School shootings und andere Amokläufe

Ich erinnere mich, es war zu Beginn der sechziger Jahre in einer rheinischen Kleinstadt, da hatte ich einen Schulfreund, der war begabt und phantasievoll, kam, wie man damals sagte, aus gutem Haus, hatte und machte keine Schwierigkeiten. Sein einziges Manko war vielleicht, dass er ein bisschen klein gewachsen war. Aber von uns in der Clique hänselte ihn niemand, und er verstand es ja ohnehin, mit anderen Sachen zu punkten. Eines Tages hörte er auf, freundlich mit uns zu reden, reagierte gereizt und wollte auch nicht sagen, was ihm über die Leber gelaufen war. Drei Tage später hat er seine Großmutter mit einem Brotmesser erstochen. Niemand von uns hat erfahren, warum. Die Zeitungen, die damals noch vergleichsweise zurückhaltend waren, sprachen nur von einer ungeklärten Tragödie. Dann ging das Leben weiter.

In hochkomplexen Gesellschaften tritt das Böse auch in einer seltsamen Gestalt auf, die weder zum Täter noch zum Opfer eine mehr als vage Beziehung hat. Täter, die als Subjekte nicht wirklich zu fassen sind, Opfer, die eine flüchtige, symbolische oder gar keine Beziehung zu ihnen haben. Dieses Böse ist nur noch Symptom und Metapher, hat aber keine Rolle, auch keine negative, in einer allgemeinen Vorstellung von Fortschritt und Geschichte. Dieses sehr zeitgemäße Böse hat keine zeitgemäße Erklärung. So wird uns das eigene Geschwätz darüber unheimlich. Aber könnten wir, wie damals, darüber schweigen?

Manchmal ist man es als Kritiker oder was auch immer einigermaßen leid, den sozialen Katastrophen und Menschen-Tragödien sowie ihren medialen Schatten hinterher zu schreiben, als letzter in einer Verwertungskette, an deren Anfang man heulen und an deren Ende man kotzen will. Aber es ist unser Job, auch noch der verkommensten Gesellschaft wenigstens Angebote zu machen, noch das unerklärlichste in einen Diskurs zu bringen. Auch die Aufklärer mussten schreiben, als das Erdbeben von Chile mit der göttlichen auch die vernünftige Ordnung der Welt zerstörte. Denn was nutzt es uns, die Trauer-Rituale der Trobriander zu verstehen, und unserem eigenen, medialen Trauer-Tanz mit fremder Empörungslust zu begegnen?

Dass den hilflosen Gesten der Trauer sofort ein medialer Overkill folgt, ist nicht nur der Geschäftemacherei und der sensationalistischen Korruption geschuldet. Das auch und sowieso. Aber wir müssen das verarbeiten, dummes Geschwätz ist da immer noch besser als Schweigen, falsche Erklärungen besser als gar keine, irgendwelche Dinge, die Schuld sein sollen, besser als die pure Fassungslosigkeit. Einerseits.
Andererseits hat die Verwertungskette der medialen Hysterie immer nur ein Ziel: dass nichts verstanden wird und alles bleibt wie es ist. Der Neoliberalismus, das gehört zu seinen Strategien, hat den Krieg zwischen den Geschlechtern und den Rassen und den Nationen abgeschwächt, um drei andere Kriege zu verschärfen, den Krieg zwischen den Regionen, den Krieg der Klassen und den Krieg zwischen den Generationen. (Der Neofaschismus verspricht, die Verhältnisse wieder umzudrehen. Auch da lügt er natürlich.) Während der Krieg zwischen den Klassen wenigstens als sich öffnende „Schere“ zwischen Armen und Reichen abgebildet wird, bleibt der Krieg zwischen den Generationen mysteriös, löst sich in episodischem Horror auf. Dieser neue Krieg zwischen den Generationen kostet auf beiden Seiten so viele Opfer, weil er nicht erklärt wird.

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Der furchtbarste Ausbruch dieses unerklärten Krieges ist das „School Shooting“ als Sonderfall des Amoklaufs. Das Irrationale und Groteske ist Wesen des Amoks. Auf der ersten Ebene könnte man sogar sagen, der Amokläufer ist ein Mensch, der sich selbst als Naturkatastrophe inszeniert, grotesk, irrational, unverständlich. Er „explodiert“ inmitten seiner eigenen Kultur, inmitten seines eigenen Alltags, und wie bei einer Naturkatastrophe gibt es immer Anzeichen dafür, dass man es hätte kommen sehen müssen. Und es kommt doch immer überraschend und macht alle fassungslos.

