging Bull“, das ist dann doch zu wenig für 104 Minuten.
„Schlaf“, das Spielfilmdebut von Michael Venus, ist ein verwirrender Mix aus Heimat- und Horrorfilm. Mona (Sandra Hüller) plagen Zeit ihres Lebens Alpträume, in denen u.a. immer wieder Wildschweine wüten. Irgendwann macht sie den Ort dieser Schrecken ausfindig, ein Dorf im Harz. Mona reist dorthin, mietet sich in einem düster- verwinkelten Hotel ein, fällt aber alsbald ins Koma, weil der Horror sie überwältigt. Als die Tochter (Gro Swantje Kohlhof) kein Lebenszeichen ihrer Mutter mehr erhält, macht auch sie sich auf den Weg, um dem „Familienfluch“ endlich auf die Schliche zu kommen. Dabei kommt sie in gefährliche Situationen, lernt jedoch auch einen smarten Begleiter kennen.
Verschiedene Zeitebenen überlagern sich, einige skurille Szenen sind dabei durchaus gelungen, insgesamt aber bleiben die Figuren (auch die vielen merkwürdigen Dorfbewohner) leer, nicht groß weiterentwickelt. Alles ist zu sehr auf Rätsel und Effekt hin getrimmt und nur weil Sandra Hüller mitspielt nimmt man diesen Film überhaupt war. Der Horror bleibt dann auch immer noch gerade so, dass der Film in der Primetime im Fernsehen laufen könnte.
„Walchensee Forever“, wieder ein Dokumentarfilm, erzählt die Familiengeschichte der Regisseurin Janna Ji Wonders über 100 Jahre, über fünf Generationen. Fotografien, Tagebucheintragungen, Briefe, neues und altes Filmmaterial, vor allem aber Gespräche mit ihrer Mutter, Anna Werner, montiert die Regisseurin so klug, dass darüber ein Erzählbogen entsteht, der ein Stück deutsche Geschichte sichtbar macht.
Da ist der Großvater, der nach dem Krieg nie mehr der Alte war, und die Familie verläßt, auch weil seine Frau (Norma) sich gegen ihn und für den Walchensee entschied. Dort führte bereits deren Mutter die schöne Gaststätte mit der herrlichen Aussicht auf die Berge und den See. Norma wird ihr ganzes Leben am Walchensee bleiben, während ihre beiden Töchter, Anna und Frauke, in die Welt hinaus ziehen. In bayrischen Trachten, jodelnd und mit Hackbrett reisen sie durch Mexiko, machen Drogenerfahrungen und Selbstfindungsreisen in indischen Ashrams und auf griechischen Inseln. Es sind die wilden Hippiejahre. „In“ ist die sexuelle Befreiung, die für Anna in der Kommune von Rainer Langhans endet, die jedoch weniger als sexuelle denn als spirituelle Erfahrung erinnert wird. Frauke überlebt die Hippiezeit nicht, sie zerbricht an ihr und begeht Selbstmord. Wenn Anna sich an ihre Schwester erinnert, ist das einer der traurigsten Momente des Films. Was ist Heimat? Wo will ich hin, wo komme ich her? Das sind die zentralen Fragen, die die Regisseurin gekonnt verfolgt. Ein ruhiger, unaufgeregter Film, der im Januar bereits mit dem bayrischen Filmpreis ausgezeichnet wurde und der ein Anstoß ist sich selbst (mal wieder) mit der eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen.
„Automotive“. Jonas Held nähert sich der Arbeitswelt von Audi über zwei Frauen, die beruflich und vom Typ her nicht unterschiedlicher sein könnten. Sedanur, eine junge Frau mit türkischen Wurzeln, die bekleidet mit Sicherheitsweste am Fließband Autoteile für die Roboter vorsortiert, und Eva die Headhunterin. Sie sitzt in ihren super teuren Klamotten in einem Büro, um am Telefon Experten für die Logistikzentren von Audi zu rekurrieren. Denn weltweit entstehen sogenannte Smart Factories, Fabriken, die ohne Menschen funktionieren.
Während Eva eventuell schon dabei ist Sedanurs Arbeitsplatz wegzurationalisieren, ist ihr selbst durchaus bewusst, dass sie eines Tages durch Algorithmen ersetzt wird. Sedanur hingegen hofft nach ihrer Ausbildung zur Gabelstaplerfahrerin einen festen Arbeitsvertrag bei Audi zu bekommen. Ansonsten träumt sie weder von einer eigenen Familie, noch von einem Mann, sondern von einem niegelnagelneuen Mercedes. Eva hingegen will irgendwann mit ihrer Lebensgefährtin ein Hotel in der Karibik aufmachen.
Zwei ungleiche Vertreterinnen einer Generation, in der früher oder später jeder ersetzt wird, sollen beispielhaft dafür stehen, dass Arbeit in sehr naher Zukunft nicht mehr identitätsstiftend sein wird. Eine große Frage, aus der man mehr hätte machen können als zwei doch eher bieder geratene Portrais junger Frauen.
„Der deutsche Film ist mit seinen Drehorten internationaler geworden, er ist technisch perfekter, aber dramaturgisch und visuell nicht unbedingt experimentierfreudiger oder aufregender geworden“, so Programmleiterin Linda Söffker. Woran das genauer liegt, das würde mich dann doch auch interessieren.
Daniela Kloock
Bild ganz oben: Garagenvolk | Garage People von Natalija Yefimkina | DEU 2020, Perspektive Deutsches Kino | © Axel Schneppat/Tamtam Film
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