Plebejer ohne Eigenheim
In „Figuren des Immunen“ entwirft Isabell Lorey ein Modell des politischen Widerstands, das Stärke im Sich-Entziehen sucht
Das Dilemma westlich kapitalistischer Gesellschaften ist, dass gegen sie kein revolutionäres Kraut wachsen kann. Wo Macht und Herrschaft, wie Foucault es formulierte, nicht repressiv sondern „produktiv“ agieren, wo das System auch Heterogenes fröhlich wie ein Nichts verdaut und die Subjekte als Ego-Unternehmer ihre Unterwerfung gleich selbst organisieren, wird Umsturz zu einer beinahe unmöglichen Sache. Sehr wohl besteht ein Unbehagen am System. Aber es fehlt das erlösende Werkzeug, der Hebel, mit dem sich die herrschende Logik sprengen ließe. Seit etlichen Jahren kreißt daher die linke Theorie mit dem Problem, wie – und warum überhaupt – in einer permissiven, erlaubenden Gesellschaft radikale Kritik und Widerstand gedacht werden muss.
Einen interessanten Vorschlag in diesem Feld macht nun Isabell Lorey mit ihrem Buch „Figuren des Immunen“. Es ist ein groß angelegter systematischer Entwurf, der nichts weniger will, als „Elemente für eine politische Theorie“ des Widerstands liefern. Zu diesem Zweck geht Lorey weit zurück in der Geschichte, zu den berühmten Stände- beziehungsweise „Ordnungskämpfen“ zwischen Patriziern und Plebejern im alten Rom des fünften vorchristlichen Jahrhunderts. Im Zuge der Auseinandersetzungen, die sich über zweihundert Jahre erstreckten, zogen die anfangs rechtlosen Plebejer offenbar sogar mehrmals aus Rom auf den „heiligen Berg“ aus. Dort konstituierten sie sich, gesichert durch Eidverfahren, benannten „sakrosankte“ Volkstribune und erzwangen politische Rechte gegenüber den Patriziern, bevor sie wieder nach Rom zurückkehrten.
„Die Plebejer entbinden sich, ohne tödliche Waffen zu gebrauchen. Ihre überaus wirksame politisch-strategische Waffe besteht darin, sich durch Auszug zu entziehen“, erklärt Lorey. Im Akt des sich verweigernden Exodus sieht sie ein Modell politischen Widerstands, das eine dritte Alternative zu den Optionen „Aufstand oder Gehorsam“ öffnet. Der Exodus als Modell hat weitere Vorteile, denn die politische Gruppe, die sich im gemeinsamen Auszug herstellt, bleibt im Fluss und veränderbar. Sie definiert sich nicht über feste Identitäten, sondern über den kollektiven Akt, sie setzt Verbindlichkeiten, doch diese politische „konstituierende Immunisierung“ gilt nicht der klassischen Herrschaftssicherung. Es ist kein ideales Bild, das Lorey zeichnet, und keines, dem eins zu eins zu folgen wäre. Lorey betont den patriarchalen Charakter des plebejischen Widerstands, und auch dass er nach Beendigung der Aktion seinen Sinn verliert. „Konstituierende und konstituierte Macht des Plebejischen stehen nicht eindeutig und dauerhaft auf der Seite der Emanzipation.“
Mit ihrem Entwurf operiert Isabell Lorey nicht im luftleeren Raum. Die römischen Ständekämpfe sind ein alter Topos der politischen Theorie, ein recht dunkler Hinweis auf das Plebejische als „Flucht und Umkehr“ findet sich auch bei Foucault. Lorey bezieht sich außerdem auf Antonio Negris Ausführungen zur Multitude, auf die Communitas/Immunitas Entwürfe Roberto Espositos, auf Paolo Virnos „Exodus“ und die Idee des Politischen als Konflikt bei Jacques Rancière. In diesem Netz der neueren linken Theorien verankert sie ihr eigenes Konzept, indem sie Bezug nimmt, sich abgrenzt oder vorhandene Theoreme verschiebt und anders gewichtet. Eine sehr markante Absage erteilt Lorey dabei Giorgio Agambens berühmter Deutung des „Homo Sacer“, die sich auf dieselbe römische Quelle bezieht. Während Agamben den „Vogelfreien“ zu einem generellen politischen Paradigma hochstilisiert und Gesetzgebung immer an gewaltsame Souveränität und den Ausnahmezustand bindet, entwickelt Lorey eine völlig andere Lesart. Sie zeigt, dass sich das plebejische Vorgehen im Gegenteil als eine „konstituierende Gewalt jenseits von Souveränität“ deuten lässt. Darin läge tatsächlich ein utopischer Gehalt.
Das Buch versammelt viel historisches und theoretisches Material, doch leider überfrachtet das bisweilen auch den eigenen Ansatz. So überlagern sich die Diskussion zu Gemeinschaft und Immunisierung mit denen zu Gesetz und Souveränität. Ein anderer Strang ist die Frage nach dem Begriff des Politischen. Wieso diese Fäden alle im Plebejischen und dem Begriff des „Immunen“ zusammenlaufen sollen, ist nicht immer einfach zu begreifen. Hinzu kommt ein gewisser Manierismus in der Ausdeutung der historischen Erzählung und begrifflicher Herleitungen. Lorey arbeitet an einigen Stellen so akribisch mit etymologischen Ableitungen, beim Begriff „munus“ zum Beispiel, dass man im Fortgang der Lektüre eher skeptischer als überzeugter werden möchte. In welchem Verhältnis Etymologie, Historiographie und systematischer politischer Entwurf stehen können und stehen sollten, ist hier nicht wirklich ausgemacht.
Im Ganzen aber besticht das Modell, vor allem, weil ihm ein dynamisches Verständnis des Politischen zugrunde liegt. Es verspricht Offenheit statt Abschottung, Beweglichkeit statt Starre, Instantaneität statt Permanenz. Der plebejische Exodus führt nicht ins gemütliches Eigenheim, sondern bleibt ein immer zu erneuerndes Mittel, um „verfestigte, normalisierte Herrschaftsverhältnisse aufzubrechen“.
Ob Loreys Konzept für gegenwärtige Politik trägt, müsste sich an konkreten Fällen zeigen. Man könnte sich durchaus einen Exodus der Prekären oder auch der überlasteten Arbeitnehmer denken, der, verliefe er als Massenbewegung, sehr wohl Schlagkraft haben könnte. Wir brauchen Bilder für einen möglichen Widerstand, und die Vorstellung, dass sich eine politische Kraft in der Bewegung des Entziehens konstituiert, um dann wiederzukehren, ist attraktiv. Und natürlich erinnert das Sich-Entziehen an die List der Vernunft, die das Spielfeld verlässt, wo sie nicht gewinnen kann.
Andrea Roedig
Isabell Lorey. Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie.
Diaphanes, Zürich 2011, 343 Seiten.
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