Im Lichte alter Männerträume
Bernardo Bertolucci phantasiert von Abschiedsblicken in der Toskana, einer Jungfrau aus Amerika und reichlich Haschisch, Kitsch und Kunst
Ein neunzehnjähriges Mädchen, das ausnahmsweise nicht Alice, sondern Lucy heißt, kommt des weiten Weges von New York in ein abgelegenes Landhaus in der Nähe von Siena. Alles weist mächtig und bedeutsam auf den Dialog zwischen Kunst und jener erdrückend schönen Toskana-Landschaft hin, die sich als Bühne für den melancholischen Stillstand so aufzudrängen scheint, wie sie auf eine Sinnlichkeit deutet, die anderswo, zu anderer Zeit, überwältigend sein musste. Ein schönes Grab der Träume, ikonographisch leicht vernutzt – purer, unwiderstehlicher Kitsch.
Selbstverständlich liegt alles in tiefem Schlaf unter den üblichen Bäumen und der üblich flirrenden Hitze, als Lucy (Liv Tyler) ankommt.
Ihre tote Mutter, die in einer ungeklärten intimen Beziehung mit den Besitzern des Hauses stand, hat sie testamentarisch hierhergeschickt, damit der Maler und Bildhauer Ian ein Portrait von ihr erstelle.
Aber das war, wie Lucy gleich am Anfang feststellt, nur ein Vorwand.
Wofür?
Es ist schon eine wunderliche Gesellschaft, die hier versammelt ist: Ian (Donal McCann), der obsessive Künstler, der sich die Menschen zu Modellen macht und sein Holz wie verletztes Fleisch bearbeitet Diana (Sinead Cusack), die davon träumt, das Haus zu verlassen, weil sie es leid ist, stets für die anderen dazusein ein kauziger alter Franzose, der mit Slippern wirft und beim Pizza- Essen ausfällig wird und den Jean Marais traumhaft präsent gibt: wie nicht von dieser Kunst-Welt der todkranke Sch riftsteller Alex (Jeremy Irons), der die „Obszönität des Sterbenden“ für sich in Anspruch nimmt, wenn er mit Lucy spricht, darüber zum Beispiel, daß es für ihre Jungfräulichkeit andere Gründe gibt als ihr Warten auf die Erfüllung des Versprechens, da s ihr der erste Kuß an diesem Ort zu geben schien die „Briefkastentante“ Noemi (Stefania Sandrelli), die zum Vergnügen aller die Briefe ihrer Leserinnen bei Tisch verliest, die träge, leicht verblühte Schönheit Miranda (Rachel Weisz) und ihr treulose r Liebhaber (D. W. Moffett), der Lucy seltsamen Schauspielunterricht gibt dazu der aristokratische Nachbar und seine Familie.
Und da ist Daisy, Dianas kleine Tochter, die sich zum wer weiß wievielten Mal „The Wizard of Oz“ angesehen hat, bevor sie in Lucy eine neue Freundin findet. All diese Personen haben mehrfach überkreuzte, teils offene, teils verborgene Beziehungen zueinander, ebenjenes träge emotionale Durcheinander von Eros und Familie, Intimität und Verrat, das sich an den Schnittstellen von bürgerlichem Luxus und ästhetischer Produktion zu bilden pflegt und das uns existenzgeplagte Kleinbürger zu dem Ausruf verleitet: „Deren Sorgen möchte ich haben!“
Dabei sind die Sorgen von Bertoluccis zweifelhaften Heldinnen und Helden durchaus fundamental. Mit dem Eintreffen des Mädchens beschleunigt sich die Agonie zum Zerfall, werden die Tragödien der lächerlich Begehrenden deutlich. Doch es gibt nichts zu entlarven, nicht einmal den narzißtischen Niedergang einer Klasse. „Stealing Beauty“ ist alles andere als eine neue „Règle du jeu“. Welche Regel? Welches Spiel?
Die Tücke in der Inszenierung aller Nichtereignisse dieses Films liegt darin, daß Lucy am Ende weder als Erlöserin noch als Opfer gewirkt hat. Sie hat nur auf die unterschiedlichsten Weisen die Blicke auf sich gezogen, sie hat geheult, geredet, Haschisch geraucht, zur rechten Zeit die falschen Männer vermieden und beim richtigen die Jungfräulichkeit verloren – aber das ist auf eine durchaus grausame Weise ganz und gar ihr eigener Roman. Selbst daß sie am Ende ihr (familiäres) Geheimnis löst, den möglichen Grund für den Vorwand ihrer Reise findet, erscheint eher in seiner Trivialität erleichternd, als daß es tiefer in eine beständig angedeutete, von den Protagonisten vielleicht gesuchte, vielleicht inszenierte mythische Konstruktion von Leben und Wahrnehmung führte. Die alten Männer der toskanischen Kunsthölle träumen vom Mädchen, träumen von der kraftspendenden, leidvollen Defloration, träumen mit einer bemerkenswert schamlosen Kamera, den Weg zum „unberührten“ Geschlecht zu finden (zum Ursprung des Lebens, zur Bestätigung der eigenen Macht) sie träumen in Bildern, die sie sich unter wechselnden Vorwänden machen oder die sie nebenbei zu erbeuten versuchen.