Für die „Rechten“ sind der laxe Umgang mit der Popkultur und der fehlende Halt in der Familie schuld, für die Linken Entfremdung und die soziale Kälte. Die einzige Antwort, die unsere pädagogische Unkultur auf das wachsende Unverständnis zwischen den Generationen hat, das ist, dass man die „Tyrannen“-Bücher einer reaktionären Pfeife zu Bestsellern macht. Die Erzeugung des Medienbildes ist schon im Augenblick der Katastrophe prekär. Sicher mutet es seinerseits wieder wie ein brav-kritischer Fernsehfilm an, wenn der Oberbürgermeister am Tatort einen besonders dreisten Fotografen anfährt: „Haben Sie denn überhaupt keine Moral“?, als er sich gierig an die erschütterten Gesichter heranmacht. Wir sind zweifellos auf der Seite des empörten Bürgermeisters und hassen mit ihm diesen unmoralischen Reporter. Aber am nächsten Morgen können und wollen wir nicht anders und kaufen die Zeitung, auf der das Bild, das er geschossen hat, am größten abgedruckt ist. Schon im Augenblick des Bildens ist unsere Moral gespalten: Wir wollen dieses Bild, und wir wollen den hassen, der es „geschossen“ hat. (Möglicherweise bekommt er ein paar Jahre später einen Fotografie-Kunstpreis dafür.)

Nicht viel anders verhält es sich mit allen Erklärungsversuchen. Es sind zudringliche Reflexe, immer dasselbe Geschreibsel, immer dieselben Versuche, dabei noch ein wenig Selbstdistanz und Verantwortungsgefühl zu zeigen. Dass die deutschen Fernsehsender wieder einmal versagt hätten, wie die Kritiker in der FAZ schrieben, die öffentlich-rechtlichen schlichte Ignoranz zeigten, die Reporterin von RTL in aufgeregter Kinderfunk-Sprache von einem „ Chaos vom Feinsten“ berichtete, mit den „superschnellen“ Helfern und „Wahnsinn, überall standen Rettungswagen rum“ – geschenkt. Nur dass es immer genau so ist, wie man befürchtet, ist schrecklich.

Merkwürdig ganz offensichtlich auch hier und dort das Verhalten der Lehrer und der Schulleitungen. Während man sonst, wie eine Schülerin treffend bemerkt, bei jedem Schmarrn gemeinsam betet oder schweigt, ignorierte man nun schon zehn Kilometer weiter geflissentlich auch am nächsten Tag. Hysterie und Ignoranz verbünden sich immer gegen die Trauer wie gegen den Diskurs. Aber wie man es macht – verdrängen oder hinausschreien – falsch ist es allemal. Indes: Wenn eine Medienlandschaft und eine pädagogische Institution genauso unfähig ist, den richtigen Ton zu treffen angesichts einer Tragödie dieses Ausmaßes, dann darf man getrost auch das als Symptom und als Teil des Problems ansehen.

Wie alle Naturkatastrophen, so ist auch der Amoklauf entweder als Metapher oder als Symptom zu lesen. Er ist die große Gleichgültigkeit Gottes oder der gesellschaftlichen Ordnung, an ihm versagen der Glaube wie die Aufklärung. In den Amokläufen kommt für einen Moment die ganze Verzweiflung des Menschen zu sich, der weder sich noch das System versteht, in dem er lebt.

Der Amokläufer im Allgemeinen und der Amoklauf des bewaffneten Schülers, das school shooting, im Besonderen sind mittlerweile zum festen Rollenrepertoire geworden. Was man als „Ursachen“  bei einem Mitverschulden erkannt hat, gehört eher zu den Vorbereitungen: Das Training der Einsamkeit, die aggressiven Medien, die Farbe schwarz, eine Ankündigung, der Kult der Waffe, die Unauffälligkeit. Der Amoklauf ist ein Jihad ohne Religion, ein Selbstmordattentat auf „seinesgleichen“. Aber auch die „richtigen“ Selbstmordattentäter scheinen es ja häufig weniger auf die Fremden als auf Leute abgesehen zu haben, die ihnen ähnlich sind und nur in wenigen, aber als entscheidend empfunden Dingen abweichen. Die Abweichung der anderen, in deren Mitte es zu explodieren gilt, besteht in ihrer Immanenz, sie sind das System, von dem man sich ausgestoßen fühlt.

