40 Jahre Moonwalk

Warum eigentlich ist der Mond so poetisch – oder so Poesie-erzeugend – während die Sonne, mehr oder weniger heiß, hauptsächlich erhaben und nützlich ist? Eine Reinhold-Messner-Antwort ist: Weil er da ist. Weil er eben nicht viel bewirkt (sieht man einmal ab von Meeresgezeiten, Menstruationsbeschwerden und Werwolf-Verwandlungen) und, nachgewiesener Maßen für kosmische Verhältnisse, nicht besonders groß ist. Der Mond ist einigermaßen unnütz, Mondbasis alpha hin oder her, es gibt dort nichts zu holen und verloren haben wir da auch nichts.

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Eigentlich widerspricht so ein unnützer runder Trabant, der sich des Nachts ein wenig Licht von der unverzichtbaren und gefährlichen Sonne borgt, sowohl der Logik der Schöpfungsgeschichte als auch der Schöpfungsgeschichte der Logik. Was haben sich die Götter eigentlich dabei gedacht, so einen runden Gesteinsbrocken um uns kreisen zu lassen? Entweder haben sie, wie es bei Handwerkern zuzugehen pflegt, auch einfach Abfall produziert (nur ist, wenn schon unser Mond nichts anderes als Schöpfungsabfall ist, nicht das ganze Universum in Gefahr zu vermüllen? Wer sollte, wenn es in der Schöpfung Abfall gibt, bestimmen, was richtig Geschöpftes und was dabei anfallender Überschuss, kosmischer Dreck ist?). Oder die Götter wollten nur spielen. Schufen da eine kleine Nichtigkeit als lyrischen McGuffin. Wie dem auch sei: Das Schöne am Mond ist jedenfalls seine Nutzlosigkeit.

Die erste Bedeutung des Mondes, – hat man einmal erkannt, dass dieses Ding am Himmel weder so etwas ist, wie eine kleinere, unstabilere Abart der lebensspendenden Sonne, noch aus grünem Käse besteht, – liegt darin, dass sich das Ding, weil es so wenig Nutzen hat, so perfekt zum Zeichen eignet und dabei sich als unbeirrbar erweist. Mit dem Mond fängt noch heute der eine oder andere Mensch seine semantische Karriere an. Es ist das Zeichen, mit dem man über Mama und Pippi, ja schon über Muhkuh und Fernsehen hinauskommt. Ohne Mond kein Begriff, keine Abstraktion, kein Strukturalismus! Dieses Wandelzeichen verknüpft das erstaunlich Einfache mit dem erstaunlich Komplizierten, und das erstaunlich Technische mit dem erstaunlich Magischen. Es hört einfach nicht auf, so stille zu gehen, in die guten, vor allem aber die bösen Träume zu scheinen und, immerhin, durch seine Phasenhaftigkeit im Abnehmen und Zunehmen ZEIT zu generieren. Relativieren wir also den Begriff der Nutzlosigkeit: Das ist unsere zweite Rhythmusmaschine. Ansonsten aber ist der Mond das perfekte Bild für: Leckt mich am Arsch!

Und grämt dich, Edler, noch ein Wort

Der kleinen Neidgesellen?

Der hohe Mond, er leuchtet dort,

Und lässt die Hunde bellen

Und schweigt und wandelt ruhig fort,

Was Nacht ist, aufzuhellen.(Johann Gottfried Herder)

Auf der anderen Seite aber ist der Mond eine Sache der anderen Seite. Der Mond mag etwas bescheinen, die Sonne aber bringt es an den Tag, auch wenn es da gar nicht hin gehört. Der Mond ist auf der Seite des Unterdrückten, des Verbotenen, des Vergessenen, des Geheimen, des Vermischten. Die Sonne ist Arbeit, der Mond ist Begehren. Die Sonne ist duale Ordnung, der Mond zyklischer Tanz, die Sonne ist, was sie ist, der Mond ist je nachdem.

Der Halbmond glänzet am Himmel,

und es ist neblicht und kalt.

Gegrüßet sei du, Halber, dort oben,

wie du, bin ich einer, der halb. (Franz Grillparzer)

Dem „Leckt mich am Arsch“-Zeichen steht schon immer das „Herzeleid“-Zeichen gegenüber, es haben die Taffen wie die Wehleidigen ihren Mond. Der Mond, der gerade noch, weil er so ganz außerhalb der Welt war, den Mut zur Dissidenz bekräftigte, wird in der Subjekt-Phantasie zum besten Spiegel. Er und ich (in den Sprachen nebenan ist es ohnehin eine „Sie“) haben ein Wissen, vielleicht ein Geheimnis miteinander. Den „Gedankenfreund“ nennt ihn Klopstock, was beides heißen mag, einen Freund der Gedanken (was immer man vom Mond sagen kann, und darunter ist wirklich viel Gemeines, – im Gegensatz zur Sonne scheint er den Menschen nicht dumm machen zu wollen), oder einen Freund in Gedanken. Der Mond ist der imaginery friend romantischer Versager.

