liebe irene,

weil auf seite 289 plötzlich dein name stand, aufgetaucht aus dem nichts, aus dem blauen (das einbandblau, das zusammen mit der tatsache, daß es der 11. band dieser werkausgabe ist, der letzte anstoß war, mit dem lesen von wolfgang pohrt endlich anzufangen: felix kennt ihn seit seiner ‚theorie des gebrauchswerts‘, mehr als 40 jahre her, hat über die jahre gelesen, was er von pohrt in die finger kriegen konnte, jetzt also ich), also: ganz unvermutet dein name: grund genug, dir mal wieder paar zeilen zu schreiben. ich beneide dich um deine bekanntschaft mit pohrt, tut ja schon gut, ihn bloß zu lesen, seine klarheit, seine unbestechliche genauigkeit, und da ist, trotz dieser präzision im argumentieren, eine wildheit und kraft und unbedingtheit in seinen sätzen, seine worte fegen wie ein scharfer wind durch die gehirngänge, weg mit spinnweben und altem gerümpel. so einer wie pohrt täte heute not, einer, der auf das richtige wort im richtigen zusammenhang absolut und gut begründet wert legt, hellsichtig bis in den schlußpunkt seiner folgerungen, ausgesprochen und unbestechlich kritisch: aber kritik hat bei denen, die gerade in und mit diesem land schindluder treiben, ja schnell den ruf einer beleidigung weg. und ist so wichtig wie nie in einer zeit, in denen die tonangebenden anstatt hinzuschauen, wahrzunehmen und zu denken, eine „herrische oberlehrerattitüde“ an den tag legen und mit voreinstellungen und scheuklappen durch die gegend rennen, die sie anstatt, wie sie behaupten, zu retten, immer weiter und gründlicher zerstören. aber so ist das halt, wenn man die realität nicht auf die reihe kriegt und intelligenz durch ideologie ersetzt: und da jede ideologie auf totalitarismus hinausläuft, haben jene, die vom denken dennoch nicht lassen, schlechte karten. ja, einen wie pohrt hätte ich gern noch unter den lebenden, unter denen, die den diskurs mitbestimmen (was, wie es zur zeit aussieht, eh verhindert werden würde): vielleicht ließe sich das spiel dann trotz des miserablen blatts doch noch gewinnen. in the long run …

und ja, und trotzdem: es gibt bücher, die das mit dem denken noch pflegen, ‚inventur des sommers‘ ist so eins, raoul schrott, der über das abwesende räsoniert, das ich und die welt, die vor dem ich endet und dennoch erst durch das wesen des ichs hervorgerufen wird. ein spiel mit begriffen und ihrer abstammung: wie viele worte, auch harmlose, auch unverdächtige, ihre wurzeln im toten haben: er hat sie ausgegraben. und begräbt, an anderer stelle, die toten, damit das, was nicht mehr ist, nicht das anwesende verdrängt. daß er im übrigen reimt, stört nur, wenn man dann doch darauf stößt: wer will schon den gleichklang, der festsetzt. lieber türen, die am zeilenende offenstehen und ins freie weisen. hin und wieder leistet er sich ein wenig süffisanz, was gut tut, mehr als gut, denn zwischendurch verschreibt er sich einer endgültigkeit, die jede zuversicht in den wandel raubt, seine worte (wörter gibt es nicht, sagt handke) liegen wie steine auf den gräbern: zum zeichen, daß jemand hier war, der toten zu gedenken.

wo schrott der hoffnung abschwört (und „im aufgeben auch das geben“ sieht), läßt esther kinsky sich in einer kurzen erörterung auf den begriff ein, mit betonung auf kurz: zieht man die in dem bändchen verwendeten zitate ab, kommen grad mal 34 seiten an eigenem zusammen. immerhin bringt sie auf derart knappem raum (und nach geleisteter erinnerungsarbeit: am anfang steht das sterben ihres vaters) sowohl die lähmenden wie die tröstenden aspekte dieses schwarzen gewächses unter.