Niemand kann eine solche Explosion dezidiert voraussagen. Die Amokläufer-Wissenschaft, die es ja tatsächlich gibt, steckt noch in teils sammelnden teils selbstreflexiven Startvorbereitungen. Sie weiß, um es genauer zu sagen, noch nicht einmal selber, ob sie absurd oder sinnvoll ist und verordnet sich daher Bescheidenheit. Wir wissen noch nicht einmal, was wir überhaupt wissen dürfen. Darum haben wir uns Vorsicht antrainiert.

Man weiß um einige Dispositionen: weißer Mittelstand, männlich, von schulischen und sozialen Anforderungen überfordert, unauffällig, isoliert. Man weiß um einige der Vorbereitungen: brutal-abstrakte Computer-Games, Waffenfetischismus, Internalisierung von Kränkung, eine besondere Identifikation im Internet (so herum und so herum: Viele Eigenschaften des school shooters sind, wie wir sehen, auch Projektionen und Fälschungen). Und man weiß um die Phänomenologie der Tat selber: Die Beschaffung der Waffe(n) – offensichtlich zu signifikant sind es die Waffen eines besonderen Vater-Typs, um das nur zu deuten als ein „Gelegenheit macht Diebe“: Die Achtlosigkeit und Provokation des waffenfetischistischen Vaters einerseits, die gezielte Verwendung dieser väterlichen Waffe (und nicht der auf dem Schulhof nicht weniger unschwer zu erwerbenden), das gibt möglicherweise eine ödipale oder post-ödipale Erzählung, die nun in der Tat mehr als unangenehm nicht nur für die Beteiligten würde.

Schließlich kennen wir den Tatort (aber seien wir gleich ehrlich genug: wir kennen ihn eben nicht): die Schule. Seit es sie gibt, war sie eine grausame Instanz, trotz zeitweiser Humanisierungsversuche. Grausam ist einerseits das System selbst, das blind Anforderungen stellt, grausam ist die Praxis der Anstalt, in der kaum mit Faszination, stattdessen hauptsächlich mit Disziplinierung, mit Angst und mit Drohung gearbeitet wird. Die Drohung freilich ist nun vor allem externalisiert. Die Schule von heute ist kein praktisches Instrument der Vernichtung sondern baut vielmehr einen Außendruck auf: Wenn du versagst, wirst du von uns nicht mehr geschlagen, nicht mehr eingesperrt, nicht mehr gedemütigt. Du wirst vielmehr in ein Leben entlassen, in dem du wegen deines Versagens bis ans Ende geschlagen, eingesperrt und gedemütigt wirst. Daher kann man nun die Schule nicht mehr, wie man es vielleicht früher getan hat, „überstehen“ auch wenn man sie hasst. Das Scheitern in der Schule, das im übrigen am allerdeutlichsten nicht durch die Bosheit sondern die Gleichgültigkeit der Lehrer ausgedrückt wird, ist dagegen nun das vorweggenommene Scheitern im Leben. Kein Wunder also, dass school shooters so oft aus diesem verfehlten Leben zurückkehren an den Ort ihrer Verdammung. Eine der fatalen Folgen davon ist, dass auch ein Aufbegehren nichts mehr nützt. Es findet ja weder einen Gegenstand (der Lehrer ist Teil des gleichen Systems der nun ja wiederum ödipalen Gleichgültigkeit wie der Schüler), noch ein Ziel. Die angemessene Geste gegenüber dieser gleichgültigen Instanz ist eine zur Schau gestellte Gleichgültigkeit. Die „Unauffälligkeit“, die sich dem unaufmerksamen Blick zeigen mag.

So wie man an der Institution Schule scheitert, scheitert man auch an den Mitschülern weniger in der Opposition als in der Gleichgültigkeit. Schülergeschichten – verbrämte oder offene Horrorgeschichte fast allesamt – gingen bis in die siebziger Jahre von einer erneut ödipalen Struktur aus. Es ist eine Kette der Demütigungen, die früher oder später aber durchlaufen ist, und man auf die eine oder andere Weise selber zu den Mächtigen gehört. Aber auch die Schulkultur ist vollkommen zerfallen; nicht nur haben die tribes untereinander wenig Berührung (außer gewalttätigen), sondern sie produzieren den anderen unter anderen und den Verlierer unter Verlierern. Die Subkulturen ähneln immer weniger Alternativen und immer häufiger einem System der Selbstähnlichkeit und adaptieren den Leistungsfetisch.