Erst die Akzeptanz der Spaltung von Ich und Welt macht dann aus dem Mond, der das Unheimliche nur bescheinen konnte, eine heilende Kraft.

Süßer Mond, mit deinen Strahlen

Scheuchest du das nächt´ge Grauen;

Es zerrinnen meine Qualen,

Und die Augen übertauen. (Heinrich Heine)

Je mehr sie verboten ist, desto mehr muss sich die Aufklärung, was das christliche Abendland anbelangt, in das Zeichen des Mondes stellen. Ob der Mond aber, die Metapher, das reine Zeichen, von der Romantik in eine nächste Form der Aufklärung zu retten war? In solchen Fällen kommt es meistens zur Spaltung.

In der so genannten Trivialliteratur jedenfalls trafen sich die beiden Hauptlinien der Mond-Erzählungen, die Empfindungsgeschichte (mit dem Mond erzählen, was ich ohne ihn nicht erzählen kann) und die Mysterien-Geschichte (mit dem Mond erklären, was ich ohne ihn nicht erklären kann).

Wie geisterhaft das Mondlicht zittert

und mit den nächt’gen Schatten ringt

ein gold’nes Märchen, leichtbeschwingt

schlüpft’s durch die Zweige, zartgegittert.

Das ist von Eugenie Marlitt. Es ist zwar komisch, gibt aber die Richtung an: Ab jetzt gebiert, in den unteren Rängen der abendländischen Kultur, der Mond Ungeheuer, und nicht zu knapp. Genauer gesagt, es beginnt der anhaltende Konflikt des romantischen mit dem positivistischen Flügel des Bürgertums. Die einen wollen hinauf auf den Mond, die anderen in seinem Schein zurück, zu irgendwas. Die einen werden Astronauten mit Jules Verne, die anderen Werwölfe in der Schauerliteratur. (Die Postmoderne könnte man im übrigen beschreiben als einen Zustand, in dem man sich ohne weiteres vorstellen kann, angesichts des Vollmondes zugleich Astronaut und Werwolf zu werden.)

Die Idee einer „Erkundung“ des Mondes ist natürlich wesentlich älter als das positivistische Bürgertum des neunzehnten Jahrhunderts. Es begann damit, dass man ihn genauer betrachtete, durch das Teleskop, dass man ihn, seine Ausmaße, seine Bahnen, sein Licht berechnete. Dass das Ding nichts anderes als eine kugelförmige, mit Kratern und Klüften übersäte und vermutlich steinerne Gestalt war, diese Erkenntnis brachte Galileo nicht viele Freunde. Der Mond sollte doch der Widerschein der Mutter Gottes sein, das Mondlicht war das Marianische, das Matriarchale (und was davon geblieben ist, sind vielleicht die Meere auf dem Mond, lateinisch Maria).

Das Mond-Zeichen wurde unerträglich in seiner Spannung. Daher wurde die Eroberung des Mondes zum großen Projekt des stählernen Demokratie-Kapitalismus der Nachkriegszeit. Eine Mischung aus technischem Tatendrang, industriellen Verwertungsinteressen, militärischen Nebeneffekten und medialem Suspense trieb uns hinaus. Und die Mondfahrt fand in der Farbe Weiß statt, Reinheit, Vermählung, medizinischer Eingriff in die Schöpfung.

Und irgendwann stellte sich dann der Katholik John F. Kennedy hin und behauptete, „we choose to go to the moon“ (was heutigentags einer Teuer-Uhr als Werbung dient), und behauptete damit, dass es sich um einen freien Entschluss handelte, der schließlich dazu führte, dass Armstrong den berühmten kleinen Schritt machte, der ein so großer für die Menschheit sein sollte.

War er aber nicht. Die Eroberung des Mondes durch Wissenschaft, Technik und Kennedys „new frontier“-Parole erwies vor allem seine Nutzlosigkeit. Auf den Mond zu kommen war aufwändig, gefährlich, beschleunigte die Entwicklung der Tefflon-Pfanne und war vielleicht sowieso nur ein gewaltiger Medien-Hoax: Auf jeden Fall begann mit den Bilder der Mondlandung eben nicht das Raumfahrt-Zeitalter, sondern das Medienzeitalter. Mondfähren sind nur noch interessant, wenn sie zu explodieren drohen; „Huston, wir haben ein Problem“ löste sozusagen „Guter Mond, du gehst so stille“ als Universal-Metapher ab. Das Mond-Bild hat ausgediehnt, jetzt haben wir Fernsehen.

Eine Zeit zuvor sang Gus Backus

„Der Mann im Mond

der hat es schwer,

denn man verschont

ihn heut’ nicht mehr“.

