Gemeinsam im Niemandsland – Bericht über ein Frankfurter Symposium*, das eine neue Sozialordnung suchte
Eine neue Sozialordnung ist eine gute Sache. ‚Neu‘ ist spätestens seit der Moderne positiv konnotiert, und aktuell dürfte bei hinreichend vielen Menschen Konsens darüber bestehen, dass es ökonomisch, ökologisch und sozial so wie gegenwärtig, dauerhaft nicht weitergehen kann. Das Problem ist allerdings, welch eine Ordnung der aktuellen nachfolgen soll, und so begaben sich auf dem Frankfurter Symposium einheimische Wissenschaftler und Journalisten auf eine Suche, die „Gemeinsam im Niemandsland“ überschrieben war.
‚Niemandsland‘ klingt nach einem Ort zwischen den Fronten, zu dem ein paar Versprengte gelangt sind. Wollen sie dauerhaft dort bleiben, etwas aufbauen, das sich qualitativ von den umliegenden Orten unterscheidet, sollte ihr erstes und maßgebendes Projekt die Fehlervermeidung sein. Folgerichtig ging es auf dem Symposium, das federführend vom Frankfurter Institut für Sozialforschung veranstaltet wurde, um die Fehler im gegenwärtigen Finanzmarktregime und in der Sozialpolitik sowie um die Möglichkeiten, diese Mängel im Rahmen persönlicher Beziehungen zumindest zu kompensieren.
Auf dem Podium, das sich mit den „Grenzen des Finanzmarktes“ beschäftigte, wurde schnell klar, welche Propaganda geradezu schmerzhaft erfolgreich war. Wer immer sich die Parole „too big to fail“ in Bezug auf marode Finanzhäuser ausgedacht hatte, dem gebührt ein fettes Aktienpaket. Sie half, ein narratives Muster zu erarbeiten, mit dem Staaten unter Druck gesetzt werden konnten, so dass nationalstaatliche Spielräume in der Folge massiv eingeschränkt wurden. Dem Schriftsteller unter lauter Ökonomen blieb es vorbehalten, (vermeintlich) naive Fragen zu stellen, die neue Wege weisen. Kristof Magnusson, der mit seinem Roman „Das war ich nicht“ einen viel gelobten Ausflug in die Bankenwelt unternahm, wollte wissen: „Kann man die kleiner machen?“ Und da, wer einmal dumm fragt, gerne damit fortfährt, wollte er auch noch erfahren, ob es nicht möglich sein könnte, auch die Verantwortlichen der großen Finanzkrise an den Folgen derselben zu beteiligen? Leicht gefragt, schwer gemacht – der Ökonom Werner Plumpe vom Institut für Sozialforschung hatte einen Vorschlag. Wir sollten ein Gefühl für die Normalität von Krisen im Kapitalismus entwickeln. Vorherrschend jedoch sei eine Vermeidungsrhetorik, nach der es darauf ankomme, das System grundsätzlich krisenfrei zu machen. Wer demgegenüber die Krise für normal hält wie Plumpe, möchte ein „geringeres Panikniveau“ in der Gesellschaft erreichen. Ist das geschafft, könne man in aller Ruhe darüber nachdenken, ob es nicht besser gewesen wäre, einen partiellen Crash hinzunehmen. Es hätte einige Banken weniger gegeben, und diejenigen, die lange Jahre bestens verdient hatten, wären ein Stück weit von ihrem Sockel heruntergekommen. Die Krisenvermeidungsrhetorik erschien auf einmal als probate Ideologie, um die aktuelle, konkrete Krise nicht ‚ausbrennen‘ (Plumpe) zu lassen, sondern sie zu verlängern und womöglich durch die horrende Erhöhung der Staatsschulden sogar zu verschärfen.
Die Sozialtechniken der Panikmache und permanenten Mobilisierung dominierten nicht nur das Ökonomieplenum. In der Sozialpolitik werden sie ebenfalls eingesetzt, um letztlich den aktuellen Zustand beizubehalten. Susanne Mayer, Redakteurin der „Zeit“, und der Soziologe Wolfgang Ludwig-Mayerhofer nannten kuriose Beispiele. So wird das Pflegepersonal in Krankenhäusern angehalten, Patienten ‚zu mobilisieren‘. Anscheinend ist nicht einmal mehr Krankheit ein legitimer Grund, nutzlos herumliegen zu dürfen. ‚Proaktiv‘, so berichteten die Diskutanten übereinstimmend, sei ein beliebtes Wort in den sozialpolitischen Debatten. Schon vor der Geburt müssten Kinder fitgemacht werden, und wenn sie dann in den 5-Sterne-Kindergarten einziehen, können sie proaktiv die Karriere in die eigene Hand nehmen. Das Erstaunliche daran ist, dass andere Sphären sinnorientierten Handelns als die Erwerbsarbeit in öffentlichen Debatten nicht einmal mehr vorkommen. Im weitesten Sinn kulturelle, oder wie man im ökonomischen Diskurs früher einmal sagte: reproduktive Tätigkeiten werden bereits im Vorfeld sozial- oder bildungspolitischer Diskussionen ausgeblendet.
Bei so viel permanenter Mobilmachung für den Markt wuchs nicht nur die Sehnsucht nach einer neuen Sozialordnung – es gediehen auch Hoffnungen, ein wenig von dem, was in diesem ‚Niemandsland‘ möglich sein könnte, schon heute zu erleben. Der Frankfurter Philosoph Axel Honneth hatte in seinem Eröffnungsvortrag tatsächlich etwas gefunden. In den letzten Jahrzehnten habe sich, so seine entscheidende These, der Spielraum für kommunikative Freiheiten in persönlichen Beziehungen entscheidend erhöht, etwa in den kommerzfreien Bereichen Liebe oder Freundschaft. Was die Romantik einst versprach, so Honneth, könne heute endlich eingelöst werden. Das ist die präzise Gegenthese zu dem, was Eva Illouz über die Warenförmigkeit der Gefühle im Zeitalter des Kapitalismus geschrieben hat. Aber Honneth wollte keine gesellschaftliche Emanzipation beschreiben, denn die Grundlage seiner These ist die Paarbeziehung. Auch so kann historischer Fortschritt aussehen: Voltaires Candide ist nicht mehr allein. Jetzt sind sie schon zu zweit dabei, ihren Garten zu bestellen.
(*Symposium des Instituts für Sozialforschung im Rahmen der Frankfurter Positionen 2011)
Text: Mario Scalla
Text erschienen in Frankfurter Rundschau
Foto @ alexandraksz
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