Man kann in dieser gleichgültigen Instanz, dieser Instanz zur Erzeugung von Gleichgültigkeit, keine Person werden. Der Angehörige des weißen Mittelstandes, der keine Ersatzwelt gefunden hat (den Sport, die Droge, die Musik), muss irgendwann erwachen und bemerken, dass er den Zeitpunkt, eine Person zu werden, verpasst hat. Er kann sich nun nicht einfach einer „Todessehnsucht“ hingeben und sich selbst töten, eine radikale Geste der Selbstauslöschung und Anklage, denn paradoxerweise wäre das nur wiederum als Person möglich. Der klassische Selbstmörder ist als Person an den Verhältnissen, etwa in Form anderer Personen, gescheitert. Der Amokläufer aber ist schon daran gescheitert eine Person zu werden. Wo das Es war und das Über-Ich Terror ausübte, da konnte das Ich nicht werden, weil das eine unförmig wucherte – in den Netzen, den Spielen, den Moden, den Jargons, den Drogen, am allermeisten aber in einem ewigen Alltag des Nichts, – und das andere nur eine allzu triviale Gestalt hatte: Erwachsene, zum Beispiel, die es sich nicht einmal mehr zu hassen lohnt.

Der Kapitalismus in seiner jetzigen Phase bietet einem Jugendlichen in Suburbia nicht ernsthaft die Möglichkeit, ein „anständiger Bürger“ zu werden. Entweder er ist anständig, dann schafft er es nicht mehr ins Bürgertum. Oder er ist Bürger, dann muss er sich vom Anstand und anderen Werten befreien. (Wer es nicht glaubt, muss nur fernsehen.) Am väterlichen Unternehmen scheitert man entweder schon in der Schule, oder man wird es verlieren. Diese Struktur des moralischen Verlustes ist einerseits eine durchaus reale Erfahrung, aber weil sie dort chaotisch und individuell durchaus variiert, versorgen uns die Medien mit einem endlosen Fluss von Krimis, Soap Operas und Comedy Shows, die von nichts anderem erzählen als vom gleichzeitigen Zusammenbruch und der „Alternativlosigkeit“ der ödipalen Struktur der ökonomischen und nebenbei sexuellen Ordnung. In diesen Vaterspielen (wie, nebenan, auch nicht un-manisch, den Tochterspielen) ist vorgeformt, dass es nicht nur keinen Weg zum „anständigen Bürger“, sondern auch keinen zum Subjekt, zur Person geben wird. Hämisch, so scheint es, haben sich Es und Über-Ich verbunden, damit Ich nicht werde. Daher ist es, Geschwätz und Praxis zum Trotz, nicht die Lust, sondern der Todestrieb, der sich durchsetzt. Die einzige Art zu werden, ist, so oder so zu sterben.

Ödipal ist die Struktur der Todeszirkel im übrigen auch insofern, als mehr oder weniger alle an Fetisch-Angebote aus der Erwachsenen-Welt andocken können und sich ihre virtuellen „Väter“ wählen (oder ihre „Godfather“). Das entleerte Subjekt bringt auch einen Bruch in der ödipalen Kette nicht zustande, wie auch? An seine Stelle aber setzt er seine mediale Spur. Ganz egal ob es sich um Amokläufer, Totschläger, Komasäufer, Neonazis oder andere Todeskulturen handelt, stets geht es am Ende darum, das eigene Bild in die Netze zu bringen. Denn genau das ist der „Sinn“ des Todestriebs, keineswegs ein Verlöschen und Verschwinden, sondern die Verwandlung in einen Untoten, in ein unsterbliches Bild. Die Videos der Todesboten bleiben im Netz, allen mehr oder weniger ernstgemeinten Versuchen des Löschens zum Trotz.

So ist es von Bedeutung, welchen Wert das Umfeld der Institution beimisst, an der man nun in dreifacher Hinsicht scheitern kann. Offensichtlich ist für das Phänomen des school shooting weder die Schule noch die Familie ausschlaggebend, sondern eine bestimmte Beziehung von beidem. Eine Wechselwirkung, die unter anderem das Scheitern radikalisiert. Der Amokläufer empfindet sich als Außenseiter unter Außenseitern. Er steht den anderen nicht wie der Dissident dem Mainstream gegenüber, nicht wie ein verfolgter Einzelner einer engstirnigen Mehrheit. Die anderen haben nicht, was er gern hätte, weder im materiellen noch im ideellen Sinn. Sie könnten ihm auch nicht helfen, selbst wenn sie es wollten. Sie haben ihm nichts getan, und das ist Teil ihres Vergehens, sie werfen sein Bild nicht zurück.

