Robert Siodmak gehört, wie auch Fritz Lang, zu den deutschen Regisseuren, die als Emigranten in Hollywood Arbeit fanden und dort zu anerkannten Künstlern geworden waren. Als sie nach dem Krieg in ihre Heimat zurückkehrten, mussten sie freilich ziemlich rasch an den Verhältnissen im bundesdeutschen Kino der 1950er Jahre verzweifeln. Peter Lorre (Der Verlorene), Billy Wilder (Eins, zwei, drei) und Robert Siodmak (Nachts, wenn der Teufel kam) drehten einige der besten Filme dieser Zeit, dennoch gelang es der bundesrepublikanischen Filmkultur zu verhindern, dass die Emigranten-Regisseure hier wieder Fuß fassen konnten. Da verließ man sich doch lieber auf die Qualitäten der UFA-Regisseure, die waren auch in den neuen Verhältnissen anpassungsfähig und willig. Zuerst kam das Geld, dann kamen die Produzenten, dann kamen die Stars und ganz zum Schluss kamen in dieser billigen Ausgabe einer Traumfabrik die Regisseure. Bei seiner Verfilmung von Johannes Mario Simmels Theaterstück „Mein Schulfreund“ bekam Robert Siodmak diese Verhältnisse zu spüren. Die Produktion setzte ihm ein denkbar knappes Budget. Die Stars fühlten sich dem Rückkehrer wenig verpflichtet; der Schauspieler Ernst Schröder weigerte sich, überhaupt von ihm Regie-Anweisungen anzunehmen. Und Alexander Golling, der die höchst unsympathische Rolle eines so feigen wie unbarmherzigen Blockwarts spielt, war in der Nazi-Zeit ein besonders eifriger Parteigenosse und Liebling der Bonzen gewesen.
Schöne Aussichten. Dass „Mein Schulfreund“ dennoch einer der besseren Filme zur, nun ja, Vergangenheitsbewältigung im bundesrepublikanischen Kino wurde, verdankt sich vor allem dem Gespür des Regisseurs für Stimmungen und Charaktere. Er machte einfach aus allem das Beste (sieht man einmal von Schröders Knattercharge ab). Aus einem Drehbuch, das immer wieder ins Unverbindliche wegzufließen droht. Aus Schauspielern, von Mario Adorf bis Heinz Rühmann, die gern ihrem eigenen Affen Zucker geben. Aus einer Ausstattung, die kammerspielartig auf wenige Räume beschränkt bleibt. Und aus Dialogen, die in einem Augenblick scharf und bitter sind, im anderen aber auch schon wieder etwas unglaubwürdig dahinmenscheln.
Der Schulfreund – das ist niemand anderes als Reichsfeldmarschall Hermann Göring (im Film sehen wir zum Glück nur die Büros seiner Untergebenen); er und der Geldbriefträger Ludwig Fuchs (Heinz Rühmann als Familienmensch und Beamter mit Leib und Seele) gingen in die gleiche Klasse. Und nun, am Ende des Krieges, wo schon die Kinder als FLAK-Helfer geopfert werden, da schreibt Fuchs ihm einen Brief und bittet ihn, nun endlich mit dem schrecklichen Krieg aufzuhören. Der Brief landet freilich bei den Offizieren des Marschalls und Fuchs sehr schnell im Gefängnis. Dort bringt ihn ein Muttermörder (Mario Adorf) auf eine Idee. Und schnell ergibt sich auch die Gelegenheit, sie umzusetzen: Weil der Schulfreund dann doch aus dem Hintergrund wirkt, erhält Fuchs die Bescheinigung, nicht zurechnungsfähig zu sein. Mit dem „Jagdschein“ übersteht er den Krieg, kann sogar das Leben einer Nachbarin retten, der für das Abhören von Radio London der Tod droht. Aber nach dem Krieg scheint es für Fuchs unmöglich, den Makel der geistigen Unzurechnungsfähigkeit wieder los zu werden. Wer ihm helfen könnte, ist tot, unfähig oder nicht willens, die wahren Sachverhalte von damals aufzuklären. Erst als er sich im nächsten Postamt so rabiat aufführt, dass eine neue Untersuchung angeordnet wird, wird seine „Normalität“ amtlich bestätigt. Unglücklicherweise ist Fuchs nun aber, so geringfügig der Schaden auch ausfiel, vorbestraft, und als Vorbestrafter kann er sich seinen größten Wunsch nicht erfüllen, nämlich mit seiner Tochter und ihrem Ehemann in die USA auszuwandern. Das Land, das ihm so übel mitgespielt hat, lässt den Briefträger Ludwig Fuchs nicht los.
Mehr oder weniger soll diese Geschichte tatsächlich so passiert sein; die Geschicke eines Postschaffners namens Eberhard Bär dienten Johannes Mario Simmel als Vorlage. Aber selbst wenn sie erfunden wäre, scheint sie doch treffend die Situation des fortdauernden Wahns zu charakterisieren. Im Schicksal seiner Hauptfigur und in den mit wenigen kräftigen Strichen skizzierten Nebenfiguren zeigt sich die Unfähigkeit einer Gesellschaft, menschlich, politisch und juristisch angemessen mit der Vergangenheit umzugehen. Die einen sind schon wieder in leitenden Positionen (denn die Macht, so erkennt der Briefträger Fuchs, bleibt an gewissen Leuten einfach kleben), die anderen verweigern sich in Selbstmitleid und Rachsucht. Zu einer Mitschuld bekennt sich nur der, der am wenigsten Anlass dazu hätte: der kleine Geldbriefträger Fuchs.
„Mein Schulfreund“ war den einen (einer Minderheit) als Abrechnung mit dem Faschismus nicht scharf genug, den anderen (der Mehrheit) war selbst diese anrührende Groteske schon viel zu viel. Robert Siodmak verlegte sich in seinen letzten Filmen auf bizarre Karl-May- und Historienspektakel, bei denen der Regisseur nicht mehr recht bei der Sache schien. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er, verbittert, wie seine Freunde erzählten, im neuen Exil in der Schweiz. Neben seinen wunderschönen Arbeiten im Film Noir wie „The Killers“ oder „Die Wendeltreppe“, neben – tut mir leid, Jack Sparrow – dem besten Piratenfilm aller Zeiten, „Der rote Korsar“, und neben dem wahrhaft unheimlichen „Nachts, wenn der Teufel kam“ ist „Mein Schulfreund“ der Siodmak-Film, der in die DVD-Sammlung gehört.
Autor: Georg Seeßlen
Text: veröffentlicht in filmspiegel 09/ 2007
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