Überhaupt kein Märchen: Eine angesehen spleenige Universität der Künste in einer großen deutschen Stadt sucht eine Halbtagskraft für ein vom Bundesministerium für Forschung und Bildung unterstütztes Großprojekt „Organisations- und Persönlichkeitsentwicklung nach dem Heldenprinzip“. In diesem Projekt soll u.a. eine gewaltige Datenbank über die Mythen der Welt erstellt werden, die Unternehmen eine Leitlinie für „Veränderungsprozesse in der Wirtschaft“ bieten könnte. Dabei sollen die alten Mythen die leitenden Angestellten nicht dazu inspirieren, bspw. ihre Väter zu kastrieren, ihre Kinder zu verspeisen oder sich mit Seeungeheuern zu paaren, sondern sie werden nach dem Prinzip der „Heldenreise“ ausgewertet, einer narrativen Blaupause, die der Filmdramaturg Christopher Vogler aus den Ideen des Mythenforschers Joseph Campbell herausdestilliert hat, und das in der deutschen Medienbranche mittlerweile als herrschendes Dogma gilt. Bruchlos in die Realität übertragen würden Voglers Ideen entweder den Unternehmen dazu raten, die Regierung zu stürzen und Konkurrenten als das eigene verdrängte Böse zu bekämpfen, oder allen Mitarbeitern, gegen ihre Vorgesetzten zu revoltieren und ihre Kollegen als hilfreiche, letztendlich entbehrliche Sidekicks oder wiederum als ihre eigene dunkle Seite zu sehen. Die „Transformation“ dieses Grundmusters „erhöht die Kompetenz aller Beteiligten, vertrauensvoll, selbstverantwortlich und motiviert mit Veränderung und Innovation in heutigen Unternehmensprozessen umzugehen.“
Was ist die „Heldenreise“, warum ist sie so einflussreich, und warum ist sie ein Problem?
1948 veröffentlichte der Jungianer Jospeh Campbell sein Standartwerk „The hero with a thousand faces“ („Der Heros in tausend Gestalten“), ein ambitionierter Entwurf, hinter Hunderten von überlieferten „großen Erzählungen“ vergangener Kulturen die eine, immer wieder erzählte Geschichte zu entdecken: den so genannten „Monomythos“. Ende der 70er Jahre stieß der in die verschiedenen Drehbuchfassungen von Star Wars verstrickte George Lucas auf das anerkannte, aber wenig populäre Werk (gerüchteweise machte ihn Francis Ford Coppola darauf aufmerksam) und erzählte auch seinem Freund Steven Spielberg davon. Lucas und Spielberg galten bald darauf als die erfolgreichsten Filmemacher aller Zeiten, und da sich Lucas ostentativ zu Campbell bekannte, wurde der greise Gelehrte in Amerika eine Berühmtheit (manche Ausgaben seines Hauptwerks hatten Darth Vader auf dem Cover). Christopher Vogler, ein Dramaturg bei Disney, machte die Branche auf Campbell als mögliche Erklärung für den Erfolg von Lucas und Spielberg aufmerksam, war als Campbells Apologet am furiosen Comeback des Trickfilmkonzerns Ende der 80er Jahre beteiligt und brach schließlich in seinem Buch „A writer`s journey“ („Die Odysee des Drehbuchschreibers“) Campbells „Monomythos“ zur „Heldenreise“ herunter, einer achtstufigen Matrix emotional befriedigender Drehbücher, die sich praktischerweise mit dem schon weitgehend durchgesetzten „Acht Sequenzen – Modell“ des bedeutenden Drehbuchlehrers Frank Daniels kombinieren ließ. Voglers Modell war immens einflussreich. Doch trotz anfänglicher Skepsis (ein tiefenpsychologischer Ansatz mit dem schnöden Film galt lange und gilt hier und da immer noch als typisch amerikanische Verstiegenheit und Ablenkung vom harten Geschäft) wurde die Heldenreise schließlich nirgendwo ernster genommen als in Deutschland.