Der Amoklauf beinhaltet drei Vorgänge in einem: eine Tat, in der der Amokläufer mit einem Schlag zur Person werden will, eine blutig nachgeholte Initiation – ein Ich, das sich durch ein Niedermähen, ein Entleiben und Entpersonalisieren der anderen bildet. Zum Zweiten: ein Ende des eigenen unmöglichen Lebens. Und zum Dritten die gewaltsame Aufforderung an eine andere, womöglich ihrerseits reichlich „ödipale“ Institution, das Opfer zu vollziehen. In der Amok-Forschung, die von einem erweiterten Selbstmord ausgeht, müsste man vielleicht auch einmal über die ikonographische und mythische Verwandtschaft zwischen dem schwarz gekleideten school shooter und den Sondereinsatzkommando-Polizisten nachdenken, die diesen am Ende jagen oder erschießen sollen (wenn er es nicht selber tut, aber da sind die Grenzen offensichtlich unscharf). Dieser Polizist ähnelt ja noch mehr einer Videospiel-Figur als der Amokläufer selbst.

Der Amoklauf also beinhaltet und verbindet die drei Katastrophen der Biographie: Mord, Selbstmord und Opfer („ermordet werden“). Daher ist sowohl die soziale als auch die lebensgeschichtliche Verortung des Amoklaufes ziemlich verständlich: Es ist die Zeit nach der Pubertät, der Amokläufer hat versagt, eine Person im Blick des Vaters zu werden, oder die Zeit gegen Ende des Berufs-und Karrierelebens, vor dem Erreichen der ödipalen Ziellinie sozusagen: Man hat versagt, der Vater im Blick der Söhne zu werden und zu bleiben. So wie der junge Schüler seine Mitschüler und seine Lehrer als Opfer wählt um als Person zu sterben (der es weniger ihnen als IHM gezeigt hat), so wählt auch der „alte“ Amokläufer seinesgleichen, Leute, die genau wie er im Rattenlauf ums tägliche Brot und ein bisschen mehr drauf und dran sind, die Richtung zu verlieren. Die unheiligen Jihadisten des untergehenden Bürgertums können weder weitermachen noch einfach verschwinden. Und möglicherweise entspringen die amoklaufenden Söhne den schweren Träumen der Väter, wie es die amoklaufenden Väter den schweren Träumen ihrer Söhne tun.

Amokläufer scheinen ausschließlich in einer gesellschaftlichen Krisensituation erzeugt zu werden, in denen am ödipalen Familien- und Ordnungsmodell festgehalten wird, während es zugleich weder ökonomisch noch psychologisch trägt. Menschen aus anderen Kulturen, Schichten oder Modellen, die äußerlich betrachtet möglicherweise viel mehr Scheitern, viel mehr Demütigung, viel mehr Hoffnungslosigkeit erfahren, Menschen, die möglicherweise noch viel leichteren Zugang zu Waffen, viel ausgeprägteren Umgang mit echter, gespielter und ritualisierter Gewalt haben, Menschen, die sich womöglich Gewalthemmungen noch viel weniger leisten, sind für diese Rolle ungeeignet.

Auch ist ein weiterer signifkanter gemeinsamer Zug all der spektakulären Taten zu erkennen. Gefährdet sind offenbar weniger die Zentren, auch, was dies anbelangt, nicht die Schulen an „sozialen Brennpunkten“, sondern gerade Kleinstadt- und Provinzidyllen, „Speckgürtel“ der Städte (wie um Stuttgart). Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, dies hänge damit zusammen, dass hier familiärer und nachbarschaftlicher Druck am größten, Fluchtmöglichkeiten am wenigsten angeboten sind, dass es hier etwas zu verlieren gibt. Es ist allerdings auch der Ort, an dem sich eine bestimme Fraktion der Mittelschicht in der letzten Generation ein Refugium zu errichten glaubte. Eben der Ort, der der Elterngeneration zur Erfüllung aller Träume (und damit, natürlich, auch zu einem Endpunkt) wurde, wurde den Kindern zum Alptraum. So wird der Junge zum Amokläufer, der hier nicht hineinwachsen und es nicht verlassen kann, oder es wird der Vater zum Amokläufer, der es nicht zurücklassen und nicht erhalten kann, sei es weil seine Lebensinstitutionen, die Bank und der Arbeitgeber, ihn verstoßen (eine späte tragische Wiederholung der ödipalen Situation), sei es, weil die Familie zerbricht und den Sinn aus seiner Lebenskonstruktion entfernt, insbesondere dann, wenn es „einen anderen“ gibt, einen Schuldigen.

