„Biete Welt!“ so lautet der Lockruf von „Madame X“, einer scharfen Lady im Lederdress. Wer dabei allerdings an Madonna (Louise Ciccone) denkt, ist auf dem falschen Dampfer. Denn hier handelt es sich um „Madame X“ aus dem gleichnamigen Film von Ulrike Ottinger. Über vierzig Jahre ist es her, dass der „absoluten Herrscherin“ eine disparate Gruppe von Frauen folgte, die als abenteuerliche Piratinnen in See stechen. Auf einer Dschunke – die eigentlich das chinesische Meer befahren sollte, aber aus Kostengründen auf dem heimatlichen Bodensee schaukelt – spielt der Film. Der lustvoll-lesbische Reigen (Kostüme und Hauptfigur: Tabea Blumenschein) kennt dabei keinerlei Tabus, zelebriert zuweilen komisch verzerrte Liebes-, Macht- und Tötungsrituale. Und statt erklärender Dialoge oder Kommentare liefert die Tonspur einen skurrilen, asynchronen Sound-Teppich. 
Aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar, wie harsch die Kritik zu diesem – heute würde man sagen „queeren“ – Film, vor allem aus feministischer Sicht, ausfiel. Zu provokant, zu schwer einzuordnen war das, was Ulrike Ottinger offerierte. Doch es gab wichtige Gegenstimmen. Karsten Witte z.B., einer der wohl renommiertesten Filmkritiker jener Zeit, äußerte sich begeistert. Der Film zeige, wie der „Diskurs über die Herrschaft der Träume“ erfolgreich gestört werden könne. Damit ist nicht weniger gemeint, als dass Ulrike Ottinger dabei war das Kino neu zu erfinden.

Ulrike Ottinger bei der Ausstellungseröffnung, © Silke Briel / HKW

Unbeirrt folgte die Künstlerin ihrer Reise- und Entdeckerlust, ihren Phantasien und Einfällen. Immer geht es um Unerwartetes, um Störendes, um Verfremdungen und Irritationen der Wahrnehmung. Jenseits von konventionellen ästhetischen Umsetzungen, von Geschlechterstereotypisierungen, jenseits von bekannten Mustern oder Narrativen entstanden bisher über zweiundzwanzig Filme. Ihre Produktivität ist überbordend: Opern- und Theaterinszenierungen und unzählige Ausstellungen ihrer Fotografien, (Dreh-)Bücher, Bilder und Texte. Ob in Venedig, Wien oder London, Buenos Aires, New York oder Tel Aviv, an Ulrike Ottinger kommt niemand vorbei. Eine unermüdliche „Traumfabrikantin“ ist sie, eine wagemutige Reisende, deren künstlerische Zauberschachtel sich nie zu leeren scheint.

Einmal mehr beweist dies die derzeitige Ausstellung „Paris Calligrammes“ im Haus der Kulturen der Welt (HKW). Diesmal jedoch führt Ulrike Ottinger uns nicht in ferne, fremde Welten, sondern in ihre eigene Vergangenheit: das Paris der 1960er Jahre. Aus der komfortablen Bodenseeidylle war sie 1961 in die französische Metropole gezogen. Hier sammelte sie Eindrücke und Impulse, hier kam sie mit all dem in Kontakt, was in den folgenden Jahren ihre künstlerische Produktivität beeinflusste. Die Ausstellung gibt somit nicht nur einen Einblick in die Arbeitsweise der Künstlerin, sondern funktioniert auch wie eine Art Soziogramm der damaligen Zeit. Gleichzeitig wirkt sie überraschend gegenwärtig – was vor allem mit den politischen Themen zusammenhängt. Die in klarem filzartigen Blau ausgeschlagenen Räume fokussieren drei Schwerpunkte: die prägenden Begegnungen, das ethnologische Studium und die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Vermächtnis Frankreichs.