Das alles ist ganz und gar vergeblich.
Worum es also, in einem Fluß von eher prätentiös als großartig, eher gestohlen als gefunden erscheinenden Bilder gehen mag, ist die Rekonstruktion einer magischen sexuellen und ästhetischen Situation und ihre Entzauberung. Es ist die Verweigerung eines erotischen Kunstmärchens. Diese Struktur hat Bertolucci, darin ist er nach wie vor ein Meister, schon in einer kurzen Sequenz am Anfang zusammengefaßt, die zugleich von Lucys langer Reise und vom Status der „Stealing Beauty“ als sich verweigerndes Objekt des Blickes erzählt: Lucy sitzt hingekauert in einem Zugabteil, eine Videokamera nimmt die Schlafende auf, die Schweißperlen, die Hand, die zwischen den Beinen liegt. Dann wird sie geweckt: Man habe Siena erreicht, sagt eine männliche Stimme.
Sie hastet aus dem Zug. Auf dem Bahnsteig versucht sie ihre Sachen zu ordnen, bindet ihre Schuhe, während die Videokamera sie aus dem Abteil heraus weiter beobachtet. Nun wird sich Lucy dieser Beobachtung gewahr. Was er denn da tue, ruft sie dem Video-Voyeur zu. Fast ein wenig kleinlaut gibt der Mann zurück, er habe nur Spaß gemacht, und wirft ihr die Kassette zu. Sie fällt auf das Bahngleis, und Lucy holt sie sich, nachdem der Zug abgefahren ist. Um nichts anderes als um die gestohlenen Bilder und ihre Rückgabe wird es in der eigentlichen Intrige des Films gehen – darum, daß die Unschuld kein anderes Bild als das des Begehrens selber erzeugt.
Bertolucci freilich kann offenbar seiner eigenen Warnung nicht folgen, er rumort in der selbstgestellten Wahrnehmungsfalle, findet selber zu keiner radikalen Geste, sondern nur zu ebenjener kraftlosen, wenn auch durchaus ehrlichen Handlung, die erbeuteten Bilder ihren „Originalen“ wieder vor die Füße zu werfen, bevor der Zug abfährt.
Das Sterben der Männer (oder, anders gesagt: die Nutzlosigkeit der Kunst im Toskana-Nirwana) und das Glück des Mädchens haben nichts, nein: fast nichts miteinander zu tun.
„Bertolucci“ ist der Markenname einer europäischen Bildermaschine, die aus dem unlösbaren Widerspruch von Revolte und Regression in die Tragödien des Lächerlichen zu entkommen trachtet. Es ist durchaus nicht antiaufklärerisch, das kleine obsessive Begehren im selben opernhaften Breitwandformat abzubilden wie die spirituelle oder ästhetische Erleuchtung. Und es ist eine gute Tradition der modernen europäischen Erzählweise, das Erhabene gerade in seinem scheinbaren Gegenteil, dem Lächerlichen, zu suchen. Freilich gibt es diesmal kaum noch jene letzte moderne Unterscheidung von Maskerade und Natur: Die Toskana-Landschaft als Wandtapete in Lucys Zimmer, die exakt den Blick imitiert, den man hat, wenn man aus der Tür tritt, erscheint sehr viel wirklicher als das Original, so wie im Schauspielunterricht das Spiegelbild begehrt und bedeutender wird als das Subjekt, das es produziert.
Bertoluccis Film ist Ausdruck und Reflexion der Krise von Symbol, Drama und Psyche im europäischen Film. Er erzählt vom Verschwinden der Zuhörer und der Entleerung des Blicks. Das macht ihn, die Balance von Kitsch und Kunst hin, die Möglichkeit, dem Lächerlichen ohne eine Spur von Humor zu begegnen, her, durchaus interessant.
Aber Bertolucci löst sich nirgendwo von den Mythen, an die er nicht mehr glaubt, vom Blick, der ihm leer geworden ist (und daher oft in triste Komplizenschaft mit den Phantasien seiner lächerlichen Helden verfällt). Er ist, so scheint es, ermattet in jene Kultur zurückgesunken, der er einst die Revolution, dann wenigstens den Schock und schließlich immerhin den spirituellen Flash gewünscht hat. Der Blick des Films ist wie der Blick seiner Protagonisten: die Perspektive der Gefangenschaft. Das macht „Stealing Beauty“ so bleischwer wie einen Nachmittag in der Toskana, an dem man eine Sehnsucht in sich aufsteigen fühlt, aber zu müde ist, sich zu fragen: wonach.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in Die Zeit 40/ 1996
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