Auch kein Märchen: Eine medieninvolvierte Freundin am Telefon über ihr Privatleben: „Ich bin in der siebten Sequenz, und jetzt müsste sich eigentlich eine neue Lösung abzeichnen. Aber es kommt keine.“ Schnelle Antwort: „Vermutlich bist du erst in der dritten Sequenz und solltest von deinen alten Verhaltensweisen ablassen.“ Warum nicht?
Campbells Monomythos sieht hinter Mythen, Legenden, Heilsgeschichten und Sagen,- Märchen interessieren ihn als unheroische Kleinform tendenziell erst einmal genau so wenig wie individuell zuschreibbare Literatur, und in späteren Büchern vor allem als Brechung des Monomythos – folgende Urerzählung am Werk: Ein potentieller Held in einer öden, brach liegenden Welt erkennt widerwillig seine Bestimmung, macht sich auf in ein fremdes Land, bezwingt dort einen bösen Doppelgänger seiner selbst und erlangt einen magischen Schatz (die Fähigkeit zum Neubeginn), mit dem er unter Verlusten in die Heimat zurückkehrt.
Geprägt ist diese Geschichte von C. G. Jungs ehrenwerter Vorstellung der „Individuation“, der Selbstverwirklichung des Menschen für das allgemeine Gute nach der mutigen Konfrontation mit der freiwilligen eigenen Beschränktheit und dem eigenen Unbewussten.
Der nächstliegende Einwand gegen Campbell wurde von seiner brillanten Schülerin Karen Armstrong diskret angedeutet: die meisten alten Mythen enden zwiespältig (Tragik ist das äußerste, was Campbell an Brechung akzeptiert). Die wenigsten großen Erzählungen lassen ethische Werturteile zu, sondern sind ein Versuch, die harschen Ambivalenzen der Welt als sinnhaltig und tröstlich zu erleben. Zwar geht es für das Publikum immer um das Akzeptieren einer Veränderung und einen Neubeginn, aber Helden und Götter bleiben mindestens bis zur Entwicklung der monotheistischen Religionen dubios und sind nur selten dessen Nutznießer. Die durchaus vorhandene tragische Seite des Monomythos ist von Campbell allerdings selber nur verhalten entwickelt worden und führt, in Film übersetzt, im besten Fall zum etwas magenkranken Ende von Apocalypse now, im Schlechteren zu den neueren Star wars – Filmen.
Der Autor Jamaike Highwater führt in seinem Buch „Freaks“ schwereres Geschütz auf: Campbell und seine Schüler würden unter den Tisch fallen lassen, was ihnen nicht in den Kram passe, in vielen Mythen stünde am Ende keineswegs eine siegreiche Heimkehr, sondern ein radikaler Neubeginn, verschiedene Mythen besäßen verschiedene Botschaften, der durchaus sympathische Campbell und seine weniger sympathischen Schüler würden faktisch lediglich mit Klauen und Zähnen die absterbende Weltsicht Normamerikas verteidigen;- der Monomythos sei eine grobe Verfälschung und bspw. nicht für homosexuelle amerikanische Ureinwohner wie Highwater gemacht (der diese Kategorien gleichzeitig ablehne).
Vogler geht noch mehrere Schritte weiter als Campbell: Auf der einen Seite demokratisiert er dessen Grundideen: Die zeitlgleich zu Campbells Klage über den Verlust an mythischer Substanz aufgeführten Screwball – comedys oder alltagsnahen Thriller sind für ihn voll gültige Variationen über den Monomythos, wie auch heutige Jungianer eine gelungene Individuation auch am Mut zu einer Verliebtheit festmachen und nicht unbedingt an einer Lebensgeschichte voller epochemachender Fehler, Entdeckungen, Kehrtwendungen und Erlösungen wie im Falle C. G. Jungs. Dies hat aber als vermutlich unbeabsichtigten Nebeneffekt, dass Vogler das Lob des Tüchtigen, vor dem Jung wie Campbell ja gerade fliehen wollten, noch einmal als große Erzählung unserer Kultur bestätigt. Alles lässt sich als Heldenreise erzählen, solange nur die dramaturgischen Scharniere richtig sitzen. Die zurrt die Heldenreise allerdings so fest wie jede mechanischere Drehbuchlehre. Der Mord an einer alten Frau 20 Minuten später im Film und nach ein paar aufwühlenden Gesprächen mit Freunden, und der Anti – Held ist ein tragischer Held.