Eine präzise Beschreibung der neuerlichen, vielleicht der vorletzten Entzauberung. Und selbst die Kunst gab den Kampf um den Mond auf, den noch die Symbolisten, die Impressionisten und die Surrealisten mit ihren jeweiligen Mitteln geführt hatten. Nach 1969 war der Mond Kinderkram, ein Witz: Die amerikanische Fotokünstlerin Sharon Harper nutzte die Mond-Fotos für eine Vervielfältigung: Ein ganzer Himmel voller Monde. Entwertung nennt man so etwas wohl. Heute wird allenfalls überlegt, ob der Mond touristisch verwertbar wäre. Sie können Parzellen auf dem Mond kaufen, gar nicht mal so teuer. Eine McDonald’s Station auf dem Trabanten ist schon in hunderten von Cartoons gezeigt worden.

Blieb die erdabgewandte Seite des Mondes. Vielleicht gibt es da noch ein Geheimnis? Jedenfalls ist sie die perfekte Metapher eines dysfunktionalen Gehirnteils. Pink Floyd gelang mit „Dark Side of the Moon“ bekanntlich das zweit-meistverkaufte Album der Popgeschichte (nach „Thriller“ des Moonwalkers Michael Jacksons). Es handelte von Syd Barretts psychischen Schwierigkeiten. Mochte man den Mond technisch, nun ja, „bezwingen“, im Pop sah man vor allem den „bad moon rising“.

Die beiden Mond-Phantasien, die weiße der Science Fiction und die schwarze des Horrors, sind nun getrennt ins „Wirkliche“ (und leider etwas Banale) und ins „Phantastische“ (aber leider vollständig beliebige). Jedoch beginnt ja alles schon damit, wie der Mond uns in die Kindheit scheint. Zum Beispiel kriegt ja jemand, der noch als Erwachsener mit einem „Peterchens Mondfahrt“-Trauma herumlaufen muss, so wenig das Bedrohliche des nächtlichen Glatzkopfs am Himmel aus dem Schädel, wie jemandem, der mit gewissen lyrischen Erzeugnissen gequält wurde, die bloße Erwähnung des Mondes in anderem als wissenschaftlichem Zusammenhang mega-peinlich erscheinen muss. Denn in Wahrheit stimmt nicht nur die reaktionäre Geschichte, dass der Mond (das reine Zeichen, also Zeichen der Reinheit) durch die Technik und wissenschaftliche Hybris entzaubert wurde, es stimmt mindestens genau so die umgekehrte Geschichte, dass er durch den emotionalideologischen Gebrauch so verhunzt wurde, dass nichts anderes übrig blieb, als selber hinzufliegen.

Bleibt natürlich: die Liebe. In Vollmondnächten gibt es nicht nur Lycanthropen, sondern die Liebe setzt sich gegen alle Widrigkeiten durch, wie in „Moonstruck“ Cher und Nicalos Cage im Zeichen eines hartnäckigen Liebesmondes zeigen, und natürlich singt auch dort Dean Martin „That’s Amore“: „When the Moon hits the Eye, like a big Pizza Pie“. „So sind die Tage und der Mond“ behauptet einer der Mondfilme der dritten Art (also jenseits von SF und Horror), und mit etwas neuerer Kamera-Technik kann man den Mond auch unabhängig vom Liebesschlager so Spielberg-groß am Himmel scheinen lassen wie man mag. Technisch entzaubert lebt der Mond kinematografisch weiter, eben als reines Zeichen (glücklicher Unvernunft).

Was aus dem Mond wird, wenn kapitale Interessen nach ihm greifen, hat James Bond in „Moonraker“ schon erfahren; schlimmer erging es einem Comic-Abbild seiner Widersacher, dem „Zyklotrop“ in „Spirou & Fantasio“. Er hatte sich den Mond als gigantische Werbefläche ausgedacht. Unglücklicherweise hatte er zugleich auch eine Rückwärts-Sprache erfunden, so dass „Coca Cola“ auf dem Mond jetzt nur rückwärts steht. Und rückwärts, so scheint es, gibt es auch nur noch Mond-Geschichten. Der Mond ist ein Zeichen einer Zeit, in der es noch Zukunft gab. Den Mond von jetzt haben wir in unseren Phantasien schon gesehen als gewaltigen Golfplatz, als Müllhalde, als Touristenzentrum für Erlebnisreisen besserverdienender Senioren, als Gefängnisinsel im All. Aber es ist alles nichts Bedeutendes, alles ist eine höchst bizarre Banalisierung. Und was das Schlimmste ist am Mond: Weiter kommt man von hierher auch nicht.

Wird der Mond demnächst der Forschung und der Energiegewinnung dienen, wird man dort die Experimente machen, die auf Erden verboten sind, bringt man hier die nächsten Massenvernichtungswaffen in Anschlag? Ach was soll es, auch für derlei Apokalypsen brauchen wir dieses reine Zeichen so wenig wie die kosmische Ausgabe einer Felseninsel. Der Mond ist höchstens bedeutend in einem neuen Gegenbild: als Halbmond im Zeichen der morgenländischen Welt. Kommt er (oder sie) wieder, wenn auch anders als gedacht, oder ist sie (oder er) endgültig verloren? L’une c’est les autres.

Autor: Georg Seeßlen

Text: veröffentlicht in jungle world, 16.07.09