Die Schule ist die direkte Abbildung der Falle, wie das System von Haus und Job. Daher ist die Alternative kein Erproben anderer Zeichen und Gesten, sondern ein fundamentales Weg-Sein. Neben einen solchen „erweiterten“ Selbstmord (von den normalen Selbstmorden unter deutschen Schülern zu schweigen) – ein Euphemismus, denn nicht der Selbstmord ist der Kern der Tat, sondern der Mord – ist das Koma-Saufen (Amok/Koma) eine Form des kollektiven verzögerten Selbstmordes. Es hat offensichtlich weder etwas mit Lust, mit Rausch oder mit Geselligkeit zu tun, sondern es zielt eindeutig auf das Weg-Sein. Das Nicht-Leben.

Wenn wir also den Amoklauf im einzelnen zwar als irrationales und unvorhersehbares Ereignis verstehen müssen, die Amokläufe als Metaphern dagegen strukturierte Ex- und Implosionen an bestimmten sozialen und biographischen Orten, dann kann man wohl generell von einem Kult des Todestriebs in den Teilen der Jugend sprechen, die keine eigene Kultur mehr ausbilden und nicht einmal eigene Drogen und Dresscodes haben. Auch die Komasäufer sind Jihadisten ohne Glauben. „Kampftrinken“ und „Komasaufen“ sind Ausdrücke, die auf einen solchen Zustand hinwollen, nur ist der Kampfplatz der eigene Körper. Man will nicht nur „weg-sein“, sondern genau das zerstören, was einem scheinbar die Gesellschaft nur geliehen hat, damit man arbeite, konsumiere, abbilde. Der eigene Körper, der einem fremd ist. In der Ausnüchterungszelle oder in der Intensivstation des Krankenhauses aufzuwachen (wiederum: auf eine extrem isolierte Weise) ist das eigentliche Ziel des Komasaufens, also eine ganz ähnliche Dreiheit: Die erzwungene Zuwendung, die erzwungene „Strafe“ und die erzwungene Distanzierung. Der Komasäufer nimmt anders als der Amokläufer seinen Abstieg in Kauf; auch er oder sie kann oder will keine bürgerliche Person werden, der Weg zum Subjekt ist aus verschiedenen Gründen verbaut. Er macht sich nicht nur zum „hilflosen Wrack“ sondern auch zum Subproletarier, er will nichts mehr zu verlieren haben.

Der junge Neonazi und Skinhead scheint bei alledem insofern fein heraus, als er seinem Kult des Todestriebs einen politischen „Sinn“ unterstellt, er möchte ein richtiger Jihadist werden. Daher lässt er sich in gewisser Weise disziplinieren: Eine Explosion wird ihm für später versprochen, anders als der Amokläufer darf der Neonazi aber seine Gefährlichkeit schon lange vorher in der Öffentlichkeit zeigen. Die Gemeinschaft bleibt ihm indes so trügerisch wie dem kollektiven Komasäufer. Wer glaubt, in einer Neonazi-Gruppe würde so etwas wie „Geborgenheit“ oder „Solidarität“ geboten (und Naziskins seien dementsprechend „verführte“ Jugendliche), fällt nur auf eine Rhetorik herein, an die die Mitglieder selber am wenigsten glauben.

Daneben gibt es die Prügler und Totschläger ohne Grund, die Rentner in der U-Bahn halb tot treten, weil die keinen „Respekt“ zeigen. Das leere Subjekt verlangt nach Bestätigung von außen, was es nicht durch den Anderen bekommt, bekommt es am Anderen: die reale oder imaginäre Kamera „macht“ ihn. In dem Film „Sieben Tage Sonntag“ ermorden zwei arbeitslose Jugendliche, nachdem ein anderer ihnen entkommen ist, wahllos und aus Neugierde. Langeweile und das ist nichts anderes als ein Wort für Leere, ist es, die sie treibt, eine Leere, die Gus van Sant in seiner filmischen Columbine-Paraphrase „Elephant“ subtiler in endlosen Bewegungen durch die Gänge und über die Rasen der Schule zeigt. Aber ansonsten verweigert dieser Film am radikalsten eine Erklärung. Ganz im Gegensatz zu dem deutschen Fernsehfilm „Der Amokläufer – aus Spiel wird Ernst“, der schon im Titel eine Theorie verrät, die er konsequent durchzieht: Die Perfidie des Unternehmens wird da deutlich, wo der jugendliche Amokläufer letztlich nur dazu dient, eine Liebes- und Familiengeschichte unter den Erwachsenen zu produzieren.