Ausstellungsansicht, © Silke Briel / HKW

Die „Librairie Calligrammes“ war ein wichtiger Ort für das intellektuelle Pariser Leben. Der Name erklärte sich darüber, dass an der äußeren Ladenfront eine Uhr angebracht war, deren Ziffern von den zwölf Buchstaben des Wortes „Calligrammes“ gebildet wurden. Die Buchhandlung gehörte dem jüdischen Emigranten Fritz Picard. Er sammelte und handelte nicht nur mit wertvollen antiquarischen Büchern, die sich bis zur Decke türmten, sondern seine Buchhandlung war auch ein kultureller „hot spot“. Hier trafen sich deutsche Emigranten, junge Franzosen, Avantgardisten aus Literatur und Kunst. Hannah Arendt, Claire Goll, Paul Celan, Manes Sperber, Walter Mehring, um nur einige der ganz großen Namen zu nennen, hielten Lesungen ab, gingen in Picards Bücherhöhle und Wohnung ein und aus. Er selbst kam ursprünglich – wie Ottinger – aus Konstanz am Bodensee und war bereits mit den Eltern der Filmemacherin bekannt. Der erste Raum der Ausstellung führt in diese Welt, zeigt ein nachgebautes Schaufenster der „Librairie“ mit den Büchern, die Ulrike Ottinger damals gelesen hat. Auf einem Monitor Ausschnitte aus der Literatur und gegenüber eine Art Wandzeitung mit einem Dreh-Buch- Überblick über den gleichnamigen Film „Paris Caligrammes“, der in Produktion ist. 

In Paris verstand sich Ulrike Ottinger noch als Malerin. Es entstanden zahlreiche Acryl-Bilder, die an die Pop Art angelehnt sind – auf den ersten Blick an Werke von Roy Lichtenstein oder Andy Warhol erinnern. Comicartige Aneinanderreihungen in der für die damalige Zeit typischen Farbigkeit. Doch bereits hier fallen Muster und Grammatiken auf, die sich später in den Filmen wiederfinden. Allgemeine Themen werden mit individuellen Assoziationen verbunden. Manches lässt sich leicht dechiffrieren, anderes bleibt rätselhaft. Aus dieser Werkgruppe hat Ulrike Ottinger 23 Bilder für den zentralen Raum der Ausstellung ausgewählt. Doch diese werden verwandelt. So wie sich Erinnerungen im Lauf der Zeit ändern, wollte Ulrike Ottinger auch diese Bilder einer Veränderung unterziehen. Für „Paris Calligrammes“ wurden sie verstofflicht. Und das ist wörtlich zu nehmen. Tagelang surrten im Foyer des HKW die Nähmaschinen, um die Gemälde einem Transformationsprozess zu unterziehen, sie ins Plastische zu übersetzen. Allen Ginsberg, Tristan Tzara, Walter Mehring oder Valeska Gert – die Künstlerin kannte sie alle – erscheinen nun textil, in neuen Farben. Am liebsten würde man die Bilderteppiche berühren. Dergestalt haptisch näher gebracht entwickeln sie eine völlig neue auratische Kraft.

Wenn „Menschsein heißt Leben mit Stoff“ (so die Textilforscherin Beverly Gordon), dann verdeutlicht diesen Gedanken kaum eine andere Künstlerin so direkt und so kontinuierlich wie Ulrike Ottinger. Immer schon spielen Stoffe eine wichtige Rolle. Ob das die opulenten Kostüme oder Dekors in den sogenannten Spielfilmen sind, oder die Beschäftigung mit dem Thema Bekleidung und Behausung in den eher dokumentarischen Filmen, in den Installationen oder Fotografien. Dabei geht es häufig nicht nur um ästhetische, sondern um kulturelle Komponenten. Kleider, Stoffe, Teppiche sind kulturelle Gedächtnisse, sind Tauschobjekte, sind Aufzeichnungs- und Kommunikationssysteme – wertvolle Gewänder ebenso wie bunte Fetzen an animistischen Opferstätten. Nicht zuletzt begeistern Ulrike Ottinger seit ihrer Kindheit auch die aus Filz hergestellten Jurten der Mongolen oder anderer Hirten- und Wandervölker, die es sich bis heute nicht auf Couchgarnituren bequem machen konnten oder wollten. 

