Unsereiner – also jene Personen, denen ein Bergwald gar nicht einsam genug, eine Kleinstadt gar nicht klein genug, und ein umstrittener Caravaggio gar nicht verborgener in einem Provinzstädtchen sein kann, kurzum: das Natur- und Kultur-Arschloch übelster Sorte, wie es in gewissen Kreisen genannt wird-, unsereiner also hat zum sogenannten Massentourismus ein gespaltenes Verhältnis. Sollen sie doch auf ihre eigene Art glücklich sein, die Ballermänner und –frauen, die Familien mit Halbpension, die Beachvolleyball-Spieler und Handtuchbesitzer. Sie sind da gut aufgehoben in ihren Paradiesmaschinen und Urlaubsghettos; für unsereinen ist das ohnehin schon wieder ein so bizarres Sittengemälde, dass man auch ohne die einschlägigen kabarettistischen Ferienfilme argwöhnt: Hier ereignet sich Fremdheit auf zugleich fundamentalkapitalistische und kriegerische Weise. Beide Seiten, die Anbieter wie die Konsumenten massentouristischer Angebote, Strand-Kiosk bis zum Kettenhotel, befinden sich in einer Art Kriegszustand. Es geht darum, zu bekommen, was versprochen war, und es geht darum, keine Möglichkeit zum Geldverdienen außer Acht zu lassen. Weil hier alles billig ist, mehr oder weniger, bekommt man rein gar nichts geschenkt. Und weil alles im Prospekt stand, will man auch keine Überraschungen. Entsprechend paart sich hier das Prostitutive mit dem Feindseligen. Man reagiert mit Misstrauen aufeinander, denn man kennt sich ja nur zu gut. Je besser man sich kennt, desto mehr verhalten sich die Menschen nach ihren Klischees; so trifft die Karikatur eines Reisenden auf die Karikatur eines Gastgebers.

Massentourismus ernährt zwar eine Menge Leute und tut umgekehrt auch etwas für den sozialen Frieden in den Herkunftsstätten der Touristen, Massentourismus aber verhindert weder Kriege noch Bürgerkriege (Fanden nicht Massaker statt, ganz in der Nähe von unserem Lieblingscampingplatz in Jugoslawien? Teilen sich nicht Regionen in Asien und Lateinamerika in die Bürgerkriegszonen und die „sicheren“ Regionen des Tourismus?); Massentourismus macht aus unterentwickelten Ländern keine entwickelten Länder; Massentourismus verhindert keine Diktaturen und keine Terrorherrschaft (trägt aber durchaus zu deren Finanzierung bei), und schließlich: Massentourismus führt zu allem Möglichen, ganz gewiss aber nicht zu Verständnis und Kenntnis eines anderen Landes.

Wir dagegen, nicht wahr, wir Individualtouristen und Kleinentdecker. Wir beginnen sofort am Marktplatz, kaum hat man uns ein wenig Obst und Wein geschenkt, eine politische Grundsatzdiskussion. Wir reisen nicht ungern in Regionen, wo es ziemlichen abenteuerlich ist, mein lieber Schwan. Wir lassen keinen Müll zurück, sondern schließen Freundschaften und unterstützen soziale Projekte vor Ort. Wir tragen ein Anti-Berlusconi-T-Shirt in Apulien. Wir unterstützen keine Fast-Food-Ketten sondern den Wirt, der noch ganz nach den alten Rezepten der Region kocht. Und was immer uns begegnet: Neugier und Aufgeschlossenheit schaut uns aus allen Knopflöchern des Allwetter-Anoraks. Genau besehen also: wir sind genau so zum Kotzen wie die Massentouristen, und wenn wir richtig gut drauf sind, dann sind wir für Land und Leute noch um ein gutes unausstehlicher.