Dem allen gegenüber stehen die Kids, die sich anpassen, die die Lektion dieser Schule lernen, die an eine Karriere und an einen sozialen Ort, an die Zukunft und an Heimat glauben. Das werden einerseits immer weniger, und andererseits wird der Preis dafür immer größer. Schon in der Schule lernt man, und in unserer Schule ganz besonders, dass man es mit Fleiß und Wohlverhalten allein nicht weit bringt. Nur die Bereitschaft zur Korruption befreit vom Sog der sozialen und biographischen Todeszirkel. Aber beim Auftauchen der Todesboten in der Jugendkultur verwandeln die sich mit einem Schlag in Opfer.

Mag dieses Modell des Amoklaufes nun treffen oder nicht, in jedem Fall sollte es genügen, ein Großteil der gesellschaftlichen Reaktionen als pure Heuchelei erkennen zu lassen. Es befähigt uns indes nicht, Amokläufe vorauszusehen oder gar zu verhindern. Denn durchaus denkbar ist, dass zu allen diesen Krankheitssymptomen als letzter Auslöser noch etwas kommt, was sich jenseits der soziologischen und psychologischen Modelle vollzieht.

Die Fiktionalisierung ist zugleich Bearbeitung, also irgend etwas zwischen notwendiger kollektiver Trauerarbeit, schweinischem Sensationalismus, Erklärungswut und Hysterie, und Teil des Phänomens selber. Offensichtlich können wir beobachten, wie sich zwischen Medien, Tat und Bild eine Verdichtung vollzieht. Die Muster werden einander immer ähnlicher.

Die bislang so exklusiv männliche Besetzung der Rolle des Amokläufers legt einerseits einen sexuellen, oder auch anti-sexuellen Impuls nahe. Der „Todesorgasmus“ ist ja eine geläufige Vorstellung. Nehmen wir für den Augenblick an, er vollzieht sich in einer ödipalen Struktur ohne Mythos. Die dem Vater entwendete Waffe wird zur Leerung des (Nicht-) Lebensraumes benutzt: „Seid Ihr immer noch nicht alle tot?“ schreit Tim K. und beschreibt damit zugleich die Absicht und die Mühsal seiner Tat. Wenn ein Amoklauf ein „erweiterter Selbstmord“ ist, dann betrifft die Erweiterung drei Sphären, nämlich einerseits die „Schuldigen“, die gezielt getötet werden. Für den älteren Amokläufer ist es der Sachbearbeiter, der seinen Antrag abschlägig beschieden hat, der Kollege, der seinen Job bekam, die Frau und die Kinder, die nicht mehr seine Familie sein wollten. Für den Jüngeren ist es der Lehrer, der ihn schlecht behandelte, das Mädchen, das ihn zurückwies, oder sind es die Mitschüler, die auf ihn herabsahen. Dann die unschuldigen, zufälligen Opfer und schließlich die Verfolger. Fast augenblicklich also wird dieses Szenario der gezielten Strafe ausgeweitet. Es sollen wirklich alle tot sein, oder doch so viele wie möglich. Der jeweils nächste Tote ist immer wieder eine Überdeckung des eigentlichen Ziels. Je mehr Tote der Amokläufer produziert, desto mehr ist verborgen, worum es eigentlich ging; die Anzahl der Opfer soll nicht nur das Ausmaß des Scheiterns aufwiegen, sondern es soll auch ein für allemal eine Spur verwischt werden. Den erweiterten Vatermord.