Die Fortführung davon erleben wir in der dramaturgischen Gestaltung von Castingshows, von Medienkampagnen über Eisbären und nicht zuletzt in der amerikanischen Außenpolitik: eine Kriegsniederlage ist einfach nur der Dämpfer im zweiten Akt, der einen größeren Einsatz erfordert, oder bestenfalls der falsche Schluss am Anfang des dritten, der nachdenklich zu einem neuen Dreh einlädt, der das Happyend bringen wird.
Tatsächlich führen Jung, Campbell und Vogler alle schweres protestantisches Gepäck mit sich, ohne es unbedingt zu wissen. C. G. Jung schreibt immer wieder davon, dass die Individuation nicht für jeden sei, sondern nur für einige gepeinigte Auserwählte, die ihrem Ruf („der Ruf zum Abenteuer“ heißt die zweite Sequenz aller guten Filmgeschichten bei Vogler) nicht ausweichen könnten. Andere sollten mit einer Durchschnittsexistenz glücklich werden, und trotz Übertritt zum Katholizismus und Flirt mit allen denkbaren Religionen empört sich der Schweizer Pfarrerssohn quer durch sein Werk über Faulheit. Campbell bleibt generell bei seinen Mythen, aber behandelt Schicksalsschläge in ihnen immer wie selbstverständlich als „Aufgabe“. Vogler scheut sich nicht, in seinen Text autobiographische Anekdoten einzuflechten, wie er gelernt habe, anhand der Heldenreise berufliche Schlappen als notwenige Etappen hin zum guten Ende umzudeuten. Kurz: Prädestination und Protestantische Arbeitsethik unterlaufen selbst bei den Grundlagentexten der Heldenreise das kosmische Geborgensein und die Freude am vielgestaltigen Erzählen: Halt dich ran, und vielleicht gehörst du zu den Auserwählten. In dieser Welt.
Gibt es eigentlich eine schlechtere Botschaft, die man heutigen Unternehmen auf den Weg geben möchte? Gibt es einen schaleren Subtext, den man sich für neue Filme wünschen würde? Gibt es ein stärkeres Opium für die jungen, klugen und wütenden Kulturhandwerker, die an die Türen der Medien hämmern? Sicher, die gute alte Erfolgspropaganda wird in den neuen Schläuchen verstärkt zu Mut und Engagement aufrufen, wogegen ja nie etwas zu sagen ist, sie wird nun ökologisch und ein wenig sozial unterfüttert werden und gespickt sein mit cleveren Verweisen auf Gilgamesch und Ishtar, vielleicht selbst in Deutschland raffiniert durch vertrackte Twists und Turns. Doch aus dem reduktionistischen Arbeitsmodell zum Umgang mit alten Geschichten und ihrer tiefenpsychologischen Bedeutung wird genau das, was die zynischen Langeweiler ohnehin immer vom Spiel mit alten Geschichten behauptet haben: eine Verbrämung und Verkleidung der ohnehin virulenten gesellschaftlichen Propaganda.
Während in den tatsächlichen Mythen, um endlich ein bisschen ihre Ehre zu retten, so vielgestaltig sie sein mögen, zumindest immer eine Erkenntnis am Ende steht: Die Welt ist nicht machbar. Zumindest nicht so.
„Der Zyklus des Heldenmythos bildet die assoziative Basis für die spezifischen Aufgabenstellungen der Unternehmen.“ Nein, das ist kein Märchen. Märchen haben uns etwas zu sagen, in der Regel die Wahrheit. Das ist nur wieder so eine dumme Geschichte.
Autor: Florian Schwebel
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