„irgendwas muß man ja tun, um die tage herumzubringen“, schreibt peter stamm auf seite 17 seiner ‚dunkelblauen stunde‘: wie oft ich diesen satz (in all seinen variationen) in letzter zeit gehört, gelesen habe: ödnis allerorten, als sei das leben nichts als eine fade angelegenheit, keine wünsche mehr, keine ziele, erst recht keine leidenschaft. und ganz folgerichtig wird genau das auf seite 48 beklagt, das fehlen von großen gefühlen in der westlichen welt. weder „in der liebe, in der krankheit und im tod, in der religion“ kämen sie vor, „manchmal noch in der politik, aber da nur bei verrückten“. da muß er aufpassen, der peter stamm, wenn er so was schreibt, da riskiert er inzwischen, verklagt zu werden. obwohl: in der literatur ist das vielleicht noch gestattet, die zählt kaum noch, läuft unter narrenfreiheit. würd‘ ich mich trotzdem nicht drauf verlassen. und nehmen wir mal an, die dummheit hat’s fatelerweise an die macht geschafft: und du ziehst ganz allgemein gegen die dummheit zu felde (weil sie, allen gegenteiligen verlautbarungen und gesetzen und klebeaktionen zum trotz, verheerungen anrichtet an dem, was an umwelt noch geblieben ist), dann greifst du damit eben nicht nur die dummheit an sondern auch die macht: und das macht dich zum staatsfeind. und wie mit staatsfeinden verfahren wird …

„wenn einer achtzehn jahre eingesperrt ist, dann ist er gefährlich, auch wenn nichts an ihm gefährlich aussieht“, steht in köhlmeiers ‚frankie‘ und paßt irgendwie hierher. für köhlmeier hab ich was übrig, seit uns baumi vor ewigen zeiten sein drehbuch ’sunset‘ (oder sunrise, was rötliches halt und was mit sonne, wie gesagt: vor ewigkeiten) rübergereicht hat, leider ist aus dem film bei pandora nie was geworden. die bücher von köhlmeier les‘ ich trotzdem gern, sätze, die barfüßig daherkommen, stimmt nicht ganz, barfuß hört sich nach gras an unter den schritten, nach erde oder sand: und bei ihm ist es kalter beton, und zwischen der kälte und dem nackten fuß ist noch eine notdürftige sohle, was hausschlappen nahelegt, pantoffeln: aber so schreibt köhlmeier keineswegs. und in ‚frankie‘ schon gar nicht: da schreibt er, wie ein vierzehnjähriger bub geredet haben mag, der zu früh erwachsen sein mußte: als zahle er es dem leben heim, mit kleiner münze, aber auf den pfennig genau. einerseits. und andererseits ist da der opa (der, der achtzehn jahre lang eingesperrt war): und die sätze, die der sagt, sind grob aber effektiv angespitzt, rohes, ungeschältes holz: und beim reden stößt er sie dem, der ihm zuhört, der ihn liest, eher gleichgültig in die eingeweide. was ich vorhatte und dann doch verworfen hab: das foto hinten im buch genauer ins auge zu fassen, köhlmeier, der auf einer treppe sitzt wie sein bub im buch das öfter tut (der wartet, daß seine mutter nach hause kommt, sein opa): und köhlmeiers feines, altes gesicht, vom kompromißlos schwarzen rahmen seiner brille völlig überfordert, in den schatten gestellt: und dann vermerkt ralf rothmann, den ich danach gelesen hab, irgendwo in seinen gesammelten notizen aus den letzten jahrzehnten (in jenem rest, der nicht in seine bücher einlaß gefunden hat) eine einladung zu einer lesung, deren anlaß nicht sein damals neuer roman war, sondern sein hübsches gesicht auf dem umschlag: in den roman zu schauen hatte die buchhändlerin nicht die zeit gefunden. (hört man einem schönen menschen lieber zu: ganz gleich, was er geschrieben hat? liest man jemanden, den man als häßlich empfindet, lieber nicht?) worüber rothmann in seinen romanen geschwiegen hat, persönliches und sehr persönliches, gibt er hier bekenntnishaft preis, das buch als beichtstuhl: mit eitelkeit hat es natürlich auch zu tun. dennoch: ‚dichter‘ als titel für sich in anspruch zu nehmen, wie er das gleich am anfang tut (um 61 seiten später die poesie als „magische genauigkeit“ zu definieren): es steht ihm zu, es finden sich bei ihm solche stellen. und sonst: viel wahres in seinen notizen, viel nervöses, einiges an verwerflichem: ‚theorie des regens’. schöner titel jedenfalls. was das ist: schreiben, was es bedeutet für die, die es tun: es gibt so viele gründe wie schriftstellerinnen, die danach gefragt werden. um sich den sinn des lebens zu erklären, sagt nadine gordimer. um ein breites spektrum an beobachtungen zu verarbeiten: margaret atwood. um ordnung ins chaos zu bringen: toni morrison. um der wahrheit auf die spur zu kommen: rachel cusk. aus frustration: doris lessing. um fragen zu provozieren: wiederum nadine gordimer. sie haben vorbilder oder keine, unterwerfen sich ritualen oder eben nicht, betrachten, wie susan sontag, das schreiben als gabe, bestehen, wie dorothy parker auf einem eigenen standpunkt und wie margaret atwood auf künstlerischer freiheit: wie unterschiedlich auch immer, elf der frauen, die in den ‚paris review interviews‘ auskunft geben über ihre arbeit, ihr leben, nehmen beim reden kontur an, in jedem satz, den sie äußern, hört man sie atmen, man spürt sie, ihre person, ihre präsenz. einzig frau ferrante klingt hohl und nach blanker behauptung, klingt, obwohl sie so herrisch und hehr die wahrheit auf den thron hebt, wie eine einzige akademisch verbrämte phrase, klingt, schlimmer noch, ausgedacht, zusammengetragen, eine parade vorgeführter klischees, hinter denen kein herz schlägt.