Dann aber, um das Maß der modernen Reise-Barbarei voll zu machen, gibt es noch allerlei Mischformen. Leute, die das Ghetto des Massentourismus schon mal verlassen, und sich etwas darauf einbilden, „nicht sofort als Touristen erkannt“ zu werden. Diese Ghetto-Verlasser und kontrollierten Individualtouristen unterscheiden sich militant von den reinen Ballermann-Massentouristen. Wo bei diesen pure Ignoranz vorherrscht (ein Riesen-Sangria-Eimer ist Lokalkolorit genug), da bei jenen das Wissen. Der Mitteltourist ist unfähig zum Nichtwissen. Er und sie wissen alles, in der Regel besser als die Einheimischen; man hat sich schließlich vorbereitet. Man will auch mal staunen, nicht wahr. Aber so wie sich der Massentourist auf das beschränkt, was im Reiseprospekt versprochen war (deren gewitzte Lektüre hat er sich gerade in einer Fernsehsendung erklären lassen, von wegen aufstrebend und lebhaft: Baustelle und Höllenlärm heißt das!), so beschränkt sich der Mitteltourist auf den Kanon des Wissens. Er ist gleichsam ein auf den Kopf gestellter Bildungsreisender; er will der chaotischen Welt einen Teil ihrer offensichtlich verlorenen Bildung zurückbringen. Überall schüttelt er den Kopf über Bausünden und Verschandelungen. Aber natürlich kennt er die sozialen Probleme des Landes. Er liebt es, Einheimischen ihr Land zu erklären. Auf Irritationen reagiert er feindselig. Wo der Massentourist etwas für sein Geld haben will, und wo der Individualtourist etwas für seinen weltoffenen Abenteuermut haben will, da will der Mitteltourist etwas für sein Wissen haben.

Vielleicht gibt es andere Formen des Reisens, kaum aber andere Formen des Tourismus. Sie mögen zwar national verschieden ausgeprägt sein (der französische Massentourist mag kulinarisch ein wenig anspruchsvoller sein, der japanische Mitteltourist mag tatsächlich ziemlich viel Fotos knipsen, der amerikanische Individualtourist hat gerne gewisse Schriftsteller bei sich und vielleicht selber einen creative writing-Kurs absolviert etc.), sie mögen gewissen Moden unterworfen sein (auch Preisentwicklungen und sogar Preiskämpfe sind hier zu nennen); blättert man die viel versprechenden Broschüren der Reiseveranstalter durch, erscheint es auffällig, dass Elemente des Mitteltourismus, ja sogar des Luxustourismus, sagen wir Flugreisen, Kreuzfahrten, Expeditionen zunehmend auch in den Diskurs des Massentourismus fallen. Nicht nur Reiseländer sondern auch Reiseformen werden auf diese Weise „abgewertet“, während sich umgekehrt allerorten ein einigermaßen snobistischer „Alternativtourismus“ herausbildet, für die ein wenig besser verdienenden Menschen mit ökologischem Gewissen und überhaupt, Erhaltung der Natur und Dinge.

Die Semiotik des Tourismus wird also zugleich einfacher und komplexer; die Klassen, Schichten, Kulturen und Generationen machen nicht mehr gemeinsam Urlaub, dafür bilden sich gewisse Urlaubsgemeinschaften und vor allem: neue Urlaubserzählungen. Die kleinen Unterschiede sind nun nicht mehr selbstverständlich (Fünf Weiber flachgelegt und jeden Abend besoffen; ein entzückendes kleines Gasthaus mit eigener Metzgerei; und auf dem Ökobauernhof durften die Kinder die Resi melken). Die Postkarte war der letzte touristische Entitätsnachweis. Mit ihrem Verschwinden fiktionalisiert und fragmentarisiert sich die Urlaubserzählung. Natürlich steht ihr ein enorm geschrumpfter Aufmerksamkeitswert gegenüber. Langweilen haben wir uns schon selber gekonnt. Und „mitbringen“ kann man auch kaum noch etwas, was es nicht auch im 1-Euro-Shop in der Fußgängerzone gibt. Ein Strandparadies unterscheidet sich von einem Südsee-Erlebnisbad mit Wellenmaschine vor allem durch seine Nachteile (manche Leute reden da so komisch, im Sand sind schwarze Brocken von der letzten Tankerkatastrophe, und nirgendwo ein gescheiter Parkplatz).

Vielleicht haben die öden Orte, das ganz und gar unspektakuläre, das Hässliche hier eine Chance. Am Interessantesten wäre es allemal. Wie wäre es mit: „Urlaub auf der Autobahnraststätte, Kreuzfahrt mit Sperrmülltransporter, Ihre Idylle im Industriegebiet Süd?“ Hier endlich wäre man angelangt, wo man mit allen Fern-, Pauschal-, Luxus- und Gruppenreisen ums Verrecken nicht mehr hinkommt: In der Fremde.

Autor: Georg Seeßlen