Es handelt sich also nur auf der ersten Ebene um einen erweiterten Selbstmord. (Da ich nicht leben kann, sollen so viele andere Menschen wie möglich auch kein Leben mehr haben.) Auf der zweiten Ebene handelt es sich wohl um einen erweiterten, vielleicht sogar um einen Stellvertreter-Mord. Auf einer dritten Ebene schließlich handelt es sich dagegen um eine Erweiterung des klassisch-freudianischen Todestriebs. Was aber kann das bedeuten: Ödipale Struktur ohne Mythos? So wie wir auf der einen Seite das leere Subjekt haben, der Mensch in der bürgerlichen Familie und neoliberalen Karrierestruktur, der nicht mehr Person werden kann, ein Subjekt ohne Innenwahrnehmung, haben wir auf der anderen Seite die leere Struktur, Abhängigkeit ohne Inhalt: die Familie als ein Theaterstück, in dem niemand mehr seinen Text kennt, das Publikum aber gebannt zu warten scheint. Egal wie krank die Biographie und womöglich sogar der klinische Befund im einzelnen Fall ausfällt, alle Todestrieb-Taten haben als Zentrum die Vorstellung, dass ein Leben in dieser Gesellschaft nicht möglich und nichts wert ist. Wer dem Todestrieb anheim fällt, hat keinen Platz in der Welt gefunden. Einen Platz in der Welt kann man zugewiesen bekommen, man kann ihn sich erobern, oder man kann ihn geschenkt bekommen. Geschenkt wird nichts mehr.

Er ist der substanzlose Mensch, der seine Leere nur in dieser Tat füllt. Die Explosion ist zugleich Implosion: das leere Subjekt saugt im Tod die Menschen und die Welt in sich ein. Es ist ja ein weit verbreiteter Irrtum, den Jihadisten und den Selbstmordattentäter, der ja nun ein weibliches Pendant gefunden hat – und es steht zu vermuten, dass wir über kurz oder lang auch die erste weibliche Variante des Amoklaufes erleben werden – als besonders fanatischen oder fanatisierten Menschen zu begreifen, ein Opfer der Ideologie oder der Religion. Aber in aller Regel verhält es sich wohl gerade umgekehrt, dass nämlich auch hier ein kulturell und ödipal entleertes Subjekt seinen Anlass zum Explodieren sucht. Die signifikante Erscheinung von mittelständischen, ausgebildeten und Nicht-Armen unter den Attentätern spricht überdies dafür, dass es keineswegs der materielle Leidensdruck ist, der Terroristen erzeugt, sondern eine Kulturkatastrophe im Kleinbürgertum, die sich in bestimmten Modernisierungs- und Entmodernisierungsphasen ereignet, und einigermaßen unterschiedliche Ausprägungen hat.

Wann wird die Todestrieb-Inszenierung eine „normale“ Katastrophe? Sowohl bei den Neonazis, bei den Komasäufern und bei den Totschlägern sind längst weibliche Besetzungen vorhanden, manchmal sogar durchaus dominant. In Erfurt haben vor kurzem zwei junge Frauen, 19 und 20 Jahre alt – also nicht mehr das, was man pubertierende Mädchen nennen könnte – mit Droh-Mails an einer Schule auf sich aufmerksam gemacht: „Jetzt ist es so weit. Nun werdet ihr alle sterben“.

Die Amokläufe sind Teil des öffentlichen Lebens geworden. Alle Polizisten sind zu einem regelmäßigen Training für „Amoklagen“ verpflichtet. Manchmal, wie im Münster des Jahres 2006, kann das Allerschlimmste verhindert werden, dennoch ist schwer zu sagen, wie sehr die Polizei ihrerseits eine wichtige Rolle im Drama hat. Schauen wir uns dazu nur die entsprechenden Fiktionalisierungen an.

Man schätzt in den großen Bundesländern pro Jahr 60 bis 80 „ernst zu nehmende“ Amokankündigungen. Allein in Münster waren es im Jahr 2008 neun. Alle Präventionspläne sind in den letzten Jahren aus Geldmangel oder wegen Zuständigkeitsquerelen wieder verworfen worden. Man könnte wohl sagen, seit dem ersten großen Drama 2002 in Erfurt ist, außer dem Einsatztraining der Polizei, nichts besser geworden. Im Gegenteil. Und auch diese Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber dem Problem fließt wieder in den Kreislauf  der school shooting-Implosionen zurück. Dass sich einen Tag nach Winnenden allein in Baden-Württemberg ein halbes Dutzend „Trittbrettfahrer“ mit Drohbriefen und -inszenierungen meldeten, zeigt auch, wie virulent unter den Schülern auf der anderen Seite der Betroffenheitslinie die Identifikation ist. Es gibt Bereiche in unserer Kultur, in denen der „unverständliche“ Amoklauf nur allzu gut verstanden wird.

Die Wissenschaftler sind sich einig, dass in der nächsten Zeit mit einer weiteren Zunahme der „school shootings“ zu rechnen sei. Bei alledem ist nur eines sicher: Niemand wird etwas lernen. Nichts wird sich ändern.

Text: Georg Seeßlen

Text geschrieben März 2009