von louise glücks neuen gedichten hab ich wieder nur die originalversionen gelesen (das übersetzte: unzulänglich): ein pulsieren zwischen dunkelheit und schnee, einübungen ins unvermeidliche, da ist schweigen und staub. was bedeutet ein leben: wenn, was vergeht, wieder wird, um erneut zu sein. das wort ’seele’ fällt selten in ihren versen, sie gebraucht es (wie sie an einer stelle vermerkt) als kompromiß: als existiere für das, was sie tatsächlich meint und will, nicht der dafür notwendigen ausdruck. und doch sind ihre gedichte genau das: gespräche mit ihrer seele, stille, schöne einsichten, fast wortlos zu papier gebracht. nein, natürlich stehen da worte auf den seiten, sie rufen jedoch einen anderen eindruck hervor, muten nicht unbedingt wie sprache an: atem, der sich niederschlägt auf der fensterscheibe, hinter der, wenn er verfliegt, die welt sichtbar wird, eine welt, die über unsere realität hinausreicht und sich im traum verliert.

genug bücher für diesmal, mehr und anderes: falls wir es eines tages doch mal schaffen, durch salach zu kommen.

herzlich
ingrid

© ingrid mylo

 

 

 

Wolfgang Pohrt: Werke 11 | Briefe und Mails 1976 – 2016 

Edition Tiamat 2023 

726 Seiten | 38 Euro

 

 

 

Raoul Schrott: Über das Abwesende – Inventur des Sommers 

Hanser 2023 

173 Seiten | 25 Euro

 

 

 

 

Esther Kinsky: Gedankenspiele über die Hoffnung 

Droschl 2023 

45 Seiten | 12 Euro

 

 

 

 

Peter Stamm: In einer dunkelblauen Stunde

S. Fischer 2023

252 Seiten | 24 Euro

 

 

 

 

Michael Köhlmeier: Frankie

Hanser 2023

206 Seiten | 24 Euro

 

 

 

 

 

Ralf Rothmann: Theorie des Regens

Bibliothek Suhrkamp 2023

215 Seiten | 24 Euro

 

 

 

Zwölf Zimmer für sich allein | Paris Review Interviews

Kampa 2022 | 381 Seiten

 

 

Cover © Verlag

Bild ganz oben: ©  Cover Ausschnitt | Hanser 2023 | Michael Köhlmeier: Frankie

Letzte Artikel von Ingrid Mylo (Alle anzeigen)