Ulrike Ottinger vor ihrem Werk Allen Gin sberg, Paris, 1965, Foto: privat

Dieser ethnologische Blick verweist auf einen weiteren Berührungspunkt, der durch die „Pariser Lehrjahre“ initiiert wurde. Denn Ulrike Ottinger hat in diesem Lebensabschnitt nicht nur Berühmtheiten der Literatur und Philosophie bei Picard kennengelernt und in der Cinémathèque française ihre Liebe zum Kino entdeckt, sondern sie besuchte auch Vorlesungen an der Sorbonne. Die Theorien von Claude Lévi-Strauss oder Pierre Bourdieu passten zu ihrer Reise- und Entdeckerlust. Vor allem Letzterer war es, durch den sie eine ganz spezifische Art des Blicks kennenlernte. Seine Theorie der „Priorität des Gegenstandes“ wurde für die Künstlerin ebenso „stilbildend“ wie Bourdieus Hang, das Ernsthafte mit dem Trivialen oder Komischen zu verknüpfen. Ab diesem Zeitpunkt sollte die Beschäftigung mit kulturellen Praktiken, Riten und Regeln wichtig werden – und die Fotografie erwies sich als das beste Medium der ethnologischen Erkundung. 
In einem der beiden seitlichen Kabinette der Ausstellung wird an Pierre Bourdieu erinnert. Es läuft ein Video, auf dem der Soziologe spricht und Fotografien aus seinem Archiv sind zu sehen, welches er ähnlich wie Ottinger, erst sehr spät zu öffnen bereit war. Bourdieu, der seinen Wehrdienst im verhassten algerischen Kolonialkrieg ableisten musste, war danach noch weitere zwei Jahre in Algerien geblieben. Für seinen Feldforschungen entdeckte er die Fotografie. Tausende mittelformatige schwarz-weiss Bilder sind dabei entstanden. Die Ausstellung zeigt einige Straßen- und Alltagsszenen, aber auch Bilder der gezielten Vertreibung der Bauern aus der Kabylei. Ihrer ländlichen Umgebung entrissen, wurden sie in monotonen siedlungsartigen Lagern untergebracht. Die „entbäuerlichten Bauern“ (Bourdieu) waren damit für die Kolonialmacht kontrollierbar. Ähnliches geschieht nach wie vor überall auf der Welt.

Ebenso genau komponiert und eindrucksvoll sind die schwarz-weiss Fotografien von Ré Soupault an der gegenüberliegenden Wand. Der berühmten Bauhausschülerin und begnadeten Fotografin war Ulrike Ottinger ebenfalls begegnet. Das koloniale Erbe Frankreichs bleibt auch das Thema des letzten Kabinetts. Hier kann man einem gleichermaßen auflockernden wie erhellenden Gespräch folgen. Jacques Lanzmann und Jean Rouch philosophieren im Plauderton über den Tarzan-Mythos, gegenüber sind von Ulrike Ottinger arrangierte Archivaufnahmen zum Thema Militarismus und Kolonialismus zu sehen und eine Foto-Kollektion eigener Fundstücke bei der Suche nach Gebäuden und Straßen, wo das Koloniale in Paris nach wie vor sichtbar ist. 

So gleicht die ganze Ausstellung einem Flanieren durch Zeiten und Räume, durch Vergangenes und Gegenwärtiges, hält schwere und leichtere Kost bereit. Man wandelt durch eine bildgewordene Konzentration und ein Gefüge, welches sich gern widersetzt: dem Tempo, der Unverbindlichkeit, der Oberflächlichkeit. Den Abschluss bildet die Projektion einer Pariser Passage, der „Passage de Grand cerf“, wo Ulrike Ottingers Filmkamera Alltagsszenen festhält. Dies sei auch der Weg für den Notausgang, erklärt sie lachend. Möge sie uns weiterhin überraschen!

Daniela Kloock

film still | aus Trailer zur Ausstellung

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AUSSTELLUNG

Ulrike Ottinger: Paris Calligrammes. Eine Erinnerungslandschaft. Haus der Kulturen der Welt, Berlin, bis 13. Oktober. Montags Eintritt frei. Es gibt ein Begleitprogramm mit Filmen und Gesprächen.

Haus der Kulturen der Welt
John-Foster-Dulles-Allee 10
10557 Berlin


www.hkw.de

Neue Öffnungszeiten im HKW: Mi–Mo 12–19h, Do 12–22h, Di geschlossen
Tickets (inkl. Zweitbesuch): 5€/3€, Mo & unter 16 Jahren: Eintritt frei

Mehr Informationen (Programm/Filme) und Tickets: https://www.hkw.de/en/paris

PARIS CALLIGRAMMES