„Die leere Mitte“
Das kann eine Metapher für vieles sein – in dem gleichnamigen Film von Hito Steyerl geht es um den Potsdamer Platz, diesen UN-ORT, der alles andere als „leer“ ist, wenn man ihn so betrachtet wie die Filmemacherin in ihrem knapp 70-minütigen Essayfilm von 1998.
Hito Steyerl, bekannt für ihr vielseitiges künstlerisches Schaffen, Autorin und Philosophin, hat sich schon früh einer Mischung zwischen dokumentarischen und essayistischen Formen zugewandt. Im Rahmen der BERLINALE, unter dem thematischen Schwerpunkt „Fiktionsbescheinigung“, wird DIE LEERE MITTE gezeigt. Es ist eine von 1990 bis 1998 dauernde Langzeitbeobachtung über den Platz, an dem bis heute alle Hoffnungen auf ein urbanes, lebendiges Zentrum Berlins begraben sind. Doch der Filmemacherin geht es neben stadtplanerischer Kritik vor allem um die Erinnerung verdrängter Geschichte. Denn der Potsdamer Platz war wie kaum ein anderer Ort in Preußens Hauptstadt ein Kristallisations- und Kreuzungspunkt historischer und politischer Konflikte.
Hito Steyerl gelingt in nur einer Stunde eine Lektion, die aufs Ganze geht. Sie behandelt nicht nur die vielschichtigen nationalen und ethnischen Grenzen und Grenzziehungen, die hier verhandelt und wahr wurden, sondern sie folgt einer Linie von Macht- und Ausbeutungsverhältnissen quer durch die deutsche Geschichte. Von den frühen Zollgrenzen Berlins, über Bismarcks Reichsgründung, zur Kongokonferenz von 1884, bis in die sogenannten Goldenen Zwanziger Jahre, überall findet die Filmemacherin anschauliche Beispiele dafür, dass ständig Grenzen entstehen oder, dass wo Grenzen fallen, sofort neue aufgebaut werden. Nicht zuletzt geht es ihr auch um die vielen unsichtbaren Grenzen, die in Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zum Ausdruck kommen.
„Dem bislang Namenlosen Namen geben“, diesem Gedanken Siegfried Kracauers folgt die Regisseurin. Keine Prominenten kommen zu Wort, sondern Menschen, die selbst rassistische Übergriffe erlebt haben. Eine junge Chinesin führt quasi durch den Film, sie steht mitten auf dem noch komplett unbebauten Platz und macht sich ihre ganz eigenen Gedanken über die Berliner Stadtgeschichte und die architektonischen Pläne, die bald dort realisiert werden sollen. Wie eine Klammer hält sie den Film formal einerseits zusammen und transportiert ihn andererseits in die Gegenwart. Ebenso wie die Punks und Freaks, die damals den Platz besetzt hielten. Auch sie sind namenlos, bewußt jedoch, aus Angst vor Sanktionen. Ihnen ist klar, nach der Räumung wird es für Menschen mit anderen Lebensentwürfen, vor allem jedoch mit wenig Geld, keinen Platz in der Mitte der Stadt, der Gesellschaft (?), geben. Das komplexe Montagegeflecht aus Interviews, found footage, Archivmaterial und dokumentarischen Inszenierungen wirkt jedoch nie überfordernd oder akademisch. Dieses „suchen, verbinden, ordnen“ – und alles mit einem kritischen Blick, geschärft durch postkoloniale Theorieansätze – ist Hito Steyerl in der „leeren Mitte“ kongenial gelungen. Ein passendes Ende findet sie für den Film, den sie kurz nach dem Fall der Mauer begonnen hatte, mit Siegfried Kracauers Gedanken: „Es gibt immer Löcher in der Wand, durch die (…) das Unwahrscheinliche sich einschleichen kann“.
Gezeigt wird der Film noch einmal am 20.2 Februar um 17 Uhr im Berliner Arsenal in Kombination mit einem gleichermaßen interessanten 16mm Film von Raoul Peck „Merry Christmas Deutschland oder Vorlesung zur Geschichtstheorie II“.
Daniela Kloock
Bild: „Die leere Mitte“ ( Regie: Hito Steyerl) | DEU 1998 Forum 2022 | © Hito Steyerl
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